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FORSCHUNG/016: Interdisziplinarität, ein fruchtbares Konzept (attempto! - Uni Tübingen)


attempto! - Mai 2011 - Forum der Universität Tübingen

Nach wie vor ein fruchtbares Konzept
Sie wird oft gefordert, aber selten betrieben, ihre Möglichkeiten sind begrenzt und sie ist nicht immer wünschenswert: Was kann die vielbeschworene Interdisziplinarität tatsächlich leisten?

Von Thomas Sukopp


Wer in Zeiten von Forschungsclustern, Synergieeffekthascherei und ernsthaften interdisziplinären Anstrengungen fragt, ob Interdisziplinarität immer gut ist, ob sie enge Grenzen hat oder schlicht überschätzt wird, wird nicht mit der Zustimmung der meisten Fachkollegen rechnen können. Ich gehe ohne weitere Begründung davon aus, dass a) Interdisziplinarität oft gefordert, aber selten betrieben wird, b) dass im Falle interdisziplinärer Zusammenarbeit dieser Kooperation durchaus enge Grenzen gesetzt sind, und c) dass Interdisziplinarität ganz und gar nicht immer wünschenswert beziehungsweise notwendig ist.

Analog zur Terminologie des Wissenschaftstheoretikers Jürgen Mittelstraß können wir im wesentlichen theoretische, praktische und methodische Interdisziplinarität voneinander unterscheiden: Theoretische Interdisziplinarität meint eine Kooperation aufgrund ähnlicher theoretischer Entitäten in verschiedenen Disziplinen beziehungsweise Strukturgleichheit in Disziplinen. Paradigmen wie "Evolution", "Katalyse" oder "Information" werden disziplinen- und theorieübergreifend verwendet (Evolution in der Biologie, Ökonomie oder in vielen Gebieten der Philosophie et cetera).

Praktische Interdisziplinarität spiegelt sich auch in der Praxis der Interdisziplinarität, etwa bei neuen Forschungszentren wie dem "Center for Imaging and Mesoscale Structures" oder dem "Center for Genomics and Proteomics" (beide an der Harvard University in Cambridge, USA) wider. Hier stehen Fragestellungen im Vordergrund, bei denen es wenig sinnvoll ist, sie einem bestimmten Fach oder einer bestimmten Disziplin zuzuordnen. Es geht um Strukturen, bei Erstgenanntem etwa um Phänomene einer bestimmten Größenordnung mit all ihren Facetten, nicht um disziplinäre Gegenstände, wie auch Jürgen Mittelstraß feststellt.

Methodische Interdisziplinarität meint zunächst nicht mehr als eine disziplinenübergreifende methodische Kontinuität oder Übereinstimmung, so dass, etwa aufgrund gemeinsam genutzter experimenteller Einrichtungen, ähnlicher oder gleicher Methoden der Planung, Durchführung oder Auswertung von Experimenten, interdisziplinäre Zusammenarbeit gefördert wird. Beispielsweise nutzen Onkologen, Populationsökologen und Versicherungsmathematiker zur Berechnung von Wachstumsprozessen ähnliche oder gleiche mathematische Modelle zur Prozess-Simulation, die wiederum von Informatikern operationalisiert werden.

Dass Transdisziplinarität eine Erweiterung von Interdisziplinarität beziehungsweise die eigentlich bessere Interdisziplinarität darstellt, ist eine weit verbreitete Auffassung. Sie kann etwa dadurch gerechtfertigt werden, dass man Interdisziplinarität von Transdisziplinarität wie folgt unterscheidet: "Die Unterscheidungsmerkmale des Transdisziplinaritätsbegriffs gegenüber dem der Interdisziplinarität bestehen demnach zum ersten in der Dauerhaftigkeit der Kooperation, zum zweiten in der Transformation disziplinärer Orientierungen und zum dritten in der Beschäftigung mit außerwissenschaftlichen Problemen. Während sich der Aspekt der Dauerhaftigkeit auch in einigen Interdisziplinaritätskonzepten findet, verweisen der zweite und dritte Punkt auf die über das 'inter' hinausgehenden 'trans'-Merkmale. Überschritten oder auch partiell aufgelöst werden dabei sowohl die Grenzen zwischen Disziplinen als auch die Grenzen zwischen Wissenschaft und 'Außenwelt'. Bezüglich Ersterem spricht Jürgen Mittelstraß auch explizit von der Überwindung historisch gewachsener Grenzen 'zugunsten einer Erweiterung wissenschaftlicher Wahrnehmungsfähigkeiten und Problemlösungskompetenzen', die die ursprüngliche Idee einer Einheit der Wissenschaft wieder erkennbar werden lässt." (Michael Jungert)

