Schattenblick → INFOPOOL → GEISTESWISSENSCHAFTEN → MEINUNGEN


STANDPUNKT/018: Wie in Italien im Umfeld der radikalen Linken die Brigate Rosse entstanden - 3. Teil (Gerhard Feldbauer)


Wie an der Wende zu den 1970er Jahre in Italien im Umfeld der radikalen Linken die Brigate Rosse entstanden

Wie die Geheimdienste der USA und ihre italienischen Komplizen darauf von Anfang an Einfluß nahmen
Mit verheerenden, bis in die Gegenwart reichenden Folgen

Eine Spurensuche auf den Pfaden der Geschichte

von Gerhard Feldbauer, 31. August 2019


Dritter Teil
Schwarzer Terror unter pseudorevolutionärem Etikett

Gemäß den CIA-Instruktionen wurden jedoch nicht nur in großer Zahl V-Leute und neofaschistische Agenten in linksradikale Gruppen eingeschleust, um diese zu gewaltsamen Aktionen anzustacheln, sondern schwarzer Terror auch pseudorevolutionär getarnt, durch Agenten selbst »linksextreme« Gruppen gebildet oder bestehende neofaschistische Terrorbanden auch einfach auf »linksradikale« Namen umgetauft. Nachdem im März 1973 ein neofaschistisches Attentat auf den D-Zug Genua-Rom gescheitert war, wurde bekannt, daß zuvor in dem Zug Neofaschisten vor den Reisenden demonstrativ mit Zeitungen und Flugblättern von Lotta Continua und Potere Operaio aufgetreten waren, um entsprechende Spuren zu hinterlassen.

Am 17. Mai 1973 explodiert in der Via Fatebenefratelli (Macht es gut, Brüder) in Mailand vor der Questura eine Zeitzünderbombe, die vier Menschen tötete und 47 schwer verletzte. Im Polizeipräsidium wurde zu dieser Zeit Innenminister Mario Rumor erwartet. Er entging dem Anschlag nur, weil er verspätet eintraf.

Geheimdienstagent tarnte sich als Anarchist

Am Tatort wurde der Neofaschist Gianfranco Bertoli verhaftet, der bereitwillig aussagte, er sei Anarchist und habe den Tod seines Freundes, des Anarchisten Pinelli [61] rächen wollen. Als »Beweis« zeigte er ein auf seinem Arm eintätowiertes A, das Symbol der Anarchisten. In langwierigen Ermittlungen fand der Untersuchungsrichter Giovanni Tamburino heraus, daß Bertoli bereits unter General De Lorenzo und später unter Miceli als Geheimdienstagent tätig war. Er war auch an dem Anschlag auf der Piazza Fontana beteiligt. Nach der Aufdeckung von Gladio 1991 wurde bekannt, dass er auch der geheimen NATO-Armee angehörte und die bei dem Anschlag in Mailand benutzte Bombe aus Gladio-Beständen beschaffte. Bertoli wurde wegen des Attentats zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. [62]

Allein die Aufzählung der Beweise für die Organisation des links getarnten faschistischen Terrors würde Bände füllen. Am 20. April 1975 berichtete die IKP-Zeitung »Unita«, daß »linke Unruhen« in Mailand, die zu schweren Zusammenstößen mit der Polizei führten, von Neofaschisten organisiert wurden, die vorher ins linksradikale Lager gewechselt waren. Die Mailänder Zeitschrift »Giorni« berichtete in ihrer Nr. 16/1977, daß die CIA unter Studenten italienischer Universitäten Agenten anheuerte und sie dann an die John Hopkins-University in Kalifornien einlud, wo sie entsprechend ausgebildet wurden. Nach Italien zurückgekehrt, schleuste man sie in ultralinke Gruppen ein, in denen sie terroristische Aktionen organisierten oder auch selbst leiteten. Die Zeitschrift enthüllte, daß in die Autonomia Operaia eingedrungene Agenten kurz vorher in der »roten Hochburg« Bologna, wo ein kommunistischer Bürgermeister regierte, die bis dahin größten Ausschreitungen gegen die Bildungsmisere, für soziale und demokratische Reformen angeheizt hatten. »Giorni« zitierte Zeugen, daß vor Beginn der Ausschreitungen aus Rom, Bari und Palermo Züge mit Neofaschisten nach Bologna kamen.

