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STANDPUNKT/021: "Wende"-Zeiten in der DDR - 3. Teil (Gerhard Feldbauer)


"Wende"-Zeiten in der DDR

Gregor Gysi griff 1989/90 die Liquidierung der italienischen PCI als Modell für seine PDS auf
Hans Modrow orientierte sich an ihr als Regierungschef - 3. Teil

Von Gerhard Feldbauer, 19. November 2019



Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-012 / Lehmann, Thomas / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)]

Käthe Reichel (2.v.l.), Schauspielerin und spätere Mitautorin der GBM-Suizid-Studie, auf der Demonstration vom 4. November 1989 in Berlin
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-012 / Lehmann, Thomas / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)]


Die Toten der "friedlichen Revolution"

Entgegen den verbreiteten Lügen, beim Anschluss der DDR an die BRD als "friedlicher Revolution" habe es keine Toten gegeben, sieht die Realität auch hier anders aus. Die Verlierer der Geschichte wurden nicht, wie der damalige Justizminister der BRD, Kinkel erklärte, in Lager gesperrt, sondern ins soziale Abseits gedrängt. Das hieß, dass Unzählige mit Berufsverbot belegt, ihre Menschenwürde mit Füßen getreten, gegen sie eine unsägliche Lügen- und Hetzkampagne geführt, Tausende von Gericht gezerrt und verurteilt wurden. Über die Zahl derer, die dem nicht stand hielten, denen die Kraft fehlte, zu widerstehen, die Hand an sich selbst legten, liegen keine Angaben vor. Einer Studie der Zeitschrift "Icarus" der Gesellschaft für Bürger- und Menschenrecht (GBM) in Heft 3 und 4/2006 war zu entnehmen, dass die Zahl dieser Toten in die Zehntausende geht, wenn sie nicht gar, wie intern angenommen wird, die Einhunderttausend erreichte. Laut "AFP" töteten sich bereits im Jahr nach der Einverleibung der DDR in Ostdeutschland 4.294 Menschen selbst. Die Opfer waren Arbeiter und Genossenschaftsbauern, Lehrer, Ingenieure und Journalisten, Ärzte, Künstler und Wissenschaftler, von den Massenentlassungen Betroffene, obdachlos Gewordene, Kinder, die die Demütigungen ihrer Eltern nicht ertrugen. Der Suizidexperte Udo Grashoff berichtete, dass von 1989 bis 1991 die Selbstmordrate in den neuen Bundesländern um rund zehn Prozent anstieg. Wie viele von den über 11.000 Menschen, die in der Bundesrepublik jährlich Selbstmord begehen, Opfer der "Wende" waren, ist nicht bekannt.

Autoren der Studie waren u. a. der bekannte Faschismusforscher der DDR, Prof. Manfred Weißbecker, der Ökonom Prof. Harry Nick, der Pfarrer Dr. Dieter Frielinghaus, die Schauspielerin Käthe Reichel und der Rechtsanwalt Peter Michael Diestel.

Weißbecker schrieb über seinen Kollegen an der Jenenser Universität Prof. Gerhard Riege, dass ihm als Mitglied des Bundestages in dem "hohen Haus" blanker antikommunistischer Hass entgegenschlug. In ihm entäußerte sich ein "Ungeist, der noch Schlimmeres als Keim in sich trägt", urteilte Gerhard Haney, einer der Kollegen Rieges. "Sie werden den Sieg über uns voll auskosten. Nur die vollständige Hinrichtung ihres Gegners gestattet es ihnen, die Geschichte umzuschreiben und von allen braunen und schwarzen Flecken zu reinigen", schrieb Prof. Riege, bevor er am 15. Februar 1992 den Freitod wählte.


Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0709-333 / Schöps, Elke / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)]

Dr. Gerhard Riege, Volkskammer- und Bundestagsabgeordneter (PDS), Suizid 1992, in einer Aufnahme vom 9. Juli 1990
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0709-333 / Schöps, Elke / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)]

Hier ist anzumerken, wie Hans Modrow sich öffentlich zu Riege äußerte. An Hand des Bundestagsprotokolls über eine Rede Rieges enthüllte er mit Zitierungen die abgrundtiefen antikommunistischen und DDR-feindlichen Hetztiraden, die dessen Rede begleiteten und die den "sensiblen Riege" in den Freitod trieben. Er zitierte aus Rieges Abschiedsbrief, in dem dieser "den Haß, der mir im Bundestag entgegenschlägt", beschrieb, und "wie unmoralisch und erbarmungslos das System ist", das "den Sieg über uns voll auskosten" wird. Denn "nur die vollständige Hinrichtung ihres Gegners gestattet es ihnen, die Geschichte umzuschreiben und von allen braunen und schwarzen Flecken zu reinigen". Modrow, das muss hier sachlich gesagt werden, enthielt sich der sich hier (wie auch bei anderen Gelegenheiten) bietenden klaren Abrechnung mit diesem menschenfeindlichen System und beschränkte sich darauf, dass das Redeprotokoll "nicht nur die Arroganz im Hause, mit der Riege und seine Kolleginnen und Kollegen von der PDS/Linke Liste behandelt wurden" offenbarte, sondern auch "Rückschlüsse auf das Demokratieverständnis mancher Abgeordneter" gestatte.

Zurück zur Studie der Zeitschrift "Icarus", die anführte, dass zu den Opfern gehörten: der Grafiker Thomas Schleusing vom Jugendmagazin "Neues Leben", sein Kollege, der sensible Zeichner und Gestalter Christoph Ehbets, bekannt u. a. durch seine Cover beim VEB Deutsche Schallplatte. Der Vizepräsident des DTSB Franz Rydz, der Minister für Bauwesen der DDR Wolfgang Junker, der Raubtierdresseur Hanno Coldam (Heinz Matloch) der international bekannten Löwen-Gruppe des VEB Zirkus Aeros, der hervorragende Neurowissenschaftler der DDR Prof. Armin Ermisch, nach dem ein internationaler Preis für herausragende Nachwuchswissenschaftler benannt ist. Der weltberühmte Schauspieler Wolf Kaiser, der sich seine Menschenwürde nicht nehmen ließ und dafür in den Tod ging. Als einen "ungekrönten Monarchen der Schauspielzunft" würdigte ihn Eberhard Esche in seiner Grabrede.