Dass gelingende Interdisziplinarität gut ist, mag trivial klingen. Die Bedingungen für gelingende Interdisziplinarität sind vielfältig. Die Messlatte für interdisziplinäre Zusammenarbeit mag vielleicht doch nicht so hoch liegen, wie die eingangs genannten Thesen nahelegen. Das macht etwa die Einschätzung von Jürgen Mittelstraß deutlich. Interdisziplinarität ist danach weder neu noch originell, allerdings auch nicht die normale Form wissenschaftlicher Forschung. Fächer und Disziplinen sind historisch gewachsen. Disziplinen lassen sich zudem von methodischen und theoretischen Vorstellungen leiten, die sich keiner Disziplin fügen, wie etwa Gesetz, Kausalität, Erklärung et cetera. Gegenstände allein definieren keine Disziplin, "sondern die Art und Weise, wie wir theoretisch mit ihnen umgehen". Interdisziplinarität ist nichts über den Disziplinen Stehendes, sie behebt "disziplinäre Engführungen" und ist "in Wahrheit Transdisziplinarität" (Mittelstraß).

Nehmen wir an, dass diese Einschätzung grundsätzlich richtig ist, dann lassen sich daraus einige Voraussetzungen für interdisziplinäre Zusammenarbeit ableiten: a) Grundlagenforscher, die an den Grenzen (beziehungsweise über die Grenzen) dessen forschen, was eine theoretische Entität wie "Gesetz" ausmacht, arbeiten eher interdisziplinär zusammen als - nennen wir sie - "die Detailarbeiter", die im Zentrum einer Disziplin arbeiten; b) für viele der experimentell arbeitenden Naturwissenschaftler gilt sicher: Großforschungseinrichtungen sind oft eine notwendige Bedingung für Interdisziplinarität und sie sind eine ihrer Voraussetzungen. Als Beispiele seien die europäische Organisation für Kernforschung in Genf (CERN) oder die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) sowie die Deutsche Gesellschaft für Biotechnologische Forschung (GBF) in Deutschland genannt.

Etwas allgemeiner fasst Heinz Heckhausen eine wichtige Voraussetzung: Wenn wir davon ausgehen, dass Integrationsniveau, Gegenstandsaspekt und materialer Aspekt Disziplinarität bestimmen, dann kann man das Gelingen von Interdisziplinarität so erklären: Wenn verschiedene, aber nahe verwandte Zwillingsdisziplinen wie Vergleichende Verhaltensforschung und Psychologie der Verhaltensentwicklung und Sozialpsychologie zusammenarbeiten, dann treten eben wegen der Ähnlichkeiten einige Schwierigkeiten nicht auf und ein Gelingen der interdisziplinären Zusammenarbeit wird wahrscheinlicher.

Interdisziplinarität ist nach wie vor ein fruchtbares, anspruchsvolles und vielfältiges Konzept, insbesondere, wenn wir zur interdisziplinären Kooperation noch transdisziplinäre Zusammenarbeit hinzuzählen. Werfen wir dazu einen kurzen Blick auf den Exzellenzcluster "Languages of Emotion" der FU Berlin. Dem Internetauftritt ist zu entnehmen, dass "der einseitigen Betonung kognitiver Vorgänge beim Verstehen und Lesen von Sprache die interdisziplinäre, sprach- und kulturvergleichende sowie multimethodale Untersuchung affektiver Prozesse entgegen [gesetzt wird]. Dabei werden diese Prozesse auf verschiedenen Komplexitätsebenen des sprachlichen und nichtsprachlichen Materials (Einzelworte, Sätze, Gedichte, Geschichten, Bilder und Bildgeschichten, Kunstwerke/ Gemälde, Filmszenen) untersucht." Multimethodalität ist durchaus als Element in Interdisziplinarität und Transdisziplinarität zu finden. So spricht wenig gegen die These, dass Interdisziplinarität zwar ein entwicklungs- und revisionsfähiges, aber nach wie vor ein fruchtbares Konzept ist.


Thomas Sukopp
Dr. phil. Thomas Sukopp studierte Chemie, Geschichte und Philosophie. Er forscht und lehrt seit 2009 an der Universität Augsburg und an der TU Braunschweig. Seine Interessenschwerpunkte sind zeitgenössische Erkenntnistheorie, Konzepte und Methoden von Interdisziplinarität sowie Philosophie der Menschenrechte.


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Quelle:
attempto! - Mai 2011, Seite 4-5
Zeitschrift der Eberhard Karls Universität Tübingen und der
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attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2011