An den »extremistischen Umtrieben« seien auch Agenten des BND beteiligt gewesen. »Wenn heute in Italien gemordet (...) und versucht wird, die Demokratie zu Grabe zu tragen, dann auch dank der Hilfe des BND aus der Bundesrepublik Deutschland«, hieß es in dem »Giorni«-Bericht. Angesichts der Bürgerkriegspsychose, die der kommunistisch-sozialistischen Stadtverwaltung angelastet wurde, frohlockte das neofaschistische »Secolo d'Italia« am 26. und 29. März: »Vielleicht haben wir den Abgrund erreicht. Das käme sehr gelegen, denn in der Angst müßten sich die Italiener endlich entschließen, mit der Kraft der Rechten zu kämpfen.« Das Blatt forderte, »einen starken Staat als einzige Alternative gegen den Kommunismus« zu errichten.

Neofaschisten unter pseudorevolutionären Namen

Ähnlich wie in Bologna mischten sich einige Zeit später in Rom bei Überfällen auf Gewerkschaftsveranstaltungen Mitglieder der neofaschistischen Universitätsfront FUAN unter die Autonomisten und heizten die Ausschreitungen an. Der römische »Messaggero« berichtete am 8. April 1978 über Diebstähle, Sprengstoffanschläge und Verwüstungen an Schulen, die von Neofaschisten begangen wurden, die am Tatort Flugblätter mit dem Zeichen der Brigate Rosse zurückließen. Immer öfter tarnten sich neofaschistische Terrorgruppen mit pseudorevolutionären Namen. So nannte sich in Bari eine neofaschistische Organisation »nationale sozialistische Ordnung«, in Catania eine Gruppe »nationale Befreiungsfront« und in Rom tauchte eine den ultralinken »bewaffneten proletarischen Zellen« zum Verwechseln ähnliche neofaschistische Gruppe auf, die sich als »bewaffnete revolutionäre Zellen« bezeichnete.

Zum Zusammenwirken mit dem BND führte Flamigni eine Koordinierungstagung an, die am 19. Januar 1973 in Köln, am Sitz des Verfassungsschutzes, stattfand. Das Thema der Beratung lautete: »Die Infiltration in terroristische Gruppen der BR und der RAF und in außerparlamentarische linksextremistische Gruppen«. Der Leiter der italienischen Abordnung vom Ufficio per gli Affari riservati (Büro für vertrauliche Angelegenheiten) des Innenministeriums, Francesco D'Agostino, referierte über »Erfahrungen bei der Sammlung von Informationen über terroristische Gruppen«. Zur italienischen Abordnung gehörten Oberst Manlio Augello und Hauptmann Giorgio Angeli vom SID. Wie Flamigni in diesem Zusammenhang enthüllte, wurde bei den parlamentarischen Untersuchungen auch bekannt, daß ein in die RAF eingeschleuster deutscher Agent als Kontaktmann zu den BR fungierte. Auf der Kölner Tagung wurde festgelegt, die Informationen, die solche Agenten sammeln, auszutauschen. [63] Der Gladio-General Gerardo Serravalle, der nach der Aufdeckung der geheimen NATO-Struktur mit der Justiz zusammenarbeitete, sagte aus, dass zu den bevorzugten Objekten der Infiltration und verdeckter Operationen der Geheimdienste die Brigate Rosse gehörten. [64]

Höhepunkt: der pseudorevolutionär getarnte Mord an Aldo Moro

Als Aldo Moro und IKP-Generalsekretär Berlinguer ihren Historischen Kompromiss verwirklichen wollten, wurde das in Washington geplante Komplott gegen den DC-Vorsitzenden eingeleitet, als dessen Handlanger sich die Brigate Rosse hergaben. Ein Blick auf die dramatischen 55 Tage von der Entführung am 16. März bis zum Mord am 9. Mai 1978 verdeutlicht auch hier, dass die Akteure dieses Komplotts der Spannungsstrategie die CIA, die NATO-Truppe Gladio mit italienischen Geheimdienst- und Armee-Kreisen, den MSI-Faschisten und Komplizen wie US-Außenminister Kissinger und Ministerpräsident Giulio Andreotti waren. Die von Geheimdienst-Agenten unterwanderten und manipulierten linksextremen Brigate Rosse wurden dazu als Werkzeuge benutzt. Das Entführungs-Kommando der BR in der Via Fani in Rom wurde von wenigstens einem hochqualifizierten Militärspezialisten flankiert, der das Begleit-Kommando Moros liquidierte.

P2 verhinderte Befreiung Moros

Ministerpräsident Andreotti lehnte von den Entführern geforderte Verhandlungen - bis dahin immer geführte und auch danach wieder gängige Praxis - ab und lieferte seinen Partei-Vorsitzenden dem sicheren Tod aus. Wie Flamigni nachwies, bildete die Ablehnung von Verhandlungen die Begründung, dass die Brigadisten Moretti und Galinari Moro umbringen sollten. Im Plan der Organisatoren »war von Anfang an vorgesehen, dass Moro sterben müsse«. [65] Um in der Regierungsmehrheit verbleiben zu können, schloss die IKP sich dieser Linie zunächst an und überließ ihren Bündnispartner seinem Schicksal.

