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NEUZEIT/225: Aus dem Nichts in die Regierung (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 2 - 2013

Aus dem Nichts in die Regierung

Von Tobias Hirschmüller und Karsten Ruppert



Ein fundierter Einblick in die Arbeit der ersten parlamentarischen Regierung Deutschlands - der so genannten Provisorischen Zentralgewalt der deutschen Nationalversammlung in der Revolution von 1848/49 - ist das Ziel eines Projektes, welches die DFG fördert.


Revolutionen bleiben dort am stärksten in Erinnerung, wo sie am sichtbarsten ausgetragen werden: in den Kämpfen auf den Straßen. So verhält es sich auch mit den Revolutionen von 1848/49 im kollektiven Gedächtnis der deutschen Öffentlichkeit. Dass die Revolution zur Wahl einer Nationalversammlung führte, die eine Verfassung für ein Deutsches Reich schaffen wollte, blieb auch noch im Bewusstsein. Anders verhält es sich hingegen mit jenem Schritt, der nach dem Zusammentritt der Abgeordneten in der Paulskirche folgte. Schon bald nach Beginn der Verfassungsberatungen in Frankfurt wurde von der Nationalversammlung eine vorläufige Regierung für das zu gründende Reich eingesetzt: die Provisorische Zentralgewalt. Eine kollektive Erinnerung an diese erste parlamentarische, wenn auch provisorische Regierung für ganz Deutschland ist kaum vorhanden. Wem ist heute noch bewusst, dass ein österreichischer Erzherzog für rund eineinhalb Jahre als so genannter "Reichsverweser" der deutschen Zentralgewalt vorstand und somit als erstes von einem Parlament gewähltes Regierungsoberhaupt über Deutschland fungierte?

Die Provisorische Zentralgewalt war die Exekutive der deutschen verfassungsgebenden Nationalversammlung in der Revolution. Mit ihrer Gründung im Juni 1848 hat die im Frankfurter Parlament bereits institutionalisierte Revolutionsbewegung besonders gegenüber den staatlichen Gewalten in den Bundesstaaten ihren politischen Führungsanspruch mit Berufung auf die Volkssouveränität untermauert. Diese erste parlamentarische Regierung Deutschlands stieß allerdings wegen ihrer erst im Aufbau befindlichen Verwaltung, ihrer begrenzten realpolitischen Möglichkeiten sowie der fehlenden diplomatischen Anerkennung bald an ihre Grenzen. Um ihre Rolle als Bindeglied zwischen den revolutionären Einrichtungen in Frankfurt und den fürstlichen Regierungen der Bundesstaaten erfüllen zu können, war sie auf die Unterstützung der Letzteren angewiesen. Gerade die einzelstaatlichen Regierungen wurden freilich im Verlauf der Monate zum Ausgangspunkt gegenrevolutionärer Bewegungen.

Nach der sukzessiven Auflösung der Frankfurter Nationalversammlung im Frühjahr 1849 griff die Zentralgewalt noch mitentscheidend in den Machtkampf zwischen Preußen, Österreich und den deutschen Mittelstaaten um die künftige Ausgestaltung des deutschen Nationalstaats ein.

Die Edition der Akten der Provisorischen Zentralgewalt wird nicht nur den Anteil dieser bisher unterschätzten Kraft am Revolutionsgeschehen erhellen, sondern auch unter politikwissenschaftlicher Fragestellung Aufschluss über das Funktionieren der ersten parlamentarischen Regierung in Deutschland geben. Von besonderem verfassungs- und verwaltungsgeschichtlichem Reiz ist zudem der bisher kaum beachtete Umstand, dass die Zentralgewalt aus dem Nichts heraus die Infrastruktur für ihre Regierungstätigkeit schaffen musste durch die Errichtung von Behörden, Rekrutierung von Personal und Sicherstellung der Finanzen.

Der Zweck des Unternehmens, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG gefördert wird, ist es, der Geschichtswissenschaft die in verschiedenen Archiven ausgewählten Quellen zur Tätigkeit der Provisorischen Zentralgewalt transkribiert, kommentiert und durch detaillierte Register erschlossen zur Verfügung zu stellen. Damit werden hauptsächlich vier Ziele angestrebt:

1. Aufarbeitung von Einfluss und machtpolitischen Möglichkeiten der Provisorischen Zentralgewalt gegenüber der Nationalversammlung und den Regierungen der Bundesstaaten.
2. Erschließung der verfassungsgeschichtlichen Funktion und Praxis des im Juni 1848 errichteten Systems als Versuch einer Symbiose des parlamentarischen Regierens mit dem traditionellen Konstitutionalismus.
3. Eine institutions- wie verwaltungsgeschichtliche Erforschung der politischen Probleme wie praktischen Herausforderungen des Aufbaus einer Regierung aus dem Nichts.
4. Ein mentalitäts- wie kulturgeschichtlicher Ansatz, um das Selbstverständnis der Mitglieder der ersten parlamentarischen Regierung in Deutschland, deren Motive, Formen der Entscheidungsfindung, Perzeption der Handlungsmöglichkeiten sowie Außendarstellung offenzulegen.

