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NEUZEIT/235: MI5 - Regnum defendere (Thomas Parschik)


Regnum defendere

von Thomas Parschik, 24. Juli 2017


Zu Beginn des 20. Jh. entfachte die britische Presse eine Hysterie vor deutschen Spionen. Zu diesem Zeitpunkt betrieb Großbritannien nur sporadisch Spionage. Eine leistungsfähige Spionageorganisation existierte nicht. Der von Rudyard Kipling in seinem Roman "Kim" geschilderte professionelle Geheimdienst, der alles sieht, was im Britischen Empire vor sich geht, war Fiktion. Im Oktober 1909 wurde auf Weisung des Kriegsministeriums und der Admiralität ein Secret Service Bureau gegründet. Die einzigen Mitarbeiter der Fregattenkapitän Mansfield Cumming und der Hauptmann Vernon Kell. Bald kam es zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen beiden, die durch Aufgabenteilung beigelegt wurden. Kell wurde Direktor des Inlandspionagedienstes MI5, Cummings Direktor des Auslandsgeheimdienstes MI6. Leitspruch beider Dienste wurde "Verteidigt das Königreich!" (Regnum defendere).

Der 1873 geborene Kell hatte seine militärische Ausbildung in Sandhurst absolviert. Er sprach Chinesisch, Deutsch, Französisch, Italienisch, Polnisch und Russisch. Winston Churchill war ein Klassenkamerad und enger Freund Kells. Drei Jahrzehnte lang zeigte er großes Interesse an Kells Tätigkeit und unterstützte ihn wiederholt. In seiner Funktion als Innenminister wies er 1910 die Polizeipräsidenten Englands und Schottlands an, seinem Schulreund jegliche Unterstützung zu gewähren. Die Erfolge, die der MI5 bis 1914 erzielte, waren nicht nur auf die professionelle Arbeit Kells, sondern auch auf das dilettantische und jeglicher Konspiration entbehrende Vorgehen des deutschen Geheimdienstes zurückzuführen. Der Leiter der für Großbritannien zuständigen Abteilung der deutschen Auslandsspionage, Gustav Steinhauer, schrieb an in Großbritannien lebende Deutsche Briefe, in denen er sie zur Spionage für Deutschland aufforderte. Die Briefe wurden von der Deckadresse F. Reimers, Brauerstr., Potsdam, abgeschickt und gingen über den normalen Postweg. Das Angebot zur Spionage nahmen nur wenige Abenteurer, Patrioten und Kriminelle an. Nachdem Kells Geheimdienst diese Vorgehensweise bekannt geworden war, setzte sich Churchill für ein Postgesetz ein, das dem MI5 die Kontrolle verdächtiger Briefe erlaubte. Binnen kurzem war das gesamte deutsche Agentennetz enttarnt. Einige Verhaftungen erhöhten das Ansehen des MI5, dessen Anfangsjahre durch Personal- und Finanzmittelknappheit gekennzeichnet waren. Kell entschied, die meisten Agenten zunächst nicht zu verhaften, da Deutschland sonst ein neues und möglicherweise professionelleres Agentennetz aufgebaut hätte.

In der Woche vor dem ersten Weltkrieg reiste Steinhauer inkognito unter dem Namen Fritsches durch Großbritannien und entging der nach ihm eingeleiteten Fahndung. Der MI5 führte eine Kartei der im Land lebenden Deutschen und hatte eine Liste von bei Kriegsausbruch festzunehmenden Agenten zusammengestellt. Durch den geringen Personalbestand des MI5 war die Hilfe der Polizei erforderlich. Am 3. August nahm die Polizei von Portsmouth verfrüht die erste Verhaftung vor. Am 4. August trat Großbritannien in den Krieg ein. An diesem Tag ordnete Kell die Verhaftung der anderen Agenten an. Bis zum 16. August wurden 20 Männer und 2 Frauen festgenommen und damit das gesamte Agentennetz Steinhauers zerschlagen. Als Wilhelm II. davon erfuhr, soll er laut Steinhauer in einem Wutanfall geschrien haben: "Bin ich von Tölpeln umgeben?"