Um der Alleintäterschaft der BR einen glaubhaften Anschein zu vermitteln, bremste die P2 nach der Entführung Moros mit ihren 57 Mitgliedern in den Sicherheitsstäben die Fahndung, die das »Gefängnis« der BR aufspüren und den DC-Vorsitzenden befreien sollte. Wie die bereits erwähnten Experten Antonio und Gianni Cipriani aufdeckten, beobachtete der Chef des Militär-Geheimdienstes SISMI, P2-Mitglied Oberst Camillo Guglielmi, auf dem NATO-Stützpunkt Capo Marrargiu auf Sardinien Leiter der Ausbildung verdeckter Agenten in den BR, in der Via Fani die Entführung. Im Polizeipräsidium verzögerte der diensthabende Kommissar die Fahndung. Der Direktor des römischen Fernsprechamtes unterbrach für eine Stunde die Telefonverbindungen, was das unentdeckte Entkommen der Entführer ermöglichte. SISMI-Chef Giuseppe Santovito unterschlug einen Hinweis auf vier an der Entführung beteiligte Brigadisten.

Verfassungstreue Mitarbeiter versuchten, die Öffentlichkeit zu informieren. Ein Offizier spielte »La Repubblica« eine Nachricht zu, welche die Zeitung zwei Tage nach der Entführung veröffentlichte. Sie besagte, dass die Entführung Moros und die Ermordung des Begleitkommandos »eine militärische Aktion« war, ein »Glanzstück an Perfektion«, die nur »von Militärs mit ausgetüftelter Spezialausbildung oder von Zivilisten, die in für Kommandounternehmen spezialisierten Militärstützpunkten einem langen Training unterzogen wurden, durchgeführt werden konnte«. Der Kommandeur der Gladio-Division, General Gerardo Serravalle, bestätigte nach der Aufdeckung der NATO-Truppe 1991 in seinem Buch »Gladio« die Angaben.

Hier sind die Ausführungen Morettis zur Liquidierung der Begleiter Moros einzublenden. Nachdem er die Alleintäterschaft des von ihm angeführten BR-Kommandos beansprucht hatte, führte er diesen Anspruch dann geradezu ad absurdum. Im »Interview« von Rossana Rossanda gefragt, wo die Brigadisten »mit solcher Präzision zu schießen« gelernt hätten, antwortete er: »Übertreiben wir es nicht mit der Präzision. Mit unseren hochgelobten Fähigkeiten und der militärischen Präzision war es nicht so weit her.« Schießübungen hätte es »nur gelegentlich« gegeben und immer nur »im Rahmen der Kampfaktionen«. Für »die Entführung von Moro machten wir noch nicht einmal das, denn die Genossen, die mit der Durchführung der Aktion beauftragt waren, kamen aus unterschiedlichen Kolonnen, aus verschiedenen Gegenden Italiens«, erklärte er und fügte hinzu: »Wir haben sehr wenig geübt, in zehn Jahren habe ich nur ein paar Mal mit der Maschinenpistole geschossen. Ich kenne bei den BR keine herausragenden Schützen.« Man erfährt noch, dass die MPi des Brigadisten Morruci als auch die von Bonisoli während des Überfalls Ladehemmung hatte. Eine der beiden Waffen sei eine Zerbino gewesen, die noch aus Mussolinis Sàlo-Republik stammte. Morruci wechselte nach der Ladehemmung »das verklemmte Magazin seiner Maschinenpistole, schoß eine zweite Salve«, so Moretti weiter. [66]

Dieses Interview-Buch erschien 1996. Moretti war zu sechsmal Lebenslang verurteilt worden. [67] Milde hatte es ihm gegenüber, der ein gefügiger Vollstrecker der Spannungsstrategie der CIA gewesen war, nicht gegeben. Die Zusammenhänge dürften ihm in bestimmter Weise klar geworden sein. Er bewahrte darüber Schweigen. Aber einige seiner Ausführungen in dem Interview, auf diese Meinung bin ich bei meinen Recherchen wiederholt gestoßen [68], sollten wohl die offiziell bezogene Haltung der Alleintäterschaft zumindest in Frage stellen.