Herangezogen werden zunächst die Protokolle der 185 Sitzungen des deutschen Gesamtministeriums. Sie bilden das Kernstück der Edition. Darüber hinaus soll diese mit zusätzlichen, erläuternden Sachakten der Ministerien und Nachlässen der Regierungsmitglieder angereichert werden. Die Registraturen des Gesamtreichsministeriums wie der einzelnen Ministerien wurden Ende 1849 durch die von Preußen und Österreich als Nachfolgerin der Zentralgewalt gebildete Bundes zentralkommission übernommen. Nach der Auflösung des Deutschen Bundes 1866 wurden sie lange von der Stadtbibliothek Frankfurt verwahrt, bis sie 1925 ins damalige Reichsarchiv gelangten. Heute befinden sie sich im Bundesarchiv Berlin, wo auch eine Sammlung von Abschriften aus Nachlässen mehrerer Regierungsmitglieder sowie des Reichsverwesers verwahrt wird.

Neben dem Projektleiter Prof. Karsten Ruppert arbeiten drei wissenschaftliche Mitarbeiter an dem Projekt. Dr. Thomas Stokkinger stammt aus Österreich, hat in Wien Geschichte und Politik studiert und über die Wahlen in der Revolution von 1848 promoviert. Bevor er nach Eichstätt kam, hat er an einem Projekt zu frühneuzeitlicher Gelehrtenkorrespondenz im Umfeld des Klosters Melk mitgewirkt. Seine Aufgabe bestand in den ersten Monaten in der Transkription der Sitzungsprotokolle. Derzeit beschäftigt er sich mit deren Kommentierung für die Edition wie der Aufarbeitung von Nachlässen der Mitglieder der Zentralgewalt.
Tobias Hirschmüller absolvierte zunächst ein Studium der Sozialen Arbeit und dann ein Magisterstudium in Geschichte und Politik an der KU. Seine Magisterarbeit trug den Titel "Bedeutung und Funktion von Friedrich dem Großen und Otto von Bismarck in der Nationalsozialistischen Geschichtspolitik im Vergleich". Im Rahmen des DFG-Projektes war zunächst eine seiner zentralen Aufgaben die Recherche der Nachlässe. In seinem Beitrag zum Projekt beschäftigt er sich mit "Erzherzog Johann als Reichsverweser der provisorischen Zentralgewalt von 1848/1849".
Sabine Thielitz hat in Eichstätt Deutsch, Geschichte und Sozialkunde für das Gymnasiallehramt studiert und im Winter 2011/12 das 1. Staatsexamen abgelegt. In ihrer Zulassungsarbeit setzte sie sich mit der Außenpolitik des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck gegenüber Großbritannien zwischen der Reichsgründung und dem Berliner Kongress auseinander. Seit Mai 2012 ist sie im Rahmen des DFG-Projektes tätig. Sie beschäftigt sich derzeit am Beispiel Bayerns mit der Politik der mittelstaatlichen Regierungen gegenüber der Provisorischen Zentralgewalt.

Weitere Unterstützung erhält das Projekt durch die wissenschaftliche Hilfskraft Stefanie Bucher und die studentische Hilfskraft Katharina Blazejewski, die beide in Eichstätt Lehramt studieren.

In der zweiten Projekthälfte sollen bis Ende 2014 sowohl die Edition als auch die beiden Dissertationen abgeschlossen werden. Auch die Öffentlichkeitswirksamkeit des Unternehmens soll ausgebaut werden. Nachdem bereits im Juni 2013 zwei Vorträge in Speyer und Rastatt gehalten wurden, sollen weitere ähnliche Aktivitäten in Angriff genommen werden. Informieren kann man sich über das Projekt auch fortlaufend auf dessen Blog

http://achtundvierzig.hypotheses.org


Prof. Dr. Karsten Ruppert war an der KU seit 1995 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte und ist seit 2012 im Ruhestand.

Tobias Hirschmüller ist Mitarbeiter des hier vorgestellten DFG-Projektes.

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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 2/2013, Seite 30-31
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität, Prof. Dr. Richard Schenk
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU, 85071 Eichstätt
Telefon: 08421 / 93-1594 oder -1248, Fax: 08421 / 93-2594
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Internet: www.ku.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2013