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ZWEITER WELTKRIEG/021: Kriegswahrnehmung deutscher und italienischer Soldaten (JOGU Uni Mainz)


[JOGU] Nr. 209, Juli 2009
Das Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Briten und Amerikaner hörten mit!
Neue Quellen zur Kriegswahrnehmung

Von Sebastian Kump


Zusammen mit Essener Sozialpsychologen arbeitet die internationale Forschergruppe um den Mainzer Geschichtsprofessor Dr. Sönke Neitzel an einem Drittmittelprojekt zur Untersuchung der Kriegswahrnehmung von deutschen und italienischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Über die Qualität der erstmals umfassend untersuchten Quellen und die neusten Ergebnisse und jüngsten Entwicklungen des Projekts sprachen wir mit Prof. Neitzel.


JOGU: Die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung hat gezeigt, dass die Aufarbeitung der Wehrmachtsgeschichte noch immer ein sensibles Thema in Deutschland ist. Haben Sie während ihrer Forschung Vorbehalte gegen Ihre Arbeit zu spüren bekommen?

NEITZEL: Ein Ziel unserer Forschungsarbeit ist es, Gesamtaussagen zur Wahrnehmung des Krieges in der Wehrmacht machen zu können. Dazu untersuchen wir auch Abhörprotokolle von "normalen" Soldaten in britischer und amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Von den Verwandten dieser Soldaten würden wir gerne wissen, ob Privataufzeichnungen ihrer Väter oder Großväter aus der Zeit des Krieges existieren, um diese mit den Abhörprotokollen korrelieren zu können. Die Reaktionen auf solche Nachfragen sind eindeutig. Stand die Person dem Nationalsozialismus kritisch gegenüber, gehen die Angehörigen relativ offen mit dem Nachlass ihrer Verwandten um. Ist bekannt, dass die Person den Nationalsozialismus unterstützte, stoßen wir auf eine Mauer des Schweigens.

JOGU: Worin liegt die Qualität der bisher weitgehend ungenutzten Quellen, die Sie in ihrem Forschungsprojekt erstmals umfassend erschließen?

NEITZEL: Selbstzeugnisse, Briefe, Tagebücher usw. liegen nicht in der Dichte vor, die man benötigt, um fundierte Aussagen über die Kriegswahrnehmung des Gros der Soldaten treffen zu können. Mit Hilfe der Abhör- und Verhörprotokolle von deutschen Kriegesgefangenen, die wir derzeit untersuchen, haben wir Zugang zu über 6.000 Personen, von denen sonst so gut wie keinerlei Zeugnisse existieren und einen unmittelbaren Einblick in die persönliche Wahrnehmung und Deutung des Krieges geben. Der Wert dieser Quellen ist nicht hoch genug einzuschätzen. Daher ist es im Hinblick auf die Auswertung kein Problem, dass uns Privatleute den Zugang zu den Nachlässen ihrer Angehörigen nicht gewähren.

JOGU: Die Alliierten in den USA und Großbritannien beschränkten sich nicht darauf, hochrangige Soldaten abzuhören. Warum machte man sich die Mühe auch einfache Frontsoldaten zu überwachen?

NEITZEL: Die Frage ist immer, welche Informationen man haben will. Von den hochrangigen Offizieren erhielt man keine technischen Informationen, sondern allgemeinere Auskünfte über die Wehrmacht, den Kriegsverlauf und den Nationalsozialismus. Die Westalliierten waren freilich noch mehr daran interessiert, technische Angaben über die Funktionsweise von Waffen zu erhalten. Solche Information erhielt man eher von einem Unteroffizier, der ein Maschinengewehr bediente oder ein Flugzeug steuerte. Im Gegensatz zu den Westalliierten haben wir an solchen Sachverhalten nur wenig Interesse, aber glücklicherweise wurden die Soldaten auch immer zu ihrer Moral und ihrer politischen Haltung befragt und ausgehorcht. Amerikaner und Briten haben das sehr geschickt gemacht. Und obwohl nicht jeder alles erzählt hat, ist es aus heutiger Sicht erstaunlich, was alles untereinander besprochen wurde.

