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BERICHT/073: Hegels Unvernunft - Philosophie an der Universität von Nairobi (afrikapost)


afrikapost Heft 4/09 - Dezember
Deutsche Afrika Stiftung e.V.

Kenia: Philosophie an der Universität von Nairobi
Hegels Unvernunft

Von Sabine Bretz


Dr. Francis Owakah ist ein viel beschäftigter Mann. Er lehrt Philosophie an der Universität von Nairobi und an verschiedenen theologischen Hochschulen der geschäftigen Hauptstadt Kenias. Es ist acht Uhr morgens, in zwei Stunden trifft der 46-Jährige die Mitherausgeber des einst international berühmten Philosophie-Journals Thought and Practice, an dessen Wiederbelebung sie gerade arbeiten, danach hält er ein Logik-Seminar. Owakah muss noch einige Beiträge redigieren, nächste Woche soll das Heft fertig sein. Er steht merklich unter Zeitdruck. Nun spricht er schnell, als hoffe er damit Zeit zu gewinnen. Gespannt auf die Fragen ist er aber doch, journalistischem Interesse an Philosophie in Afrika begegnet er selten.

Philosophie-Dozent Dr. Francis Owakah - © Foto: Sabine Bretz

Philosophie-Dozent Dr. Francis Owakah
© Foto: Sabine Bretz

Wolle man die Anfänge von Philosophie auf dem afrikanischen Kontinent als universitäres Fach verstehen, so müsse dies im geschichtlichen Kontext passieren, so der kenianische Denker. In Nairobi wird Philosophie seit 1969 gelehrt, dem Gründungsjahr der Hochschule. "Damals handelte es sich eher um eine Vermischung von, Religion, Kultur und Philosophie," erklärt er. "Die vom Westen über Jahrhunderte konstruierten Bilder von Afrika und seinen Menschen haben zu dieser Verwirrung geführt. Doch es gibt nichts Exotisches an Philosophie in Afrika." Philosophie sei eine Wissenschaft mit einer bestimmten Methodik und Fragestellungen. "Das ist in Afrika nicht anders, als zum Beispiel in Deutschland," sagt Owakah.

Der Philosoph wuchs im Westen Kenias, in der Nähe des Viktoriasees auf, wo die Mehrheit der Leute vom Fischfang lebt. Als einer der besten seiner Schulklasse qualifizierte sich Owakah für ein staatliches Stipendium und konnte so sein Studium frei wählen. Ein Philosophiestudium schien ihm die sinnvollste Möglichkeit, seinen Wissensdurst zu stillen: "Ich interessierte mich sehr für Ideen und wollte den Dingen auf den Grund gehen," erzählt er. "Meine Eltern waren dagegen. Ihnen wäre es lieber gewesen ich hätte angefangen zu arbeiten. Sie hatten Angst, ich würde mir mit meinem kritischen Geist nur selbst im Wege stehen." Er setzte sich durch. Seit seinem Bachelor und Master in Philosophie, lehrt er als Dozent an der Universität von Nairobi, nunmehr seit über fünfzehn Jahren.

Die Konstruktionen des Westens, von denen Owakah spricht, haben eine lange Tradition. Der Mythos der afrikanischen Andersartigkeit hat in Europa tiefe Wurzeln. Bilder sitzen dementsprechend fest. Der wissenschaftliche Rassismus hatte in Europa seinen Höhepunkt während der Aufklärung. Vernunft wurde zum Maß der Dinge, Völker wurden anhand ihrer angeblichen Fähigkeit zum rationalen Denken hierarchisch geordnet. Der Europäer stand ganz oben, gefolgt von den Asiaten, das Schlusslicht bildeten Afrikaner sowie die indigene Bevölkerung der "Neuen Welt". Ihnen wurde Vernunft gänzlich abgesprochen. Philosophie, eine Disziplin die auf kritischem Denken beruht, ist damit unmöglich. Kant und Hegel waren nur die berühmtesten Vertreter dieser Denkschule.

Philosophie-Student Jeremiah Waweru - © Foto: Sabine Bretz

Philosophie-Student Jeremiah Waweru
© Foto: Sabine Bretz

Der 22-jährige Jeremiah Waweru hat Hegel im vergangenen Jahr gelesen: "Hegel verweigerte Afrikanern die Fähigkeit zur Vernunft und damit auch die Möglichkeit jeglicher Existenz von Philosophie. Das machte mir Dinge bewusst, über die ich ansonsten nicht nachgedacht hätte," sagt der Philosophiestudent. Sein Gesicht verrät, dass es ihm schwer fällt diese absurden Behauptungen jener Zeit über afrikanische Gesellschaften nachzuvollziehen.