Mit Gladio-Munition erschossen

Am Tatort gefundene 39 Patronenhülsen waren mit Speziallack überzogen, mit dem die Munition für Gladio-Einheiten präpariert wurde. Sie verschwanden spurlos aus dem Innenministerium. Ein Hinweis auf einen BR-Stützpunkt in der Via Gradoli wurde ebenfalls ignoriert. Dort hielt sich tatsächlich Mario Moretti auf. Die Wohnung hatte ein Mitarbeiter des zivilen Geheimdienstes SISDE angemietet. Erst nachdem Moretti den Stützpunkt geräumt hatte, wurde er ausgehoben. Staatsanwalt Luciano Infelisi ließ Fotos von der Entführung, die der Besitzer einer Kfz-Werkstatt in der Via Fani geistesgegenwärtig gemacht hatte und auf denen alle beteiligten Brigadisten unmaskiert zu sehen waren, verschwinden.

MSI-Führer Almirante bezichtigte die DC des Paktierens mit den Kommunisten. Sie sei unfähig, »Sicherheit und Ordnung« zu garantieren und liefere das Land »der kommunistischen Gewalt« aus. In Washington rief er, wie das MSI-Blatt »Secolo d'Italia« am 30. April berichtete, zum »globalen Kampf gegen den Kommunismus« auf und propagierte »die Errichtung eines Regimes, das wie unter Hitler und Mussolini den Klassenkampf beseitigt«.

Moro wurde zumindest zeitweise auf einem Gladio-Stützpunkt bei Rom untergebracht. In seinen Hosenaufschlägen wurde Sand gefunden, der von den Tolfa-Hügeln nördlich von Rom stammte, wo sich ein Stützpunkt der NATO-Truppe befand. In BR-Dokumenten war der Palazzo Orsini des Adelssprosses Onorato Caetani vermerkt. Die Caetanis gehörten dem Orden der Cavalieri di Malta an, von dem wiederum 27 Ordensbrüder P2-Mitglieder waren. In der Via Caetani, in welcher der Wagen mit der Leiche Moros abgestellt wurde, befand sich die Residenz des Botschafters des Ordens, Prinz Johannes Schwarzenberg. Er und seine Frau kamen nach dem Mord an Moro bei einem Autounfall ums Leben. Der Diplomat habe vorgehabt, sich zu den Ereignissen zu äußern.

Mit Pro Deo war der Vatikan immer dabei

Komplize des pseudorevolutionär getarnten Terrors der BR war kein Geringerer als der Geheimdienst des Vatikans Pro Deo. Als der Beginn der Operation Moro sich näherte, wurde Anfang 1978 in Rom eine Zweigstelle des Hyperion-Instituts eingerichtet. Sie wurde in der Via Nicotera Nr. 26 in einem Gebäude untergebracht, in dem sich mehrere verdeckte Büros des Geheimdienstes SISMI befanden. Den römischen Stützpunkt leitete ein gewisser Innocente Salvoni, eine illustre Person aus dem CIA-Milieu am Quai de la Tournelle in Paris. Er war mit Françoise Tuscher verheiratet, die Sekretärin am Hyperion-Institut und eine Nichte des zum Pro Deo gehörenden Abbé Pierre, einem der Vorsteher des Hyperion, war. Der katholische Weltgeistliche führte den bürgerlichen Namen Henri Maria Joseph Grouès, war Ritter der Ehrenlegion und als Vertreter der Zentrumspartei von 1945-51 Abgeordneter der französischen Nationalversammlung und Mitglied ihres Verteidigungsausschusses gewesen. Der Abbé befand sich am 16. März ebenfalls in Rom. Salvoni war auf einigen der Fotos zu erkennen, die in der Via Fani von den Entführern Moros gemacht wurden. Abbé Pierre sorgt dafür, daß Salvonis Ablichtung beseitigt wurde. Der Chef der römischen Ermittlungen, Staatsanwalt Infelisi, ließ alle Fotos vom Tatort verschwinden. [69]

Der illustre Abbé Pierre alias Grouès kam Jahre später in den Verdacht, an »vorderster Front« die Fäden im Mordfall Moro gezogen zu haben. Das Vorstandsmitglied der DC Flamini Piccoli sagte vor der Parlamentskommission aus, daß es eine »unvorstellbare Person« auf »elitärem Niveau« gab, die Moretti und Gallinari »in den Fragen des Gefängnisses und des >Prozesses< gegen Moro zur Seite gestanden« habe. [70] »La Repubblica« schrieb am 14. März 1993, der Untersuchungsrichter Mastelloni teile diese Meinung und sehe diese »mysteriöse Person« an das Hyperion-Institut gebunden. Auch wenn nähere Angaben nicht gemacht wurden, war es ein deutlicher Hinweis auf den mit dem vatikanischen Geheimdienst Pro Deo liierten Abbé Pierre.