Foto: Werner Bethsold - CC-BY-SA-4.0 [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]

Der Schauspieler Wolf Kaiser (Suizid am 21. Oktober 1992) im Hörspielstudio, Aufnahme von 1989
Foto: Werner Bethsold - CC-BY-SA-4.0 [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]

Nicht nur SED-Mitglieder waren unter den Opfern. Unter ihnen befanden sich die Jugendbildungsreferentin der Evangelischen Akademie Meißen, Anne-Kathrin Krusche, und der frühere Abgeordnete der sächsischen CDU Herbert Schicke, der Arbeitsmediziner und Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Lichtenberg, Dr. Rudolf Mucke, der weder der SED noch der FDJ angehört hatte. Das MfS hatte 1976 Anwerbungsversuche wegen "dekonspirativen Verhaltens" aufgegeben. Die "Ehrenkommission" der Berliner Charité hielt seine Weiterbeschäftigung dennoch für "unzumutbar". Dem Hochschullehrer Hans Schmidt, dessen hohes theoretisches und international anerkanntes Wissen die Wirtschaftsuniversität Wien würdigte, wurde - wie unzähligen anderen DDR-Wissenschaftlern - "wegen mangelnden Bedarfs und mangelnder fachlicher Qualifikation" gekündigt. Nach einem vierjährigen zermürbenden und entwürdigenden Rechtsstreit um seinen Arbeitsplatz, der für den Schwerbehinderten nicht ohne gesundheitliche Folgen blieb, nahm sich Dr. Schmidt am 8. Mai 1996 durch einen Sprung aus dem 13. Stockwerk seiner Hochhauswohnung das Leben.

In der Studie wird geschildert, wie im Januar 1992 in den frühen Morgenstunden Polizisten die Wohnung des Ehepaares Fuchs in der Grunaer Straße 12 in Dresden besetzten und Otto Fuchs verhafteten. Seine Frau Martha, eine Jüdin, die KZ-Häftling gewesen war, erlitt einen schweren Nervenzusammenbruch. Die furchtbaren Erlebnisse der Nazizeit wurden lebendig. Sie glaubte, Faschisten drängen - wie nach 1933 - wieder an die Macht. Mit einem schweren Schock wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert. Die Leipziger Staatsanwaltschaft erhob gegen Otto Fuchs Anklage wegen Rechtsbeugung und Mord. Er war 1950 in den Waldheim-Prozessen gegen Kriegsverbrecher und Naziaktivisten Vorsitzender Richter gewesen. Man warf ihm vor, er habe Unschuldige zum Tode verurteilt. Mit Hilfe seines Anwalts kam er für kurze Zeit aus der Untersuchungshaft frei. Um den Richtern nicht die hämische Genugtuung an "seiner langsamen und qualvollen prozessualen Hinrichtung" zu ermöglichen, beschlossen er und seine Frau, aus dem Leben zu scheiden.

Im Abschiedsbrief hieß es: "Meine Frau würde eine Trennung von mir nicht überstehen. Ich versichere Ihnen, dass wir in meiner Strafkammer nur Kriegsverbrecher verurteilt haben und ich bin mir sicher, dass wir uns über kein Urteil schämen müssen. Alle Zeichen deuten aber darauf hin, alles ins Gegenteil zu verkehren und in einem Schauprozess mich zum Verbrecher zu stempeln. (...) Heute, nach einer langen Periode der Naziverbrechen, fühlen sich doch alle - und sind sie auch noch so schwer belastet - als völlig unschuldige Menschen. Die Verdrängung ging und geht ja so weit, dass Auschwitz als Lüge hingestellt wird." Am 13. Februar um 23.15 Uhr sprangen Otto und Martha Fuchs vom Balkon ihrer Wohnung aus dem siebten Stock in den Tod. Im Prozess gegen den mit angeklagten 87jährigen Otto Jürgens musste das Tribunal die Mordanklage fallen lassen. Schließlich wurde ein reines Gesinnungsurteil verhängt und der Angeklagte zu zwei Jahren Haft auf Bewährung, 6.000 DM Geldstrafe und zur Übernahme der Verfahrenskosten verurteilt. In seinem Schlusswort sagte Otto Jürgens, der bereits 1933 von der Gestapo verhaftet und gefoltert worden war: "Die Naziverbrecher, die in Waldheim abgeurteilt wurden, hatten ihre Strafe mehr als verdient."


Mit der DDR fielen die Schranken

Seit der Liquidierung der DDR geht von deutschem Boden wieder Krieg aus, was im Nachhinein die friedenssichernde Rolle des sozialistischen deutschen Staates verdeutlicht. Bereits im September 1991 trafen sich auf einem "Fürstenfeldbrucker Symposium" [88] führende Vertreter der Industrie- und Bankenwelt mit hochrangigen Generälen der Bundeswehr mit Ex-Verteidigungsminister Rupert Scholz an der Spitze, um das neue Expansionsprogramm zu beraten. Es verkündete die Rückkehr zu weltweiter Aggressionspolitik als Wiederherstellung der "Normalität" Deutschlands und umschrieb die Teilnahme am Kampf um den Weltherrschaftsanspruch als "Partner in Leadership" mit den USA. [89] Unmissverständlich war von Militäreinsätzen der Bundeswehr out of Area die Rede, von ihrer Umstrukturierung zur Herstellung der Einsatzfähigkeit entlang einer 4.000 km langen EU-Außengrenze, der Bildung eigener Eingreifkräfte, die das "Selbstbestimmungsrecht" von Minderheiten und "unterdrückten" Völkern durchsetzen und sich der Gefährdung von Rohstoffzufuhr, der Begegnung von Immigrationswellen und diversen ähnlichen Problemen zuwenden sollten. Dazu wurde ein neues Geschichtsbild gefordert, das mit Auschwitz und Holocaust Schluss machen und statt dessen "Nation und Vaterland" zum Inhalt haben sollte.