JOGU: Ihr Forschungsprojekt wird von der Gerda Henkel Stiftung gefördert. Jüngst konnten Sie einen weiteren Drittmittelgeber hinzugewinnen...

NEITZEL: Die Fritz Thyssen Stiftung hat uns im letzten Jahr eine weitere Postdoc-Stelle bewilligt. In diesem Projekt beschäftigen wir uns mit dem amerikanischen Material, das aufgrund der Fülle zunächst nicht mit einbezogen wurde. Dieses ist insofern von einer ganz besonderen Qualität, weil zu jeder abgehörten Person Lebenslauf, Fragebogen zur Moral, Verhörberichte und Abhörberichte vorliegen. Diese Daten von über 3.000 Gefangenen haben wir in eine Datenbank eingegeben und sind jetzt in der Lage zu zeigen, ob es eine Korrelation zwischen soziobiographischen Prägungen, also Bildung, Erziehung, Religion usw. und den Aussagen in den Abhörprotokollen gibt. In der Forschung geht man bisher davon aus, dass Herkunft und Bildung eines Soldaten dessen Wahrnehmung und Deutung des Krieges in einer ganz bestimmten Weise beeinflusst haben. Wir glauben jedoch nachweisen zu können, dass das Situative und das unmittelbare Kriegserleben viel entscheidender sind und bisherige Generationenmodelle überdacht werden müssen.

JOGU: Mainzer Historiker und Sozialforscher aus Essen arbeiten gemeinsam an dem Forschungsprojekt. Wo liegt der Vorteil in der Zusammenarbeit mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI)?

NEITZEL: Wir stehen vor dem Problem fast 130.000 Seiten an Abhörprotokollen auszuwerten? Es ist notwendig hier viel stärker mit quantitativen Methoden vorzugehen als wir Historiker es normalerweise gewohnt sind. So kann etwa überprüft werden, wie oft bestimmte Themen wie Kriegsverbrechen überhaupt in den Protokollen vorkommen und in welchen Kontexten. In den Sozialwissenschaften sind quantitative Inhaltsanalysen eine erprobte Analysemethode. Die Kollegen in Essen haben hier viel Erfahrung mit den entsprechenden Computerprogrammen. Umgekehrt bringen wir als Historiker unsere Kompetenzen ein, da die Sozialpsychologie oft nur wenig über den historischen Rahmen weiß. Diese Synergieeffekte zu nutzen, ist die Grundidee der erfolgreichen Arbeit mit dem KWI.

JOGU: Das Projekt gibt auch jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Chance, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen...

NEITZEL: Es ist ja gerade der Vorteil der Universität, dass man Forschung und Lehre verbinden kann. Insgesamt arbeiten elf Magistranden der Universitäten Mainz und Bern an verschiedenen Teilprojekten. Um den Stand der Arbeiten zu besprechen, haben wir uns im Juni in Mainz zu einem Workshop getroffen. Dort wurden vor allem Fragen der Korrelation von soziobiographischer Prägung und späteren Deutungsmustern diskutiert. Ich glaube, es ist für Berner wie auch für Mainzer Magistranden sehr interessant, ihre Arbeit mit Quellenmaterial zu schreiben, gleichzeitig einen Beitrag in einem größeren Forschungsverbund zu leisten und andere Disziplinen und Kollegen kennen zu lernen. Die internationale Zusammenarbeit stellt für mich dabei einen zusätzlichen besonderen Reiz dar, da die Berner einen anderen bereichernden Blick auf die deutsche Geschichte haben.

JOGU: Wenn Sie schon jetzt eine vorläufige Bilanz der Forschungsarbeit ziehen sollten, zu welchem Ergebnis würde sie kommen?