Der Prozess gegen Moretti und die wichtigsten BR-Chefs

Am 24. Januar 1983 wurde vor dem Corte d'assise (Schwurgericht) in Rom der dritte Prozeß gegen die Brigate Rosse abgeschlossen. Angeklagt waren die zweite Generation, deren wichtigste Chefs inzwischen verhaftet worden waren, darunter zuletzt am 4. April 1981 auch Moretti. Gegenstand der Anklage waren die Delikte zwischen 1977 und 1980. Darunter 17 Morde, eingeschlossen der an Moro und seinem fünfköpfigem Begleitkommando, elf Mordversuche, vier Körperverletzungen, vier Entführungen, vier Anschläge auf Sachwerte sowie vier Raubüberfälle. Vor Gericht standen insgesamt 63 Brigadisten. 23 von ihnen waren der Entführung, Bewachung und Ermordung Moros angeklagt, von denen 18 lebenslängliche Haftstrafen erhielten. Insgesamt ergingen 59 Urteile, davon 32 Mal lebenslänglich.

In dem Verfahren kam nahezu alles zur Sprache, was die BR als alleinige Täter überführen sollte, wurde alles vertuscht, was die Hintermänner des Komplotts betraf. Der den Prozeß autoritär beherrschende Gerichtsvorsitzende, Severino Santiapichi, ignorierte die Ergebnisse der parlamentarischen Untersuchungskommissionen zum Fall Moro sowie zur Geheimloge P2, die deutlich die Verantwortung höchster Regierungskreise sowie der Geheimdienste und der Polizei bis hin zum damals amtierenden Ministerpräsidenten Andreotti für den Tod des Parteiführers aufgezeigt hatten, und stellte diesen im Gegenteil gerichtsoffizielle Persilscheine aus. Die simple Frage, die man jedem Kriminalanwärter auf der Polizeischule beibringt, wer hatte ein Mordmotiv, »wie viele wollten Aldo Moros Tod«, wurde während des ganzen Prozesses mißachtet, stellt der bekannte Strafrechtler Stefano Rodotâ in einer Prozeßanalyse fest, die von »La Repubblica« veröffentlicht wurde.

Zu den haarsträubendsten Sentenzen, von denen die Urteilsbegründung strotzte, gehört die folgende: »Es gibt nicht einen Beweis, nicht ein einziges Indiz, nicht eine einzige Seite im gesamten Prozeß, die zu der Hypothese berechtigen würde, beim Fall Moro handele es sich um eine Verschwörung des >Palazzo<. [71] Das Regiebuch der Untaten im Fall Moro wurde von den BR angeordnet, und nichts kann andere Mutmaßungen rechtfertigen.« Die Vorsitzende der P2-Kommission des Parlaments, die Christdemokratin Tina Anselmi, hatte dagegen unzweideutig eingeschätzt, daß »das völlige Versagen unseres Sicherheitsapparates während der Affäre Moro mit der P2-Mitgliedschaft der fünf Mitglieder des Komitees, das für die Fahndung verantwortlich war - darunter die beiden Chefs der Geheimdienste -, in einem Zusammenhang steht.« [72]

Einen »alarmierenden Zusammenhang mit ausländischer Komplizenschaft« sah Santiapichi nur in Verbindung zu auswärtigen bewaffneten Gruppen - zur RAF, zur ETA, zur IRA und zur PLO. Tabu war ebenfalls die enge Zusammenarbeit, die italienische Dienste mit ihren bundesdeutschen Kollegen bei der Einschleusung von Agenten in linksextreme Gruppen wie die BR und die RAF gepflegt hatten, wie am Beispiel der Kölner Tagung des SID und des BND 1973 dargelegt wurde. [73]

Lediglich bezüglich der italienischen Geheimdienste kam das Schwurgericht angesichts der erdrückenden Beweise nicht umhin, Kritik, wenn auch völlig anonym, anzudeuten. »Sie waren zerstückelt, psychologisch blockiert, desorganisiert, gar mit Angelegenheiten beschäftigt, die außerhalb ihrer institutionellen Aufgaben liegen«, hieß es. Kein Wort fiel auch dabei zu Andreotti, der diese Desorganisation, diese Zerstückelung und psychologische Blockierung bewusst herbeigeführt hatte.

Wo wurde Moro versteckt gehalten?