Der deutsche Geheimdienst entsandte nun Offiziere, die aufgrund ihrer technischen Kenntnisse qualifiziertere Informationen liefern konnten. Im Oktober 1914 verhaftete der MI5 den deutschen Agenten Carl Lody. Dieser hatte mit einem gefälschten US-Paß unter dem Namen Charles A. Ingles den Marinehafen Rosyth erkundet. Seine Informationen hatten zur Versenkung des britischen Kreuzers Pathfinder durch das deutsche U-Boot U21 geführt. Trotz Kells Fürsprache wurde Lody zum Tode verurteilt. Er war der erste Mensch, der seit 150 Jahren im Tower hingerichtet wurde. Lody wie auch der deutsche Agent Karl Müller, der dem MI5 im Folgejahr ins Netz ging, zeigten bei ihrer Hinrichtung große Tapferkeit. Der Prozeß gegen Lody wurde öffentlich geführt, der gegen Müller im Geheimen. Dadurch konnte der MI5 dem deutschen Geheimdienst unter der Identität Müllers Falschinformationen übermitteln, unter anderem über eine geplante Invasion in Schleswig. Von dem Agentenlohn kaufte der MI5 einen Dienstwagen. Der Kauf des Autos führte zu einem Konflikt mit dem Schatzamt. Später wurde es gestohlen.

Deutschland ging nach diesen Rückschlägen dazu über, Bürger von Drittstaaten anzuwerben. Viele dieser Agenten verschwanden mit ihrem ersten Handgeld auf Nimmerwiedersehen. Andere lieferten wenige und schlechte Informationen oder wurden bald enttarnt. Anders als in den USA, wo Saboteure als Kohlebriketts getarnte Sprengkörper auf Schiffe schmuggelten und das Munitionsdepot von New Jersey sprengten, gelangen solche Anschläge im Commonwealth nicht. Nur auf der Isle of Man infizierten deutsche Agenten in vier Fällen Pferde mit Milzbrand.

Im Jahre 1916 nahm Sir Roger Casement Kontakt zum deutschen Generalstab auf. Casement war ein verdienter britischer Diplomat. Er hatte im Anschluß an eine Reise nach Belgisch-Kongo die dortige brutale Ausbeutung und Mißhandlung der Einheimischen durch die Aufseher des belgischen Königs öffentlich gemacht. Nach seinem 1904 veröffentlichten Bericht ging der Kongo aus dem Privatbesitz des belgischen Königs Leopold II. in den Besitz des belgischen Staates und Leopold wurde zur meistgehaßten Person seiner Zeit. 1910 untersuchte Casement auf einer Perureise die katastrophalen Arbeitsbedingungen auf den Kautschukplantagen der Peruvian Amazon Company. Für seine Verdienste war Casement geadelt worden. Aber er war auch irischer Nationalist. Für den Osteraufstand erbat er von Deutschland eine Waffenleiferung und versuchte, in deutsche Gefangenschaft geratene Iren für diese Erhebung anzuwerben. Der MI5 entdeckte seine Aktivitäten durch die Briefkontrolle. Das deutsche Schiff Libau, das getarnt als norwegischer Frachter namens Aud Waffen nach Irland bringen sollte, wurde von der britischen Marine gestoppt und nach Queenstown eskortiert. In der Hafeneinfahrt versenkte die Mannschaft ihr Schiff. Casement wurde kurz nach seiner Rückkehr festgenommen. Der MI5 veröffentlichte aus seinen Tagebüchern Passagen homoerotischen Inhalts, woraufhin sich kaum noch jemand für seine Begnadigung einsetzte. Am 3. September 1916 wurde er hingerichtet.

Deutschland ließ indischen Separatisten finanzielle Unterstützung zukommen, in der Hoffnung, durch einen Aufstand in Indien das Commonwealth zu destabilisieren. Der MI5 beobachtete diese Transaktionen, unternahm aber nichts, was die Deutschen davon hätte abhalten können, weiterhin Geld in dieses aussichtslose Unternehmen zu stecken. Am Ende des Ersten Weltkriegs war die Bilanz des deutschen Geheimdienstes eine verheerende. 1931 erschien in Deutschland ein Buch mit dem Titel "Die Weltkriegsspionage". Das Vorwort schrieb General von Lettow-Vorbeck. In Ermangelung von Erfolgsstories erfanden die Autoren selbige kurzerhand, beispielsweise die um den angeblich in London agierenden Topspion Bob Werner.

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs fiel dem MI5 die Aufgabe zu, feindliche Ausländer zu internieren und unter ihnen Spione aufzuspüren. Bei dieser Operation erfüllte der Geheimdienst die in ihn gesetzten Erwartungen nicht. Im Mai 1940 versetzte Churchill seinen Freund Kell in den Ruhestand. Kurz darauf wurde Kell in den Ritterstand erhoben. Er starb im März 1942.

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Quelle:
© 2017 by Thomas Parschik
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juli 2017

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