NEITZEL: Ich glaube, dass man eine alte Weisheit des Historikers Thomas Nipperdey wieder in Erinnerung rufen muss, nämlich, dass die Grundfarbe der Geschichte nicht Schwarz oder Weiß ist, sondern Grau. Wenn man ein solch reichhaltiges Quellenmaterial quantitativ auswertet und es insgesamt betrachtet, erkennen wir eine gewisse "Banalität des Krieges". Was sich darin zeigt, wie die Masse der Soldaten in einem Krieg agierte: Sie wollten vor allem überleben, verdrängten negative Erfahrungen, vom geforderten Heroismus war in der Praxis wenig zu spüren und es brauchte viel, bis man im Sinne einer höheren Moralität handelte. Man wird aber auch sehen, dass es etliche Soldaten gab, die die Verbrechen der Wehrmacht als Unrecht erkannt und benannt haben. Zudem können wir nachweisen, dass der Krieg mit seinen Verbrechen auch und gerade der Krieg der Wehrmacht und nicht nur der SS gewesen ist. Darüber hinaus, davon bin ich überzeugt, werden wir bei der Abschlusskonferenz unseres Projekts 2011 ein methodisch weiterführendes Konzept des "Referenzrahmens" präsentieren können, das für die Mentalitätsgeschichte von großem Wert sein wird.


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Seit 2007 laufen die Forschungsarbeiten in dem Drittmittelprojekt "Referenzrahmen des Krieges. Wahrnehmungen und Deutungen von Soldaten der Achsenmächte, 1939-1945" unter der Leitung des Essener Sozialpsychologen Prof. Harald Welzer und des Mainzer Historikers Prof. Sönke Neitzel. In Kooperation mit dem Deutschen Historischen Institut in Rom und zusammen mit Geschichtsstudierenden der Universitäten Bern und Mainz rekonstruiert das Projekt erstmals umfassend, wie deutsche und italienische Soldaten den Zweiten Weltkrieg wahrgenommen haben.

Das einzigartige Quellenmaterial in Form von Abhörprotokollen Kriegsgefangener ermöglicht es Historikern und Sozialpsychologen gleichermaßen neue Erkenntnis zur Deutung und Wahrnehmung des Krieges zu gewinnen und die Synergien ihrer Fachkompetenzen zu nutzen. Dem Projekt, das von der Gerda Henkel Stiftung mit 270.000 Euro gefördert wird, sind mehrere Teilprojekte des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen (KWI) unter der Leitung von Prof Welzer angegliedert. Gefördert von der Volkswagenstiftung und der Hans-Böckler-Stiftung forschen die Wissenschaftler hier zu Teilaspekten, wie zur "Dynamik des Tötens" und zu "Autonomie: Handlungsspielräume des Selbst". 2007 veröffentlichte Prof. Neitzel mit der Edition "Abgehört" erste Ergebnisse der Forschungsarbeit zur Kriegswahrnehmung deutscher Generäle in britischer Gefangenschaft. Dank der Förderung der Fritz Thyssen Stiftung wird derzeit von Dr. Felix Römer auch umfangreiches amerikanisches Quellenmaterial zum Thema erschlossen und ausgewertet. Neitzel hat weitere Projekte in Planung: In Kooperation mit Prof. Gerhard Botz, Universität Wien, soll die Forschungsarbeit auf die "Wahrnehmung und Deutung des Krieges durch 'österreichische' Kriegsangehörige in westalliierter Kriegsgefangenschaft" erweitert werden. Zusammen mit der University of Glasgow, den Deutschen Historischen Instituten in London, Rom und Washington ist zudem ein großes DFG-Projekt zur "Kulturgeschichte der Intelligence" in Planung, das international vergleichend untersuchen soll, inwieweit sich national spezifische Intelligence-Kulturen herausgebildet haben, wodurch diese geprägt wurden, welchen Einfluss diese Kulturen auf den gesellschaftlich-politischen Umgang mit den Nachrichtendiensten hatten.


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Quelle:
[JOGU] - Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Nr. 209, Juli 2009, Seite 20-21
Herausgeber: Der Präsident der Johannes Gutenberg-Universität Mainz,
Univ.-Prof. Dr. Georg Krausch
Tel.: 06131/39-223 69, -205 93; Fax: 06131/39-241 39
E-Mail: AnetteSpohn@verwaltung.uni-mainz.de

Die Zeitschrift erscheint viermal im Jahr.
Sie wird kostenlos an Studierende und Angehörige
der Johannes Gutenberg-Universität sowie an die
Mitglieder der Vereinigung "Freunde der Universität
Mainz e.V." verteilt.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2009