Zu den skandalösesten Fakten des Prozessverlaufs gehörte, dass kein Wort darüber fiel, wo Moro während der 55 Tage der Geiselhaft versteckt gehalten wurde. Die sonst gesprächigen Brigadisten, von denen einige als Pentiti auftraten, schwiegen sich dazu beharrlich aus. Im Gegensatz zu den erwähnten Fahndungsergebnissen wurde behauptet, dazu sei nichts zu Tage gebracht worden. Luigi Pintor [74] bezeichnete das »Geheimnis um Moros Aufenthalt« im »Manifèsto« als »die Metapher eines nichtexistenten Gefängnisses« und hielt fest: »Man erkläre mir nur eins: Wie kann man eine Untersuchung ernst nehmen, eine Verhandlung, ein Urteil, wenn im Laufe von fünf Jahren trotz Verhaftungen, Anklagen, Verhören, Gegenüberstellungen und Geständnissen und am Ende von 59 Schuldsprüchen und 32mal lebenslänglich nicht herausgefunden worden ist, wo der Abgeordnete Moro 55 Tage lang eingesperrt war?«

Zu dieser Vertuschung gehörte, dass jegliche Ermittlungsergebnisse, die Verbindungen von Brigadisten mit den Geheimdiensten belegten, mit keinem Wort zur Sprache kamen. Zu den nicht wenigen sichergestellten Beweisen gehörte das Notizbuch des nach Moretti führenden Brigadisten Valerio Morruci, in dem zwei brisante Telefonnummern standen. Die des Leiters für Innere Sicherheit des SISMI, General Giovanni Romeo, und die von Kommissar Antonio Esposito, Mitglied der P2 und am Tag der Entführung Moros diensthabender Offizier im römischen Polizeipräsidium. Die Nummern standen in keinem öffentlichen Telefonbuch.

Zum Schweigen gebracht

Unter den Angeklagten befanden sich Brigadisten, die Moro im »Volksgefängnis« bewacht hatten. Damit stellte sich ein weiteres Mal die Frage, warum diese, die sich im Klaren darüber sein mussten, daß sie sich in irgendeiner Weise mit den Geheimdiensten eingelassen hatten oder ihnen zumindest in die Falle gegangen waren, dazu beharrlich schwiegen. Dieser Frage wurde in allen seriösen italienischen Quellen nachgegangen. Antonio und Gianni Cipriano nennen als Grund, daß die Brigadisten um »ihr Leben fürchteten«. [75] Was die Autoren feststellten [76], ist durchaus ernst zu nehmen. Mitwisser, die nicht schweigen wollten, Ermittler, die den Drahtziehern der Spannungsstrategie zu nahe kamen, Journalisten, die Verschwörungen enthüllten, verschwanden zu Dutzenden, kamen bei Unfällen ums Leben, wurden einfach erschossen. Dass sie (die Brigadisten) alle schweigen, »kann nur eins bedeuten, dass mit dem Gefängnis der gesamte Hintergrund des Falles Moro aufkommen würde«, erklärte der sozialistische Senator und Mitglied der Moro-Kommission Luigi Covatta. [77] In diese Sicht der Dinge passt schließlich, was der SISMI-General Giovanni Romeo vor der Parlamentskommission aussagte. Wenn etwas bekannt würde, »müssten sie es teuer bezahlen«.

Wende nach rechts

Im Ergebnis des von der CIA inszenierten Mordkomplotts gegen Aldo Moro, dem die Brigate Rosse als willige Werkzeuge gedient hatten, kam es zu einer reaktionären Wende, deren Auswirkungen mit der tiefgehenden Krise der Linken bis in die Gegenwart reichen. Der von den BR bekämpfte Historische Kompromiss der IKP scheiterte. Im Januar 1979 verließ die Partei die von der DC angeführte Regierungskoalition. Es gab keinerlei soziale oder ökonomische Reformen. Statt einer Zurückdrängung der faschistischen und rechten Gefahr (eines der Hauptargumente bei Gründung der BR), kam es zu einer Verschiebung der Regierungsachse nach rechts, erhielten in der DC rechte und mit den Faschisten paktierende Kräfte den bestimmenden Einfluss auf die Politik. Der politische Einfluss der IKP ging spürbar zurück. In den folgenden Jahren verlor sie etwa ein Drittel ihrer 2,2 Millionen Mitglieder. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni 1979 war ihre Stimmenzahl zum ersten Mal seit Kriegsende rückläufig. Sie verlor gegenüber 1976 mit einem Schlag fast vier Prozent ihrer Wähler, bis 1987 rund acht. Das war auch ein Ergebnis der antikommunistischen Hetze, in der die Partei als Urheberin des Terrors der BR diffamiert wurde. Die IKP sprach sich, wenn auch sehr zurückhaltend, wieder für eine linke Regierungsalternative aus.