In diesen Debatten wie verabschiedeten Denkschriften und ähnlichen derartigen Deklarationen wurde übrigens Klartext gesprochen, war von keinem Kampf gegen den Terrorismus die Rede. Dieser Vorwand wurde erst später mit dem 11. September 2001 geschaffen. [90]


Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1990-1003-040 / Uhlemann, Thomas / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)]

3. Oktober 1990 - Bundesverteidigungsminister Gerhard Stoltenberg (M.) übernimmt vom früheren DDR-Minister für Abrüstung und Verteidigung Rainer Eppelmann (l.) die Befehlsgewalt über die Streitkräfte der DDR
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1990-1003-040 / Uhlemann, Thomas / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)]

Es ging in Fürstenfeldbruck nicht nur um die Revidierung der Nachkriegsordnung, sondern weiter zurückreichend auch um die des Ersten Weltkrieges. Davon zeugte die Haltung zur Konzeption der Zerschlagung Jugoslawiens. Rupert Scholz erinnerte daran, dass "der Jugoslawienkonflikt unbestreitbar fundamentale gesamtdeutsche Bedeutung" habe, da mit ihm "die wichtigsten Folgen des Zweiten Weltkrieges überwunden und bewältigt" werden. "Aber in anderen Bereichen", so Scholz weiter, "sind wir heute damit befasst, noch die Folgen des Ersten Weltkrieges zu bewältigen." Diese bestanden darin, dass der jugoslawische Staat nach dem Ersten Weltkrieg eine Barriere gegen den "Deutschen Drang nach Osten" sein sollte, welche es nach Scholz' Worten zu beseitigen galt, und dass deshalb "Kroatien und Slowenien völkerrechtlich unmittelbar anerkannt werden" müssten. Die so bezweckte Internationalisierung des Konflikts ermögliche es, so der deutsche Ex-Verteidigungsminister, international in Jugoslawien zu intervenieren, wozu die BRD dann mit der einseitigen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens, gefolgt von Österreich und dem Vatikan, den Weg frei machte. [91] Ins Werk setzte das der damalige bundesdeutsche Außenminister der Liberalen, Hans-Dietrich Genscher.

Dass es an der Spitze der EU um einen neuen Ritt nach Osten geht, verdeutlichte 2003 der Vorsitzende der Heinrich-Böll-Stiftung [92], Ralf Fücks, als er zur Rolle der BRD im Kaukasus sagte: Die Region dürfe "nicht den Großmachtspielen Russlands und der USA überlassen" werden. [93] Der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende, Gernot Erler, ergänzte, es gehe "vor dem Hintergrund der wachsenden wirtschaftlichen Bedeutung der Region" um "die Ausarbeitung einer langfristig angelegten politischen Strategie" der "Anbindung der kaukasischen Staaten an Europa". In einer Denkschrift der SPD-Grundwertekommission wurde dieser "wirtschaftliche und politische Großraum" als Hinterhof bis nach Zentralasien im Osten und dem Nahen Osten im Süden bezeichnet, in dem die "großen westlichen Nationen" wegkommen müssten von einer instabilen Ordnung unter US-Führung und statt dessen eigene Machtmittel zur Durchsetzung einer "globalen politischen Ordnung" entwickeln müssten. Und zur Rolle Deutschlands nochmals zitiert, es habe "ein legitimes eigenes Interesse an seiner dauerhaften und festen Einbindung in einen wirtschaftlich und politisch leistungsfähigen Großraum, der anderen Weltregionen vergleichbar ist". Deutschland müsse "als größter und wirtschaftlich stärkster Staat in Europa" für ein Europa eintreten, das in der Lage sei, sich "gegen äußere wirtschaftliche, politische und gegebenenfalls auch militärische Pressionen zu wehren". [94]

Der Politologe Dr. Uwe Halbach, wissenschaftlicher Experte des Instituts für internationale Politik und Sicherheit und dessen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), einer der wichtigsten "Denkfabriken" der deutschen Außenpolitik, betonte, man wolle schließlich selbst Einfluss auf die abtrünnigen Staaten nehmen und diese nicht Russland überlassen. Zumal man mit ihrer Hilfe Russland zugleich schwächen könne. [95] Dem folgenden Kapitel vorweggenommen sei hier erwähnt, auch mit diesem Komplex hat sich die PDS/Die Linke, von üblichen gelegentlichen Einwänden, verbalen Protesten abgesehen, nie grundsätzlich auseinandergesetzt.


Gibt es neue Erkenntnisse bei den Akteuren?

Vorab, das soll sich auf zwei Personen beschränken: Auf - und hier ein kurzes Eingehen - Gregor Gysi und ein ausführlicheres auf Hans Modrow.

Gregor Gysi war bis 1993 Vorsitzender der PDS, von 1990 bis 1998 ihrer Bundestagsgruppe und von 1998 bis 2000 ihrer Bundestagsfraktion, von 2005 bis 2015 Chef der Linksfraktion. 2002 war er fünf Monate Senator für Wirtschaft der Berliner Regierung mit der SPD und einer der Stellvertreter Klaus Wowereits. In dieser Zeit bekannte er sich zur sozialen Marktwirtschaft, nannte den Markt eine "zivilisatorische Errungenschaft" und wandte sich gegen die Verstaatlichung aller Produktionsmittel, die in der DDR keinen besonderen ökonomischen Fortschritt gebracht habe. [96] Wegen der sogenannten "Flugmeilenaffäre", der missbräuchlichen Nutzung des Bonus für Abgeordnete, musste er im August zurückgetreten.


Foto: Uebelhacker [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)]

Gregor Gysi während einer Rede an der Universität Hildesheim im Jahr 1997
Foto: Uebelhacker [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)]


Gregor Gysi: "Ein Schritt nach vorn" - wohin?

Sicher, von Gysi wird einiges hinterfragt, etwas relativiert, 'mal dieser oder jener Fehler eingeräumt, aber am grundsätzlich "richtigen Weg" des "Ankommens" im Kapitalismus wird nicht gerüttelt. Das verriet schon der Titel seines 2001 erschienenen Buches: "Ein Blick zurück. Ein Schritt nach vorn". [97] Darin räumte er zu Jugoslawien zum Beispiel ein, dass es in den USA wie in der BRD Kräfte gab, die am "Zerfall" Jugoslawiens "interessiert waren", aber dass Slobodan Milosevic mit seinem "instrumentalisierenden Nationalismus" unbestreitbar "einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet" habe.