"Menschen ohne Kopf"

Während des transatlantischen Sklavenhandels ordnete man Afrikaner eher dem Tierreich zu, so konnte man sie wie Ware behandeln. Mit Einzug des Sozialdarwinismus, in europäische Universitäten gestand man ihnen zu "Menschenkinder" zu sein, mit der Möglichkeit zur Entwicklung. Christliche Missionare nahmen sich selbstlos den gottverlassenen Afrikanern an, um ihnen zu helfen, den Weg zum Herrn und damit zur Zivilisation zu finden. Zusammen mit den Missionaren zogen Händler und Abenteurer gen Afrika und ebneten den Weg für die Kolonisation des Kontinents.

Philosophie-Student William Wamaru - © Foto: Sabine Bretz

Philosophie-Student William Wamaru
© Foto: Sabine Bretz

Für den Philosophie-Student William Wamaru ist die Art und Weise, wie Afrika heute in den internationalen Medien dargestellt wird, ein Kontinuum des kolonial geschaffenen Afrikabildes: "Afrika wird und wurde präsentiert wie ein Mensch ohne Arme oder ohne Kopf. Das mediale Bild von Afrika ist das, der hungernden Kinder und Konflikte. Der Kontinent ohne Regierungen und ohne Moral." Afrikanern könnte dies eigentlich egal sein, denn sie selbst wüssten ja, wer sie sind. Halte man sich jedoch die materiellen Unterschiede beider Welten vor Augen sowie die Ungerechtigkeiten, die sich im Laufe der Geschichte ereigneten, würde einem klar, dass diese konstruierten Bilder reale Auswirkungen haben. "Eigentlich gibt es die Unterschiede doch nur in technologischer Hinsicht und nicht im Intellekt. Das sollte den Menschen bewusst gemacht werden, und auch welche Gründe die Unterschiede haben." sagt William.


Eine "afrikanische Philosophie"?

Nach der Unabhängigkeit gab es relativ schnell an vielen Hochschulen des afrikanischen Kontinents Institute, an denen Philosophie gelehrt wurde. In den wissenschaftlichen Diskursen ging es um die Rechtfertigung und Definition von Philosophie in Afrika. Es entwickelte sich das, was später als Ethnophilosophie bezeichnet wurde. "Sie suchten damals nach etwas Einzigartigem innerhalb von Afrikanischer Philosophie", erklärt Oriare Nyarwath, Mitherausgeber des Philosophie-Journals. "Es war eine Verwechslung von Mythen, Legenden und Kultur mit Philosophie", ergänzt Owakah. Ihren Höhepunkt hatte die Ethnophilosophie zwischen 1960 und 1980. Viele afrikanische Philosophen kämpften seit dem gegen Ethnophilosophie an und entlarvten in ihren Arbeiten die methodischen Schwächen dieser Richtung. Für den Studenten Jeremiah macht die Unterscheidung in westliche und afrikanische Philosophie keinen Sinn: "Für mich gibt es nur Philosophie. Es geht um Ideen, man sieht sie sich an und prüft sie, ob sie gut sind oder nicht. Einige lehnen wir ab, andere übernehmen wir. Das war schon immer so, in Europa und in Afrika."


Mythen dekonstruieren

Nun habe sich die Philosophie in Afrika lange genug mit ihrer eigenen Rehabilitation beschäftigt, so Owakah, sie müsse sich auch anderen Themen zuwenden. "Bis heute leiden beide Seiten unter den psychologischen Folgen der Kolonialzeit. Die Afrikaner unter einem Unterlegenheitskomplex und die Europäer an einem Überlegenheitskomplex", so Oriare Nyarwath. "Philosophie kann destruktive Denkmuster bei vielen Menschen aus Afrika durchbrechen, indem sie das kritische Denken schult", sagt Owakah. Ein Denken, das dazu befähigt die Mythen von Afrika zu dekonstruieren. Damit könne man nicht früh genug anfangen "Philosophie sollte bereits in den Schulen eingeführt werden. Schüler müssen dazu angeregt werden kritische Fragen zu stellen. Nur so kann sich eine kritische Masse entwickeln, die radikale Veränderungen herbeibringen kann", sagt der Philosoph.