Es setzte eine Welle der Repression, die sich mit aller Wucht vor allem gegen linke und als linksradikal apostrophierte Intellektuelle richtete. Der Jagd auf sie fielen ganze Universitätsfakultäten zum Opfer. In Padua befand sich darunter fast der gesamte Lehrkörper für politische Wissenschaften. Der angesehene Professor Antonio Negri wurde angeklagt, Chef der RB zu sein und die Entführung Moros organisiert zu haben. Tausende Linksradikale, viele von ihnen, ohne sich eines Vergehens strafbar gemacht zu haben, wurden in die Gefängnisse geworfen, zirka 100.000 Personen von den polizeilichen Ermittlungen erfasst, rund 40.000 angeklagt, etwa 15.000 verurteilt.

Nachbetrachtungen

Über welch hohe Protektion Simioni verfügte, verdeutlichte ein skandalöser Vorgang ohnegleichen im November 1992. Der Top-Agent wurde in Rom im Vatikan vom polnischen Papst Karel Wojtyla alias Johannes Paul II. in Privataudienz empfangen, begleitet von Abbé Pierre. Moro hatte in seinen Abschiedsbriefen bekanntlich auch Wojtylas Vorgänger Paul VI. persönlich als mit für seinen Tod verantwortlich bezeichnet. Wojtyla war selbstredend auch ein erbitterter Gegner des mit den Kommunisten zusammenarbeitenden DC-Vorsitzenden und das nicht erst, seitdem er im August 1978 den Papstthron bestiegen hatte. In seinem fanatischen Antikommunismus scheute er sich nicht, die Fäden der Zusammenarbeit mit der CIA und ihren italienischen Gehilfen persönlich in die Hand zu nehmen. Die Vatikan-Experten Carl Bernstein und Marco Politi enthüllten, dass sein »Verbindungsoffizier« zur CIA kein geringerer als der berüchtigte Experte der Spannungsstrategie, General Vernon Walters, war. [78]

Neuer Einsatz bei der Solidarnosc Leszek Walesas

Die späte Ehrung des eigentlichen BR-Chefs Simioni hing mit einem neuen Einsatz zusammen, den der Agent inzwischen absolviert hatte. Er war, wie einem Bericht des »Corriere della Sera« vom 14. März 1993 zu entnehmen war, nach der »Operation Moro« anscheinend als Verbindungsmann des Vatikans (wahrscheinlich, wie aus der Begleitung zur Papstaudienz durch Abbé Pierre geschlußfolgert werden konnte, im Auftrag des päpstlichen Geheimdienstes Pro Deo) bei der Solidarnosc Leszek Walesas eingesetzt worden. Über die Papstaudienz für Simioni wurde der Mantel des Schweigens gehängt. Sie wurde in Rom erst durch einen Bericht des »Espresso« fünf Monate später, am 28. März 1993, bekannt. Laut dem P2-Bankier und Finanz-Manager des Vatikans Roberto Calvi (auch Bankier Gottes genannt) ließ der Vatikan unter Wojtyla der Solidarnosc mehr als eine Mrd. US-Dollar zukommen. Über 100 Millionen Dollar habe Wojtyla selbst berappt. [79]

Auch Berlusconi ein Ergebnis

Wie die Publizisten Giovanni Ruggeri und Mario Guarino in ihrem Buch »Silvio Berlusconi - Inchiesta sul signor Tv« (Mailand 1994) beweiskräftig nachwiesen, wurde der von der P2 mit dem Mord an Moro geplante kalte Staatsstreich im April 1994 mit der Bildung einer faschistisch-rassistischen Regierung unter dem Mitglied ihres Dreierdirektoriums Silvio Berlusconi realisiert.

USA kannten Moros »Gefängnis«

Am 23. Oktober 2007 veröffentlichte die kommunistische »Liberazione« [80] eine Erklärung von Giovanni Galloni, zur Zeit der Entführung Moros Vizesekretär der DC, dass »die Vereinigten Staaten wussten, wo Aldo Moro gefangen gehalten wurde«. Er bestätigte, dass fünf in die BR eingeschleuste Agenten »die Kulisse der Geheimdienstoperation« gebildet hatten.


Fußnoten:

[61] Der Eisenbahner und Anarchist Giuseppe Pinelli wurde nach dem Attentat auf der Piazza Fontana in Mailand mit 300 weiteren Linksradikalen als angeblicher Täter verhaftet, gefoltert und aus dem Fenster im 6. Stock des Polizeipräsidiums gestürzt, was als Selbstmord hingestellt wurde.

[62] Flamigni: Trame atlantice, S. 80 f.

[63] Flamigni: Convergenze parallele, S. 96 f.

[64] Gerardo Seravalle: Gladio. Rom 1991, S. 40.

[65] Flamigni: Convergenze parallele, S. 239.

[66] Moretti, S. 143 ff.

[67] Als er 1994 durch einen Gnadenakt bedingt freigelassen wurde, hatte er seit seiner Verhaftung 1981 13 Jahre im Gefängnis verbracht.