Er kritisiert den Umgang der BRD mit den Eliten im Anschlussgebiet (was für ihn natürlich "deutsch-deutsche Vereinigung" bleibt), um mit einem Rückblick auf den "Elitenwechsel" nach 1945 festzuhalten, in beiden "deutschen Teilstaaten" (!) habe es "Fehlleistungen" beim "Elitenaustausch" und der "Bewältigung der Vergangenheit" gegeben. Dazu greift er die von westdeutscher Seite erhobenen Anschuldigungen auf und vermerkt, dass auch in der DDR der "Umgang mit Nazikriegsverbrechern einer kritischen Analyse" bedürfe. "Bei den sogenannten Waldheimprozessen, in deren Verlauf von der UdSSR übergebene Nazis in Schnellverfahren verurteilt wurden", habe es "erhebliche rechtsstaatliche Defizite" gegeben. Zwar nennt er es dann "mehr als fraglich, wenn die westdeutsche Justiz, die Nazikriegsverbrecher so gut wie nie vor Gericht gebracht hat, nach der deutschen Wiedervereinigung aber den Richterinnen und Richtern der Waldheimprozesse wegen Rechtsbeugung den Prozess machte", aber, wie generell, wird erstmal die "Schuldfrage" auf beide Seiten verteilt. [98] De facto stützt das schließlich auch die von der BRD-Justiz, so vom damaligen Minister Klaus Kinkel, aber auch von Bundespräsident Wolfgang Thierse vertretene Phrase von den 60 Jahren "zweier unterschiedlicher autoritärer Regimes" und damit der Gleichstellung der Regierung der DDR mit der faschistischen Diktatur.


Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F063645-0024 / Wienke, Ulrich / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)]

Klaus Kinkel, ehemaliger Präsident des Bundesnachrichtendienstes, am 28. Juni 1982 in Pullach
Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F063645-0024 / Wienke, Ulrich / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)]

Eine verblüffende Erklärung gab Gysi für die von Kohl betriebene Abwicklung der DDR-Intelligenz, zu der er feststellte, dass sie sich daraus ergeben habe, "dass die BRD aus der DDR existenziell nichts benötigte", um dann zu betonen, das sei (von ihm) "kein moralischer Vorwurf", er "beschreibe hier nur einen Umstand", der, so räumt er ein, "schwerwiegende negative Konsequenzen im Rahmen des Vereinigungsprozesses hatte, und diese wären nur dann wesentlich weniger deutlich in Erscheinung getreten, wenn sich die verantwortlichen westdeutschen Eliten, insbesondere die aus der Politik, bewusst dazu entschlossen hätten, die Wirkung der Tatsache, dass aus der DDR nichts existenziell benötigt wurde, drastisch einzuschränken". Ich will es bei diesen Zitierungen aus dem Juristenkauderwelsch des Anwalts Gysi belassen und nur noch daran erinnern, dass sich unter den aus dem Westen importierten Eliten ranghohe Politiker befanden wie der spätere Ministerpräsident von Sachsen Biedenkopf oder, auf der etwas niederen Ebene, Prof. Wilhelm Krelle, Gründungsdekan des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften an der Humboldt-Universität. Gysi betont "schlussfolgernd", wie wichtig der Kontakt "zu den heutigen Eliten" (also den aus dem Westen importierten, die die Plätze der abgewickelten "Osteliten" einnahmen) sei.

Verwundern konnte höchstens, dass Gysis Buch damals auch im Internet über "CDU-Solidarität.de" zu beziehen war, verbunden mit einem Spendenaufruf nicht für die PDS, sondern die CDU.

2015 rühmte sich Gregor Gysi schließlich, die reibungslose Integration der DDR-Bürger ins politische System der BRD sei seiner Partei und auch ihm persönlich zu verdanken. [99]


Hans Modrow: über "Erfahrungen und Irrtümer"

Wie ging es mit Hans Modrow weiter? Er blieb Ehrenvorsitzender der PDS und wurde nach deren Umwandlung in die Partei Die Linke Vorsitzender ihres Ältestenrates. Von 1990 bis 1994 war er Mitglied des Bundestages, von 1999 bis 2004 EU-Abgeordneter. [100] Gegen das Unheil, das er gegenüber den Bürgern der DDR widerstandslos mit heraufbeschworen hatte, erhob er gelegentlich Einspruch. So wenn er in einem Schreiben an den Bundesverteidigungsminister Volker Rühe im Juli 1997 ersuchte (!), dass "der Verfolgung von Soldaten und Offizieren der Nationalen Volksarmee wie auch anderen Bürgerinnen und Bürgern der DDR, die nach Verfassung und Gesetzen dieses Staates gehandelt haben, ein Ende gesetzt wird." [101] Eine Reaktion gab es nicht. Und Modrow ließ es dabei bewenden.

1998, neun Jahre später, erschien sein bereits erwähntes Buch "Ich wollte ein Neues Deutschland". Gab es Erkenntnisse, Einsichten, dass es nicht so gelaufen war, wie man es sich vorgestellt hatte, kritische Reflexionen? Zunächst fiel auf, dass sich Hans Modrow der Widersprüchlichkeit seiner Darlegungen und des ihnen zugrundeliegenden Subjektivismus wohl bewusst war und er versuchte, vorzubauen. Er bekannte "ein offenbar gestörtes Wahrnehmungsvermögen". Verständnis heischend bemühte er die vertrackte "Härte des Lebens", die darin bestehe, dass "man Erfahrungen sammelt, Irrtümer durchmacht und aus den Erfahrungen und Irrtümern gut herauskommen will. Da gebe man halt nicht gern zu", so Modrow, dass "man frühere Auseinandersetzungen nur halb oder gar nicht führte. Vor allem, wenn sich im Nachhinein auch jene Gefahr verringert, deren scheinbare Größe einen einst abhielt, wirklich mutig zu sein."

Modrow bemühte sich denn auch redlich, aus seinen "Erfahrungen und Irrtümern" gut herauszukommen. Sein "Wahrnehmungsvermögen" zu entstören, gelang ihm dabei allerdings nur sehr bedingt, und das auch nur, wenn er seinen Werdegang in der DDR reflektierte. Sicher, da gehörte er nicht zu denjenigen in seiner Partei, die sich für ihr in der DDR gelebtes Leben und für die Politik, die sie mitgetragen hatten, ständig entschuldigten. Er bekannte sich, wenn auch mit manchem Wenn und Aber, zur DDR und stellte viele ihrer Errungenschaften heraus. So ist ihm die "große Aufbruchsstimmung" Anfang der fünfziger Jahre, "der eingreifende Enthusiasmus jener Tage" als "eine der entscheidenden Empfindungen meines Lebens im Gedächtnis geblieben", schrieb er und fügte hinzu: "Wir sahen uns damals keineswegs als Instrumente einer fremden Politik, sondern als kräftige Subjekte, die von der ganz neuartigen Beherrschbarkeit der gesellschaftlichen Sphäre träumten", die vorhatten, "eine ganz neue, ausbeutungsfreie, kriegsfreie und faschismusabstinente Realität zu schaffen."

Waren es nur Träume? Waren die erreichten Ergebnisse gering zu schätzen? Waren die Bodenreform, die Beseitigung der Herrschaft des Kapitals und damit der Ausbeutung, die antifaschistischen Umwälzungen in allen gesellschaftlichen Bereichen nicht tiefgreifende revolutionäre Veränderungen? Nein, korrigierte Modrow, dessen Sicht jetzt von den reformistischen Positionen der PDS bestimmt wurde. Denn der DDR revolutionäre Umwälzungen zuzugestehen, hätte sie nicht nur vor der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung einschließlich ihrer unter diesem Gesichtspunkt unvermeidlichen Missstände und Gebrechen rehabilitiert, sondern auch ihre Errungenschaften zum Maßstab der Einschätzung und des Handelns der Partei Modrows gemacht. "Was wir Revolution nannten, waren zu wesentlichen Teilen nur die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens, die im Osten konsequent verwirklicht wurden", hieß es, womit der Autor das vorher herausgestellte "kräftige Subjekt" der DDR-Geschichte ganz kräftig abwertete.

Wer den Platz der DDR in der Geschichte der jahrhundertelangen Klassenkämpfe zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, Unterdrückern und Unterdrückten von revolutionären Positionen aus einschätzen will, wird zwangsläufig nicht um die Erkenntnis herumkommen, dass sie trotz aller Defizite die größte Errungenschaft in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und des deutschen Volkes war. Die historische Bedeutung der DDR wird bei all ihren Deformationen und Missbildungen, von denen die bürgerlichen Revolutionen der Vergangenheit in weit schlimmerem Maße heimgesucht wurden, gerade im Nachhinein, nach ihrer Zerschlagung, an den Versuchen deutlich, alles, was sie hervorgebracht hatte, auszurotten und aus dem Gedächtnis der Menschen zu tilgen.

Solche Er- und Bekenntnisse suchte man bei Modrow vergebens. Bei vielen richtigen und kritischen Anmerkungen zu Demokratiedefiziten und Entartungen der ersten staatlichen Sozialismusgestaltung auf deutschem Boden, auch als Frühsozialismus eingeschätzt, fehlte eine Antwort auf die oft gestellte Frage, wie viel anders diese DDR denn unter den Bedingungen der erbitterten kalten Kriegsauseinandersetzung, der Abhängigkeit von der ökonomisch schwachen UdSSR und angesichts des übermächtigen westdeutschen Gegners hätte aussehen können?

Bedeutend problematischer wurde es, wenn Modrow dann seine Haltung und sein Handeln im Herbst 1989 als Bezirkssekretär in Dresden und danach vom November 1989 bis März 1990 als Ministerpräsident zu erklären und zu rechtfertigen suchte. Er versuchte, den Eindruck zu vermitteln: So lief es ab, "es hätte gar nicht anders kommen können".

Anzufügen wäre noch, dass Modrow nun nicht etwa korrigierte, den konterrevolutionären Ambitionen von "Runden Tisch"-Vertretern nicht Einhalt geboten zu haben, sondern "selbstkritisch" festhält, sich dem "Druck des Runden Tisches" erst "relativ spät" gebeugt zu haben. Ein früheres Nachgeben hätte ihm, so spekulierte er, "von bestimmter oppositioneller Seite", wenn auch nur kurzzeitig, wie er einräumt, "Kredit an Vertrauen" eingebracht.

Wenn Modrow dann das "Ausmaß an Verrat" beklagt, den Führungsoffiziere der HVA begingen, dann fehlt jedes Eingehen darauf, wie er sein Verhalten, das die DDR schutzlos den Geheimdiensten der BRD und USA auslieferte, einschätzt. Statt dessen feierte er den Bericht des "Runden Tisches" über die von diesem durchgesetzte, von ihm danach angeordnete Auflösung des MfS als "eine Einmaligkeit".

Im Mai 1999 verurteilt Modrow natürlich wie Gysi und die PDS, dass die BRD sich in den Fußstapfen der Hitlerwehrmacht am Angriffskrieg gegen Jugoslawien beteiligte. Er konstatierte, dass die Bundeskonferenz der Grünen bei "beachtlichem" Widerspruch das "Kriegskabinett" unterstützt. Dass sich ihnen auch frühere "Bürgerrechtler" aus der DDR, die doch vorgegeben hatten, einen "besseren Sozialismus" zu wollen, angeschlossen hatten, kam ihm nicht in den Sinn. Stattdessen verteidigte er die "Vision" der PDS "für Europa" und ihr "Ja zur europäischen Integration" und vergaß dabei völlig, dass dieses Europa gerade den Aggressionskrieg führte, den er vorher verurteilt hatte. Dann schwafelte Modrow munter, diese PDS wolle, dass diese EU ein "sozial gerechtes, demokratisches und umweltbewahrendes Europa" wird. "Wir wollen einen Kontinent freundlich verbundener Völker und gleichberechtigter Staaten", schwadronierte er weiter. Kein Wort zur Verurteilung, dass Jugoslawien, wo die Völker Jahrzehnte friedlich in einem Bundesstaat zusammenlebten, mit Bomben zerschlagen, der Nationalismus geschürt und diese Völker nach dem alten imperialistischen "Teile- und herrsche"-Grundsatz aufeinandergehetzt wurden. [102]

Auch ein halbes Jahr später - die Ereignisse von 1989 lagen zehn Jahre zurück - waren keine selbstkritischen Reflexionen zu erkennen. Im Gegenteil, er sah sich "nicht als gescheitert". In seiner durch Vertreter des "Runden Tisches" erweiterten "Regierung der Nationalen Verantwortung" hätten sich alle Minister redlich darum bemüht, "die Demokratie von unten mit der Demokratie von oben zu verbinden". [103] Er verstieg sich zu der Aussage, "in der ganzen Geschichte der DDR hat es keine Phase gegeben, in der so viele demokratische Gesetze beschlossen wurden". Da kann man nur den Kopf schütteln. Auch wenn Modrow mit der Frage, dass die Zeit vielleicht nicht genügend genutzt wurde, "um den Ungerechtigkeiten der staatlichen Vereinigung [104] vorzubeugen", versuchte, das einzuschränken, blieb das eine an jeder Realität vorbeigehende Selbstüberschätzung.

Dann machte er sich noch zum Fürsprecher der Osterweiterung der EU, bei der es "um den künftigen politischen Einfluss [105] in einem größer werdenden Europa" gehe. Dass dieses Europa kommt, war "für ihn ausgemacht" und er nahm es ebenso an, wie er 1990 die "deutsche Einheit" hingenommen hatte. Er hatte folglich auch nicht vor, etwas dagegen zu unternehmen. Es blieb bei seinem frommen Wunsch zu helfen, dass diese Vereinigung in erster Linie im Interesse der Völker und nicht der Profite einer immer kleineren Zahl von nur auf "Shareholder Value" fixierten "Global Players" ist. [106] Es war das typische Lavieren eines Sozialdemokraten mit linkem Outfit, der auf diesen Positionen die Interessen des Kapitals vertritt, was Modrow sicher so nicht wollte, es aber so war.


Lenin zum Opportunismus

Wo liegen die Ursachen für diese Denk- und Verhaltensweisen? Eine dürfte bei Modrow wie Gysi und anderen auch - wenn auch mit unterschiedlichen Wirkungen - darin bestehen, dass er mit seinen Diäten, die er als Bundestagsmitglied wie Abgeordneter der EU jahrelang einsteckte, zwangsläufig zur "bevorrechteten Arbeiteraristokratie" gehörte. Er wurde damit, ob er sich dessen bewusst war, soll hier dahingestellt bleiben, Träger eines bestimmten gesellschaftlichen Bewusstseins, das, wie Lenin es vor über 100 Jahren charakterisierte und wie die Haltung der sogenannten "Reformer" einst in der PDS, heute in der Partei Die Linke es nachhaltig beweist, noch voll gültig zutrifft. Dass es nämlich in den Kompromiss mit der Bourgeoisie mündet, in charakteristische Momente wie: "Zusammenarbeit der Klassen, (...) Verzicht auf die revolutionäre Aktion, rücksichtslose Anerkennung der bürgerlichen Legalität, Mißtrauen dem Proletariat, Vertrauen der Bourgeoisie gegenüber". [107]

Wie Lenin darlegte, ist der "Reformismus" die Taktik der Opportunisten. Reformen sind aber kein Selbstzweck. Der Kampf um sie dient der Erhöhung des Organisationsgrades der Klasse, um den "Kampf gegen die Lohnsklaverei noch hartnäckiger fortzusetzen". [108] Der Reformismus dagegen, so auch der 1989/90 und weiterhin bis heute von den "Reformern" betriebene, verkauft die Reformen als Verbesserung des Lebens im Kapitalismus. [109] Er ist das Mittel, "die Arbeiter mit Hilfe von Almosen zu spalten, sie zu täuschen, vom Klassenkampf abzulenken". Davon ausgehend ist die Partei "Die Linke" von ihrer von der Führung bestimmten Programmatik, wenn man es auf den Punkt bringt, eine opportunistische Partei, die proimperialistische Positionen vertritt bzw. zum Ausdruck bringt. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass Krisen des Kapitals, Ausbeutung und soziale Ungerechtigkeiten thematisiert werden und davon die Rede ist, dass die Arbeiter "ihre Einkommen, Arbeitsbedingungen und ihre soziale Absicherung durch betriebliche, tarifliche und gesetzliche Regelungen (verbessern), um so die kapitalistische Herrschaft und Ausbeutung" zu beschränken [110], wohlgemerkt, nicht zu überwinden.


Doch nun Korrekturen

30 Jahre nach dem Untergang der DDR, der unter seiner Regierung einsetzte, reflektiert Hans Modrow Fragen nach seiner Sicht auf die zurückliegende Entwicklung und korrigiert Aspekte seiner bisherigen Positionen. Interessant ist, dass das mit Blick auf Kuba geschieht. [111] Da spiegelt sich nun wider, dass er unter nicht wenigen Gesichtspunkten doch in der DDR verwurzelt bleibt und davon manches hängen geblieben ist. Zu Kuba hatte er in DDR-Zeiten schon ein enges Verhältnis und bezog, davon ausgehend, auch nach 1989/90 immer antiimperialistische Positionen und bezeugte ihm Solidarität. [112] Zu den progressiven Positionen, die in der PDS bewahrt wurden, gehörte 1991 die Gründung der Arbeitsgemeinschaft "Cuba Si", die u. a. die Spendenkampagne "Milch für Kubas Kinder" startete. "Manches von dem, was wir in der DDR - natürlich mit ganz anderen Möglichkeiten - an praktischer Solidarität mit den Menschen und dem revolutionären Prozess in Kuba begonnen haben, wird heute von engagierten Aktivisten (des Netzwerkes Kuba) weitergeführt", hebt Modrow hervor. Das persönliche Engagement Modrows in der Fortsetzung dieser Solidarität würdigte Kuba im Februar 2019 mit der Verleihung des "Orden der Solidarität der Republik Kuba" an Modrow.


Foto: Alberto Korda [Public domain] via Wikimedia Commons

Fidel Castro, hier 1961 mit Che Guevara in Havanna, warnte frühzeitig vor Gorbatschows Perestroika
Foto: Alberto Korda [Public domain] via Wikimedia Commons

Herauszustellen ist, dass Modrow frühere Einschätzungen zu Gorbatschows Perestroika-Kurs und -Reformen korrigiert und erklärt: "Nach dem, was mir heute bekannt ist, bin ich mit nichts von dem einverstanden, was Gorbatschow in die Wege geleitet hat. Denn alles war von Anfang an auf Täuschung angelegt. Er selbst hat Ende der 1990er Jahre erklärt, dass es immer sein Ziel gewesen sei, mit der Perestroika den Sozialismus zu vernichten. Dies zeigt die Absicht des Verrats und die Charakterlosigkeit Gorbatschows." Und er hält fest, dass Castro (im Gegensatz zur DDR und auch seiner Regierung, was nicht erwähnt wird) diese Zielstellung Gorbatschows frühzeitig erkannte und schon im Juli 1988 die Perestroika als "gefährlich" und den "Prinzipien des Sozialismus entgegengesetzt" einschätzte und dass seine "Analyse ihn und die kubanische Partei davor bewahrt haben, Schritte zu unternehmen, die für Kuba hätten gefährlich werden können". [113]

Modrow geht auf viele Faktoren ein, die Grundlage des Überlebens Kubas in der Auseinandersetzung mit dem Imperialismus nicht erst nach dem Untergang der UdSSR und des Ostblocks waren. Dabei klammert er in seinem Gespräch mit Hermsdorf zwei entscheidende Frage aus: Die Sicherung der führenden Rolle der kommunistischen Partei und wie diese, mit Castro beginnend, immer dem Volk die Wahrheit über alle Probleme, aufgezwungene soziale Härten und drohende Gefahren und wie man ihnen begegnen musste, sagte. Beide Fragen berühren, dass Modrow sich dann auch dazu äußern müsste, wie er dazu in der "Wende"-Zeit als Ehrenvorsitzender seiner Partei (der PDS) und Regierungschef handelte. Der DDR-Bevölkerung wurde in dieser Zeit eine "revolutionäre Umgestaltung" vorgegaukelt. Sie wurde über die beim Anschluss an die BRD drohenden sozialen Auswirkungen im Grunde genommen im Unklaren gelassen. Die Macht wurde mit dem Oppositionsgremium des Runden Tisches geteilt, die SED in eine sozialdemokratisch orientierte - wie von Gregor Gysi offen erklärt - nichtkommunistische Linkspartei umgewandelt, jede Zusammenarbeit mit der DKP abgelehnt, das MfS den Medien "zum Fraß vorgeworfen", die bewaffneten Kräfte wurden jeder Aktionsfähigkeit beraubt.

Damit sollen die generell positiven Gesichtspunkte der Darlegungen Modrows nicht in den Hintergrund gestellt werden. Er greift die Einschätzung des westdeutschen Publizisten Paul Sethe von 1965 auf, dass Pressefreiheit in den kapitalistischen Ländern "die Freiheit von 200 reichen Leuten ist", fügt hinzu, dass das heute "viel schlimmer" ist und verweist auf die mediale Legitimierung der NATO-Kriege gegen Jugoslawien. Fühlt sich dabei aber doch bemüßigt, wieder einzublenden, dass es "Angepaßtheit und Uniformiertheit in der Berichterstattung" auch in der DDR lange Zeit gab. Sicher, das ist richtig, aber da diente es nun nicht der "Vorbereitung und Rechtfertigung militärischer Einsätze und Kriege".

Er vermerkt kritisch, dass der Beitritt der DDR zur BRD auf der Grundlage des GG als eines "Provisoriums", das keine Verfassung war, erfolgte, während in der DDR 1964 eine Verfassung, die vorher "in tausenden Versammlungen" diskutiert wurde, angenommen wurde. Es soll dahin gestellt bleiben, ob es illusorisch ist anzunehmen, in der BRD könnte heute, wie Modrow andenkt, "eine Verfassungsdebatte" angestoßen werden und ob sich in einem solchen Prozess zeigen würde, "wie demokratisch diese Bundesrepublik wirklich ist". Eine Seite später kommt er der Sache schon näher, wenn er festhält, dass es in dieser Bundesrepublik "unvorstellbar" (ist), dass "die Belegschaften der Betriebe sich an gesellschaftlichen Debatten beteiligen dürfen, obwohl sie davon betroffen sind".

Er vergisst hinzufügen, dass das in den Volkseigenen Betrieben (VEB) der DDR gang und gäbe war, enthüllt aber, dass es nach der "Wende" eine hemmungslose Zunahme sozialer Ausbeutung und Unterdrückung in Westdeutschland gab, dass es diese Erscheinungen, solange die DDR bestand, "nicht gab", und die Gewerkschaften im Westen in ihren Auseinandersetzungen mit den Unternehmern verdeckt oder offen auf soziale Standards in der DDR verweisen konnten, was "häufig nicht ohne Wirkung geblieben" sei, und dass die DDR mit ihren "sozialen Leistungen" auch "in das Bundesgebiet" wirkte. "Welche Urteile es auch immer über den realen Sozialismus gibt, er hat den brutalsten Formen kapitalistischer Ausbeutung Grenzen gesetzt - und das gilt nicht nur für das Verhältnis der beiden deutschen Staaten", so Modrow weiter, der fortfährt: "Die schon von Marx gestellte Frage nach Platz und Rolle des Eigentums war und bleibt die Kernfrage gesellschaftlicher Entwicklung. Eine soziale und gerechte Gesellschaft braucht ein gesellschaftliches Eigentum, auf dessen Grundlage soziale Gerechtigkeit gestaltbar ist." Und er kontert auch, "notwendig ist zunächst eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse und dann steht die Frage ihrer Kontrolle an". Das ist schon eine grundsätzliche Abkehr von opportunistischen Positionen, wie sie Gysi und seine Anhänger vertreten.

Modrow geht auf brennende Fragen der vom Imperialismus geschürten Kriegsgefahr ein. Er konstatiert, dass es "die zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion - zwischen NATO und Warschauer Vertrag - überschaubar geteilte Welt" heute "so nicht mehr" gibt. Dass die angefügte Wertung, dass die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Länder besonders an dem von den USA angezettelten Wettrüsten "wirtschaftlich zerbrochen sind", von anderen Ursachen ablenkt, soll hier dahin gestellt bleiben. Er enthüllt das Weltherrschaftsstreben der USA und das der die EU dominierenden BRD, so am Beispiel der Haltung gegenüber Rußland und der Einflussnahme auf die Entwicklung in der Ukraine, wo "der Faschismus zum ersten Mal seit 1945 in Europa ganz offen wieder als Option in Erscheinung getreten" ist und "das Rußlandfeindbild neue Impulse" erhält. Er bejaht nicht nur die Gefahr der zunehmenden "Aggressivität des Imperialismus, über 100 Jahre nach Beginn des ersten und rund 75 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges", sondern befürchtet "ihren Ausbruch". Richtig vermerkt Modrow, dass bei der Hervorhebung der Rolle Russlands seit dem Amtsantritt Putins bei der Zurückdrängung des Einflusses der USA dessen Bestrebungen "nicht auf eine Stärkung der Linksentwicklung" gerichtet sind.

Ausführlich befasst sich Modrow mit der Frage, wird sich Kuba mit den vielfältigen Maßnahmen bis zum klug und rechtzeitig eingeleiteten Generationswechsel in der Führung gegen den Aggressionskurs der USA behaupten? Dabei fällt wie schon erwähnt auf, dass er mit keinem Wort darauf eingeht, dass der entscheidende Faktor ist und bleibt, die führende Rolle der kommunistischen Partei in diesem Prozess zu sichern. Dasselbe trifft auf China wie auch Vietnam zu.

Summa summarum kann man am Ende dieser Recherche nur begrüßen, dass Hans Modrow diesen Weg des Nachdenkens und Korrigierens einschlägt und wünschen, dass er ihn weiter geht und damit dazu beiträgt, dass dem in seiner Partei vorherrschenden Rechtskurs Einhalt geboten wird und die Linken Auftrieb erhalten.


Fußnoten:

[88] Veranstaltet von der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände, der Führung der Hardthöhe und der rechtsaußen angesiedelten Clausewitz-Gesellschaft.

[89] Tobias Pflüger: Generalstab in Aktion. "jW", 12. Jan. 2002.

[90] Arnold Schölzel: Das Schweigekartell. Fragen & Widersprüche zum 11. September. Berlin 2002. Weiter: James H. Hatfield: Das Bush-Imperium, Bremen 2002; Jean-Charles Brisard/Guillaume Dasquié: Die verbotene Wahrheit. Zürich/München 2002; Wolfgang F. Haug (Hg.): Angriff auf die Freiheit?, Grafenau 2001; Ekkehard Sauermann: Neue Weltkriegsordnung, Bremen 2002; Ronald Thoden (Hg.): Terror und Staat. Der 11. September, Berlin 2004.

[91] Ulrich Sander: Die Macht im Hintergrund. Papyrossa Verlag 2004, S. 114.

[92] Die Heinrich-Böll-Stiftung ist die Parteistiftung von Bündnis 90-Die Grünen. Der hier wiedergegebene Standpunkt beweist die feste Integrierung der Partei, von der Vertreter an der konterrevolutionären "Wende" in der DDR mitwirkten, in die weltweite Expansionspolitik der BRD.

[93] Anton Latzo: Die Anziehungskraft des Schwarzen Meeres. "jW", 11. Febr. 2004.

[94] Latzo, a. a. O.

[95] Uwe Halbach: Der Kaukasus in neuem Licht, SWP-Studie, Berlin Nr. 11/2005.

[96] "Der Spiegel", 10. Januar 2002.

[97] Gregor Gysi: Ein Blick zurück, Ein Schritt nach vorn. Hamburg 2001.

[98] Siehe unter "Die Toten der friedlichen Revolution", wie diese Unterstellung - die sich als haltlos erwies - den früheren Richter in den Waldheimer Prozessen Otto Fuchs und seine von den Nazis verfolgte jüdische Frau in den Tod trieb.

[99] "Junge Welt", 30. Dezember 2015.

[100] Hans Modrow: Von Schwerin bis Strasbourg. Edition ost, Berlin 2001.

[101] "Verfolgung von Angehörigen der NVA beenden", "ND", 23. Juli 1997.

[102] "Unsere Zeit", Gespräch mit Hans Modrow, 28. Mai 1999.

[103] Lassen wir dahin gestellt, was darunter zu verstehen sein soll.

[104] Selbst in diesem Satz wird schon wieder die Wahrheit verdreht, denn es war, selbst nach dem Grundgesetz, keine Vereinigung, sondern ein Anschluss (Beitritt).

[105] Den Einfluss von wem, wäre zu fragen, und in wessen Interesse Modrow hier spricht. Siehe dazu die folgenden Aussagen Lenins zum Opportunismus.

[106] Hans Modrow: "Demokratie von unten und oben verbinden", Neues Deutschland, 17. November 1999.

[107] "Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale, Lenin, Werke, Bd. 22, S. 111.

[108] Und es geht hier um keine Theoretisierung, sondern ins Konkrete übertragen ging es 1989/90 darum, zu verhindern, dass die arbeitenden Menschen der DDR kampflos dem Joch der "Lohnsklaverei" ausgeliefert wurden.

[109] "Marxismus und Reformismus", LW, Bd. 19, S. 363.

[110] www.die-linke.de/partei/grundsatzdokumente/programm

[111] Nachzulesen in dem bereits angeführten Buch Volker Hermsdorfs.

[112] Ich will hier nicht beckmessern, aber es ist schon so, dass Positionen der Solidarität mit dem Volk Kubas, das seine sozialistische Ordnung gegen die Angriffe der USA verteidigt, kein Internationalismus sind und er auch, wie ich das im Weiteren darlege, einem klaren Bekenntnis zur führenden Rolle der KP Kubas ausweicht. Das wird auch in der Führung Kubas, für die die Solidarität Modrows eine wertvolle Hilfe war und ist, so gesehen, wie mir der bereits erwähnte Heinz Hammer mehrfach sagte.

[113] Eine solche Sicht hatte Modrow 1989/90 eben gefehlt, wurde ihm wohl mehr durch den Einfluss, den Gregor Gysi ausübte, verwehrt. Wie bereits angeführt (siehe Hans Modrows "Deutschland einig Vaterland"), hatte er Gorbatschow noch 1991 nicht durchschaut und das Verhältnis zu ihm als "ein herzliches persönliches" bezeichnet, ein "konstruktives Arbeitsklima" gelobt und ihn als einen Menschen gesehen, der "in großen Maßstäben" denkt, der ein "sehr komplexes Denken hat".

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Quelle:
© 2020 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2020

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