Philosophie-Dozent Oriare Nyarwath - © Foto: Sabine Bretz

Philosophie-Dozent Oriare Nyarwath
© Foto: Sabine Bretz

Bei der Anzahl von Philosophie-Studenten an der Universität von Nairobi kann man nicht wirklich von einer Masse sprechen. Im ersten Studienjahr sind es im Schnitt dreißig, bis Ende der 90er Jahre waren es über hundert. Dies habe zu tun mit dem weltweit sinkenden Ansehen von Geisteswissenschaften, bedauert Nyarwarth: "Die Leute glauben, sie hätten keinen Nutzen von einem Philosophie-Studium." Nach zwei Jahren Studium müssen die Studierenden mindestens eines ihrer Fächer abwählen. Im jetzigen dritten Philosophie-Jahrgang sind sie nur noch zu sechst. Einer von ihnen ist William. Er spezialisiert sich in Philosophie und Psychologie und wählte nach zwei Jahren Politikwissenschaften ab. "Ich dachte, wir würden mehr über internationale Beziehungen reden, aber wir bezogen uns kaum auf Dinge, die aktuell sind. Die Kombination meiner beiden übrigen Fächer ist für mich perfekt," so William, der neben seinem Studium als Tourguide arbeitet.


Durch Philosophie zur Gerechtigkeit

Auf Fragen antwortet der 25-Jährige ausführlich, manchmal ausschweifend. Das Zuhören fällt dennoch leicht. "In der Schule wird einem in Kenia die Rolle des Westens nicht bewusst gemacht. Ich denke, es wäre wichtig, Schüler mit einem solchen Wissen auszustatten", erklärt er nachdenklich und fügt hinzu: "Aber dies sollte man in einer Art und Weise tun, die keinen Hass erzeugt. Es geht doch darum, dass wir alle in einer Welt leben und wir alle sollten uns als gleichberechtigter Teil dieser Welt fühlen." Auf Philosophie kam er während seiner Schulzeit: "Meine Schule hatte eine große Bibliothek. Ich interessierte mich sehr für Geschichte, Religion, Literatur und Philosophie und las so viel ich konnte. Dabei wurden mir all die Ungerechtigkeiten bewusst, die im Laufe der Geschichte passiert sind." Er wollte sich für Gerechtigkeit einsetzen. Dies trieb ihn fast in ein Jurastudium. Für William war es wichtig Menschen zu verstehen, nur so könne man ein guter Anwalt sein. "Mir wurde klar, dass ich gerne mit Minderheiten arbeiten würde, denn das sind häufig diejenigen, denen am meisten Ungerechtigkeiten passieren. Als Anwalt geht es eher darum, ein großes Unternehmen vor Gericht zu verteidigen. Das wollte ich nicht."


Philosophie als Diener von Religion

Jeremiah und William sind im gleichen Semester, sie kennen sich gut. Das ist der Vorteil, wenn es nur wenige Studenten gibt. In ihren Seminaren haben sie immer angeregte Diskussionen, da alle sehr vertraut miteinander seien, so Jeremiah. Er entschied sich für Philosophie, weil er gerne einen positiven Einfluss auf das Leben von Menschen hätte. "Mit Ideen kann ich das Leben von Leuten verändern. Dinge haben sich schon immer geändert, weil zuerst die Idee da war", malt er leidenschaftlich aus und wirkt dabei, als wolle er sofort loslegen. Für den gläubigen Katholiken gibt es keinen Widerspruch zwischen Philosophie und Religion: "Wenn Philosophie mir hilft, die tiefsten Wahrheiten über Gott und den Menschen zu verstehen, dann hat sie ihren Sinn erfüllt. Religion und Philosophie gehören zusammen." Philosophie sei für ihn der Diener von Religion.

Das Universitätsgelände in Nairobi, Kenia © Foto: Sabine Bretz


Das Universitätsgelände in Nairobi, Kenia
© Foto: Sabine Bretz

Das Recht auf ein Minimum

Jeremiahs Dozent, Oriare Nyarwath, steht Religion eher kritisch gegenüber. Schon zu Schulzeiten fiel er seinen Lehrern während der Religionsstunden unangenehm durch kritische Fragen auf. Die Widersprüche zwischen dem, was er in der Bibel las, und dem, was er in der Kirche sah, schreckten ihn schon als Kind ab, so Nyarwath. Für das menschliche Leben aber interessierte er sich sehr. Die Entscheidung für ein Philosophie-Studium traf er nach seinem Schulabschluss. Ausschlaggebend war ein Verkehrsunfall, bei dem drei junge Menschen starben, ganz in der Nähe seines Dorfes. "Der Unfall hinterließ in meinem Kopf Spuren. Mir wurde die Leere des menschlichen Lebens bewusst."

Der 45-Jährige hat eine eindringliche Art zu sprechen, man merkt ihm seine Erfahrung als Dozent an. Er spricht sicher, trägt seine Argumente gelassen und auf den Punkt gebracht vor. Gerne lässt er Gesagtes kurz wirken, bevor er weiterspricht, dabei entwischt ihm von Zeit zu Zeit ein zynisches Lachen. Ist ihm etwas besonders wichtig, so wiederholt er dies, dann blitzt Leidenschaft in seinen Augen auf, und er kommt in Fahrt.

Mit dieser Leidenschaft erzählt er von seiner, in diesem Jahr eingereichten Doktorarbeit mit dem Titel "Das Recht des Menschen auf ein Minimum". Darin beschäftigte sich der ledige Denker mit dem Konzept von Freiheit. Freiheit ist für ihn nur dann gegeben, wenn Menschen ihre ökonomischen Bedürfnisse stillen können. Nyarwath fordert eine Überprüfung des Internationalen Rechts: "Wir brauchen eine globale Gerechtigkeit, die untersuchen könnte, wie die Rohstoffe der Welt von allen Weltbürgern verwendet werden könnten. Eine Gerechtigkeit, die nicht die Beziehung von einem Nationalstaat zu einem anderen untersucht, wie es das Internationale Recht tut, sondern die Beziehung von einem Menschen gegenüber einem anderen Menschen."

Dies sei weder Kommunismus, noch Utopie, nimmt er gleich die Kritik vorweg. Ihm gehe es nicht um eine Umverteilung von Reichtum, sondern um eine Garantie fürs Überleben jedes Menschen. "Es ist bewiesen, dass die Welt reich genug ist, um allen Bürgern diese Garantie auf Freiheit gewährleisten zu können". Solange dieses Minimum nicht garantiert werde, seien alle Gespräche über soziale Gerechtigkeit oder Freiheit leere Worte.

Es gehe dabei nicht um Entwicklungshilfe, denn auch dahinter verberge sich der westliche Überlegenheitskomplex. Es gehe auch nicht um Reparationsleistungen, auf die viele ehemalige Kolonien durchaus einen Anspruch hätten, "aber wir wollen uns ja nicht ewig mit der Vergangenheit beschäftigen", sagt Nyarwath. "Wir wollen uns zu einer Welt entwickeln." Es gehe um ein Minimum, das jeder Mensch von einem anderen einfordern könne. "Jeder Mensch weltweit sollte anfangen, über dieses globale Prinzip nachzudenken." Ruhig lehnt sich der Philosoph in seinen mit schwarzem Leder bezogenen Stuhl zurück und lässt das Gesagte wirken.

Das Universitätsgelände in Nairobi, Kenia © Foto: Sabine Bretz Universität von Nairobi, Kenia - © Foto: Sabine Bretz

Universität von Nairobi, Kenia
© Foto: Sabine Bretz

Gedanken hinaus in die Welt tragen

Bis auf ein paar Geräusche, die vom Gang her in Nyarwaths Büro dringen, ist es still. Sein Handy klingelt. Owakah ist dran. Ob sie sich zum Mittagessen treffen könnten, fragt er, es gebe Einiges zu besprechen. Für beide ist es wichtig, dass Philosophie relevant für die Gesellschaft ist. Angewandte Philosophie sei schon immer das gewesen, wofür ihr Institut an der Universität von Nairobi gestanden habe. Dies soll nun wieder verstärkt aus den Klassenräumen zu den Menschen getragen werden - durch die Wiederbelebung des Journals. Darin gehe es um Themen, die für jeden Menschen interessant seien, wie zum Beispiel Freiheit, Gerechtigkeit oder Menschenrechte. Sie ziehen an einem Strang, damit Philosophie aus Kenia wieder mehr gehört wird, in Kenia und in der Welt.


Die Autorin Sabine Bretz studiert Ethnologie, Sozialanthropologie, Afrikawissenschaften und Journalistik in Berlin und Leipzig. 2008 forschte sie in Tansania zum Thema HIV/Aids und den sozioökonomischen und strukturellen Gründen für die Ausbreitung der Epidemie.
E-Mail: www.sabinebretz.com


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Quelle:
afrikapost Heft 4/09 - Dezember, Seite 60-63
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Januar 2010