[68] Diese Fragen wurden 2002 auch auf einer Konferenz der Associazione Ricreativa Culturale Italiana (ARCI) zu »Politik und Terrorismus in Italien« im September 2002, an welcher ich zusammen mit Professor Siegfried Prokop teilnahm, angesprochen. Während Prokop zur RAF sprach, hielt ich einen Vortrag zur Rolle der CIA bei der Manipulierung der Roten Brigaden. Die renommierte Zeitung für Wirtschaft und Politik »Il Sole 24 Ore« gab am 15. September 2002 unter der Schlagzeile »Per lo Storico Feldbauer i Servizi avevano degli Infiltrati anche nelle BR« ausführlich meinen Vortrag wieder. In »junge Welt« erschien von Prokop »Gladio und der 11.9. Politik und Terrorismus in Italien. Internationale Konferenz der ARCI in Bretonico.«

[69] Flamigni: La Tela del Ragno, S. 173 ff., Ders. Il Covo di Stato, Via Gradola 96 e il Delitto Moro. Mailand 1999, S. 137 f.

[70] Galli, S. 23.

[71] Sitz des Ministerpräsidenten.

[72] »Repubblica«, 29. Mai 1983.

[73] »Repubblica«, 29. Mai 1983.

[74] Mit Rossana Rossanda Mitbegründer des »Manifesto«.

[75] A. und G. Cipriano, S. 213.

[76] Mehrere dieser Fälle wurden hier unter den Tötungsaktionen der BR bereits erwähnt. Ein besonders krasses Beispiel ist, dass bei den Ermittlungen gegen die neofaschistischen Attentäter auf der Piazza Fontana in Mailand über ein Dutzend Zeugen, die dazu aussagen wollten oder von denen das auch nur vermutet wurde, ums Leben kamen. Der hochrangigste von ihnen war der Rechtsanwalt und Agent des militärischen Geheimdienstes Vittorio Ambrosini, Bruder eines ehemaligen Präsidenten des Verfassungsgerichts und Patenonkel des Innenministers Franco Restivo. Er stürzte aus dem siebten Stock einer römischen Klinik. Zwei Tage vor dem Anschlag auf der Piazza Fontana hatte er an einer Einsatzbesprechung von Pino Rauti teilgenommen. Das Blutbad erschütterte ihn dann derart, daß er Restivo in einem Brief darüber unterrichtete, daß der Anschlag von der »Ordine Nuovo« Rautis ausgeführt worden war, und nannte 15 ihm bekannte Neofaschisten, die daran beteiligt waren. Er wurde danach ständig bedroht und rechnete mit einem Anschlag auf sein Leben. Für den Fall seines Todes hatte er seine Kenntnisse zu Papier gebracht. Das Dokument verschwand danach.

[77] Zitiert in: Werner Raith: In höherem Auftrg. Der kalkulierte Mord an Aldo Moro. Berlin (West) 1984, S. 163.

[78] Carl Bernstein und Marco Politi: Seine Heiligkeit - Johannes Paul II. und die Geheimdiplomatie des Vatikans. München 1997, S. 380 ff.

[79] »Der Tagesspiegel«, 16. März 2009, siehe auch E. R. Carmin: Das Schwarze Reich, München 2000. Der nach der Aufdeckung der P2 gerichtlich verfolgte Calvi war vor der Verhaftung nach London geflohen und drohte dort, die Verwicklung des Papstes in die Machenschaften der P2 aufzudecken. Er wurde danach am 18. Juni 1982 unter der Blackfriars Bridge erhängt aufgefunden. In Italien wurde nie bezweifelt, dass ihn die Mafia umbrachte.

[80] Zeitung der 1990 nach der Liquidierung der IKP als Nachfolger gegründeten Partito della Rifondazione Comunista.


Bücher des Autors, die das Thema der Brigate Rosse einbeziehen:

  • Agenten, Terror, Staatskomplott. Der Mord an Aldo Moro, Rote Brigaden und CIA. PapyRossa, Köln 2000.
  • Aldo Moro und das Bündnis von Christdemokraten und Kommunisten im Italien der 70er Jahre. Aldo Moro gewidmet. Neue Impulse, 2003.
  • Warum Aldo Moro sterben musste. Die Recherchen des Commissario Pallotta. Eine Kriminalgeschichte nach Tatsachen. Erich-Weinert-Bibiothek der DKP Berlin, Heft 1/2011.
  • Compromesso storico. Der Historische Kompromiss der IKP und die heutige Krise der Linken. Schriftenreihe Konsequent der DKP Berlin, Heft 2/2013.

*

Quelle:
© 2019 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang