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STRÖMUNGEN/026: Völkerverständigung als praktisch-philosophische Herausforderung (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 1/2011

Neue Spielregeln gesucht
Völkerverständigung als praktisch-philosophische Herausforderung

Von Michael Reder


Zum Wintersemester 2010 wurde an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München ein neuer Lehrstuhl für praktische Philosophie mit dem Schwerpunkt Völkerverständigung eingerichtet. Aus philosophischer Sicht und mit den Methoden der praktischen Philosophie sollen Vorurteile zwischen Kulturen abgebaut und Toleranz gefördert werden.


Nikolaus von Kues ist einer der wichtigsten Philosophen an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Er war nicht nur ein bedeutender Philosoph, sondern auch ein Kirchenpolitiker und Mann des interkulturellen Dialogs. Als Kirchenmann war er unter anderem Teilnehmer des Konzils von Basel. Im Jahr 1437 reiste er als päpstlicher Gesandter nach Konstantinopel. Auf dieser Schifffahrt hatte er eine wichtige philosophische Einsicht, die sein gesamtes späteres Schaffen prägte: Beim Blick über das scheinbar unendliche Meer erkennt er die Begrenztheit menschlicher Sprache und Erkenntnis, denn die unendliche Weite des Meeres ist sprachlich nie vollkommen ausdrückbar und trotzdem sprechen Menschen darüber.

Diese Einsicht formulierte er gut vier Jahre später in einem bis heute wirkmächtigen Werk aus, das den Titel trägt: "Über das belehrte Nichtwissen." Menschliche Erkenntnis - so der Kern seiner Überlegungen - ist immer nur eine Annäherung an den Gegenstand und damit begrenzt. Dies zeigt sich ganz besonders bei der Rede über das Unendliche, also Gott. Weil auch und weil gerade jede Erkenntnis über Gott begrenzt ist, spricht Nikolaus von Kues paradoxal über Gott. Er ist das Größte und das Kleinste zugleich, womit er in endlicher Sprache, das ausdrückt, was diese immer schon übersteigt. Es geht ihm deshalb letztlich darum, das Unbegreifliche in wissendem Nichtwissen erkennend zu umfassen. "Je gründlicher wir in dieser Unwissenheit belehrt sind, desto näher kommen wir an die Wahrheit selbst heran" (De docta ignorantia, Hamburg 1994, 15).

Ganz ähnliche Überlegungen finden sich auch in der islamischen Tradition, beispielsweise bei dem mittelalterlichen islamischen Gelehrten Al Ghazzali. Dieser argumentiert, dass alles, was über Gott ausgesagt werden kann, durch die Logik der Sprache selbst bedingt ist. Deshalb betont er die göttliche Offenbarung als zentrale Möglichkeit zur Gotteserkenntnis - allerdings nicht im Sinne einer absoluten Erkenntnis, sondern im Sinne eines Sich-Einlassens auf den "im erhabenen Geheimnis" verborgenen Gott. Diese Schlussfolgerung weist ganz ähnliche Züge zu den cusanischen Überlegungen auf.


Eine Religion in der Verschiedenheit der Riten

Diese philosophische Idee des belehrten Nichtwissens bringt einige wichtige Schlussfolgerungen für das Thema Völkerverständigung mit sich, die sich beispielhaft am Dialog der Religionen zeigen lassen. Nikolaus von Kues hat dies in für heute bemerkenswerter Weise selbst getan, und zwar in der Schrift "Über den Frieden im Glauben". Die Grundidee der verschiedenen Religionen ist - so sein Argument - im Prinzip die gleiche, insofern sie um ein Unendliches oder Absolutes kreisen. Angesichts der Begrenztheit des Sprechens über Gott sind allerdings die Formen, in denen Religionen dies tun, notwendig verschieden und gehen eine Verbindung mit den jeweiligen kulturellen Kontexten ein.

Gebete, Riten und auch Theologien sind deshalb immer kulturell geprägt. Nikolaus von Kues hat diese Einsicht auf eine prägnante Formel gebracht: "religio una in rituum varietate" - eine Religion in der Verschiedenheit der Riten. Gerade die dieser Formel zu Grunde liegende Einsicht in die Grenzen des Nachdenkens über Gott und die Betonung ihrer kulturellen Vielfalt fordern zu einem wechselseitigen Dialog heraus. Deswegen betont Nikolaus von Kues die Notwendigkeit eines Dialogs der Religionen als Beginn von Völkerverständigung, beispielsweise mit dem Islam.

Die heutige Globalisierung weist in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeiten zur Zeit der Renaissance auf, auch wenn sich die globalen Akteure und ihre Vernetzungen natürlich deutlich intensiviert und beschleunigt haben. Die Globalisierung ist dabei ein ambivalentes Phänomen. Sie hat einerseits viele positive Impulse für die Menschen gebracht, andererseits sind mit ihr aber auch viele neue Konflikte und strukturelle Probleme entstanden: Kulturen rücken näher zueinander, wodurch interkultureller Dialog genauso möglich wurde wie Konflikte zwischen Kulturen.

Dabei wird auch die Vielfalt von Religion in einer globalisierten Welt erfahrbarer, wodurch ebenfalls neue Konflikte zwischen den Religionen entstanden sind. Zudem sieht sich die Weltgemeinschaft vielen politischen und ökonomischen Problem gegenüber, wie die Diskussionen über globale Armut oder "gerechten Krieg" zeigen. Seit dem Fall der Mauer beherrscht deshalb eine Frage die wissenschaftliche wie gesellschaftliche Debatte: Wie können sich Menschen trotz aller Unterschiede verständigen und zu einer gemeinsamen Lösung globaler Probleme gelangen? Genau für diese Suche steht der Begriff "Völkerverständigung". Es geht um ein friedliches, faires und kooperatives Zusammenleben der Menschen, Kulturen und Religionen angesichts der Globalisierung.

Der Philosophie wird nicht selten vorgeworfen, sie sei viel zu abstrakt, um zu solchen Fragen Konstruktives beizutragen. Dies ist allerdings eine verkürzte und letztlich haltlose Einschätzung, denn Philosophie bietet ausgezeichnete Möglichkeiten und Methoden zur Analyse und Diskussion globaler Strukturen und Probleme. In Anlehnung an Immanuel Kants Konzept der Aufklärung will die Philosophie dabei nach grundlegenden Bedingungen von Verständigung zu fragen. Es geht um eine Befreiung der Menschen von Begrenzungen, Vorurteilen und blindem Gehorsam gegenüber festgefahrenen Meinungen. Der französische Philosoph Michel Foucault hat dieses Anliegen in eine zeitgemäße Sprache übersetzt: "Philosophie ist eine Bewegung, mit deren Hilfe man sich nicht ohne Anstrengung und Zögern, nicht ohne Träume und Illusionen, von dem freimacht, was für wahr gilt, und nach neuen Spielregeln sucht."

Die Disziplin, in der die Frage nach einem fairen und friedlichen Miteinander am besten gestellt wird, ist die praktische Philosophie. Der Begriff "praktische Philosophie" geht auf Aristoteles zurück und meint all jene Bereiche, in denen es um gesellschaftlich relevantes Handeln geht, das heißt um Ethik, Recht, Staat, Ökonomie oder Kultur. Die praktische Philosophie stellt dabei philosophische Tiefenbohrungen über gesellschaftliche, politische und kulturelle Praktiken mit dem Ziel einer Aufklärung und Emanzipation der Menschen an. Dabei gilt es sich zu distanzieren von eingefahrenen Denkmustern, um einen kritischen Blick zu ermöglichen und nach vernünftigen Maßstäben für das Zusammenleben zu fragen.

Der Philosoph Jacques Derrida hat dies in seinen Überlegungen zur Zukunft der universitären Forschung und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung folgendermaßen formuliert: "Der Intellekt ist Widerstand, wenn er ist. Beharrliches Frei-Sein-Wollen gegenüber den unendlichen komplexen und vielfältigen Mechanismen der gegenwärtigen Gesellschaft."

In dieser Perspektive kann die praktische Philosophie konstruktive Impulse für die Diskussion über Völkerverständigung geben. Sie ist dabei auf den Austausch innerhalb und außerhalb der Philosophie angewiesen, innerhalb zum Beispiel mit den philosophischen Disziplinen, die über Erkenntnis, Kultur und Religion nachdenken. Gleichzeitig ist auch ein Gespräch mit Soziologie oder Politologie notwendig, weil nur so eine umfassende Aufklärung im Sinne einer Verständigung möglich ist.


Praktische Philosophie ermöglicht Tiefenanalyse globaler Transformationen

Die Rolle des Staates hat sich in der globalisierten Welt dramatisch verändert. Er ist heute eingebunden in ein weit gefächertes Netzwerk von globalen Strukturen. Sein Verhältnis zu anderen globalen Akteuren wird deshalb seit einigen Jahren in der Wissenschaft intensiv diskutiert. Dabei wird beispielsweise auf die wichtige Rolle der Zivilgesellschaft hingewiesen, die heute immer mehr in politische Prozesse in Form von Nichtregierungsorganisationen eingebunden wird.

Philosophisch ist angesichts dieser Entwicklungen vor allem nach der Legitimation des Staates und der neuen Akteure zu fragen. In der Entwicklungspolitik wird zum Beispiel seit einigen Jahren intensiv diskutiert, ob Entwicklungshilfe vor allem an Staaten in Form von Budgethilfe gezahlt werden soll, oder ob man besser konkrete Projekte der Zivilgesellschaft fördert. Dahinter steht letztlich die Frage, welche Akteure und politischen Strukturen am besten geeignet sind, globale Probleme (in diesem Fall der Armut) zu lösen.

Ein weiterer Akteur, der in solchen globalen Fragen heute eine immer wichtigere Rolle spielt, ist die Wirtschaft, beispielsweise in Form von transnational agierenden Unternehmen. Dabei wird unter anderem zu Recht vorgeschlagen, solche Unternehmen als globale Bürger mit entsprechenden Rechten und Pflichten zu verstehen. Auch wenn sie nicht demokratisch legitimiert sind, so sind sie in dieser Hinsicht auf alle Fälle ebenfalls Akteure einer globalen Verständigung.

Zur Diskussion solcher Transformationsprozesse kann die praktische Philosophie wichtige Überlegungen beisteuern. Sie ist dabei herausgefordert, überzogene Souveränitätsverständnisse der Staaten kritisch zu diskutieren und nach neuen Formen demokratischer Legitimation zu suchen. Dabei geht es auch um eine Neufassung des demokratischen Selbstverständnisses selbst, wie die aktuellen Debatten zur Integration zeigen. Praktische Philosophie hat die Aufgabe, verlässliche und allgemein akzeptierte demokratische Spielregeln zu begründen, die dennoch Raum für die Vielfalt der Akteure und deren Handeln lassen. Diese politisch-philosophischen Fragen sind ein wichtiges Element globaler Verständigungsprozesse. Es geht angesichts globaler Transformationen dabei ganz besonders um die Suche nach neuen politischen und gesellschaftlichen Strukturen und Instrumenten, die ein friedliches und kooperatives Miteinander der Menschen ermöglichen.

Die praktische Philosophie kann dabei von der interkulturellen Philosophie lernen, dass die Vielfalt von Kulturen eine zentrale Erfahrung der Globalisierung ist. Erst langsam rückt eine solche kulturwissenschaftlich informierte Sicht in den wissenschaftlichen Fokus. Dabei erweisen sich erstens Modelle, die Kulturen als homogene Blöcke interpretieren, die in globalen Konstellationen aufeinanderprallen, als zu undifferenziert. Es geht vielmehr darum, die vielfältigen und sich ständig verändernden kulturellen Geflechte als solche in den Blick zu nehmen. Dies gilt beispielsweise auch für Religionsgemeinschaften, die noch immer häufig als einheitliche Gebilde beschrieben werden, womit ihre faktischen kulturellen Gestalten ausgeblendet werden.

Zweitens ist dabei auf Instrumentalisierungen von kulturellen und religiösen Überzeugungen für politische Zwecke zu achten. Die wechselseitige Überlagerung und teilweise vorherrschende Instrumentalisierung von politischen und kulturell-religiösen Fragen verdient innerhalb des Nachdenkens über Völkerverständigung eine besondere Aufmerksamkeit.


Handlungsorientierung im globalen Kontext

Lange Zeit orientierten sich Ethikentwürfe an nationalstaatlichen Gesellschaften. Seit den achtziger Jahren hat sich dies geändert. Es wird seither immer dezidierter danach gefragt, wie globale Normen begründet werden können. Philosophen wie Jürgen Habermas oder Michael Walzer belegen das. Dabei zeigt sich immer deutlicher eine Grundspannung zwischen kulturellen Werten, die in lokalen Kontexten verankert sind, und universalen Normen auf globaler Ebene. Die Debatte über die Menschenrechte und ihre kulturell unterschiedlichen Auslegungen sind ein Beispiel hierfür. Wie diese Spannung gelöst werden kann, ist bis heute politisch wie philosophisch hoch umstritten.

Philosophen, die in der Tradition Georg W. Hegels stehen, nehmen sich dieser Thematik besonders an. Sie argumentieren, dass die Spannung zwischen den jeweiligen gesellschaftlichen Kontexten (das Besondere) und der Suche nach universalen Normen (das Allgemeine) niemals aufgelöst werden kann. Das Besondere, das heißt die kulturellen Werte und Überzeugungen, sind immer eingebunden in einen größeren Zusammenhang, seien es die nationalstaatlich verfasste Gesellschaft oder die Weltgemeinschaft. In diesen Kontexten suchen Menschen jenseits des Besonderen nach dem Allgemeinen.

Hegel glaubte letztlich noch an eine Versöhnung der Gegensätze. Seine philosophischen Erben betonen dagegen, dass die Frage nach einer Auflösung dieser Spannung schon falsch gestellt ist. Wer zum Beispiel angesichts der Debatte über Integration meint, man könnte eine vollständig einheitliche Gesellschaft herstellen, der irrt, denn aus der skizzierten Spannung kommen Gesellschaften nicht heraus - so gerne sie es manchmal auch würden.

Ziel ist vielmehr, ein neues konstruktives Verhältnis dieser beiden Pole angesichts globaler Probleme und damit ein friedliches und faires Miteinander der Menschen zu finden, in dem die kulturell verankerten Moralvorstellungen nicht außer Acht gelassen werden. Dazu braucht es demokratische Spielregeln, innerhalb derer kulturelle Vielfalt als ein positives Merkmal von Gesellschaften erfahrbar gemacht wird.

Daraus ergeben sich auch einige wichtige Konsequenzen für die praktische Philosophie wie auch die konkrete Politik. Globale Normen können angesichts dieses Spannungsfeldes nämlich (nicht mehr) am Reißbrett entworfen und begründet werden. Vielmehr geht es darum, die Vielfalt moralischer oder politischer Praktiken in interkultureller Perspektive zu analysieren, um zu fragen, was sie für eine Lösung globaler Probleme beitragen können. Philosophisches Nachdenken nimmt dabei den Ausgangspunkt beim konkreten Sozialleben der Menschen und diskutiert, welche Potenziale in den bereits etablierten Praktiken stecken. Hierzu ist ein interdisziplinärer Ansatz unersetzlich. Ansätze, die von Beginn an zu stark die Einheit der Weltgemeinschaft (oder der Kulturen und Religionen) betonen, entfernen sich genau von dieser Basis menschlichen Soziallebens, die gerade in ihrer kulturellen Vielfalt konstruktive Beiträge für das Zusammenleben der Weltgemeinschaft geben kann.

Menschliches Sprechen ist niemals losgelöst vom Handeln, darauf machen Habermas oder Foucault mit ihren ganz unterschiedlichen Ansätzen aufmerksam. Wie Menschen sprechen, ist immer auch eine Handlung. Sind sprachliche Äußerungen konstruktiv und kooperativ formuliert, dann ist dies zum Beispiel eine bestimmte Form des Handelns gegenüber den Mitmenschen. Und diese Form des Sprechens prägt auch die jeweiligen Perspektiven auf und die Erklärung von Welt. Deshalb ist es wichtig, sich Sprache und ihre soziale Funktion genauer anzuschauen. Nur wenn ein überzeugendes Verständnis des Verhältnisses von Sprache und Handeln entwickelt wird, kann auch ein Konzept von Verständigung gefunden werden.


Erkennen und Sprache als Grundlage von Völkerverständigung

Die Analyse der Globalisierung zeigt nun, dass menschliches Sprechen immer verschiedene kulturelle Perspektiven auf Welt impliziert. Jede kulturell-sprachlich bedingte Sichtweise beansprucht dabei für sich, die einzig richtige und der Mittelpunkt der Welt zu sein. Dabei ist wiederum ein Blick auf Nikolaus von Kues und sein Nachdenken über die Reichweite und Grenzen von Sprache hilfreich. Mit ihm lässt sich zeigen, dass all diese Deutungen von Welt notwendig begrenzt sind. Deswegen gibt es auch nicht eine universale Einheitssprache, sondern viele. Die babylonische Sprachenvielfalt ist aber keine Verwirrung in einem negativen Sinne, auch wenn sie manchmal Verständigung erschwert. Die Vielfalt der kulturellen Perspektiven ist vielmehr ein notwendiges und konstruktives Moment der (Welt-)Gesellschaft.

Ein Nachdenken über Sprache und Erkenntnis in globalen Kontexten will diese Begrenzungen ernst nehmen. Es geht um einen detailreichen Blick auf die daraus resultierende Vielfalt kultureller und religiöser Formen. Es gibt beispielsweise nicht nur den Islam, sondern eine Vielfalt kulturell unterschiedlicher Formen des Islam. Mit einer solchen philosophisch informierten Perspektive können Vorurteile abgebaut und offene Begegnungen mit dem Fremden möglich werden. Eine erkenntnistheoretische Vorsicht kann also weitreichende Konsequenzen für die globale Praxis haben. Der Renaissance-Philosoph Michel Montaigne hat in dieser Hinsicht in seinen Essais betont, dass die Einsicht in die Grenzen menschlicher Erkenntnis und Sprache eine überzeugende Strategie im Kampf gegen Fanatismus und im Einsatz für Toleranz sind. Dies ist eine wichtige Einsicht für alle Kulturen und Religionen im globalen Miteinander.


Jesuitische Tradition der Völkerverständigung

Die Jesuiten haben in ihrer Ordensgeschichte von dieser Einsicht Zeugnis abgelegt. Sie sind von Beginn an in andere Regionen der Welt gereist, um dort zuerst einmal die jeweilige Kultur und Religion von innen heraus kennen zu lernen. Die Missionare, die nach Ostasien oder Lateinamerika gefahren sind, sind ein Beispiel hierfür. Sie arbeiteten an Wörterbüchern, Lexika und Grammatiken. So reiste Mitte des 16. Jahrhunderts Matteo Ricci nach China und erstellte dort Landkarten. Nach einigen Jahren durfte er sogar in dem für Ausländer bis dahin unzugänglichen Peking Mathematik und Astronomie unterrichten. Viele Jesuiten folgten ihm als Geographen, Architekten oder Mathematiker.

Jesuiten kam es bei ihren Reisen immer darauf an, die fremden Kulturen zu verstehen. Mit der fremden Kultur wuchs und veränderte sich auch ihr Verständnis des eigenen Glaubens. Ihnen wurde deutlich, wie stark der Ausdruck des Glaubens kulturellen Einflüssen unterliegt. Für sie war klar: Wenn man den Glauben authentisch verkündigen möchte, dann muss man sich ganz in die andere Kultur hineingeben. In diesem Sinne ist auch der Jesuitenstaat in Paraguay des 17. Jahrhunderts zu sehen, in dem Jesuiten und einheimische Indianer zusammenlebten - auch um sie vor kolonialer Ausbeutung zu schützen. Schon damals wurden in dem konkreten Handeln der Missionare also soziale beziehungsweise politische mit kulturellen Aspekten verbunden. Genau die Verbindung dieser verschiedenen Aspekte des Zusammenlebens steht im Kern einer gelungenen Völkerverständigung.

In diesem Sinne wurde zum Wintersemester 2010 an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München ein neuer Lehrstuhl für praktische Philosophie mit dem Schwerpunkt Völkerverständigung eingerichtet. Ziel dieses Lehrstuhles ist es, aus philosophischer Sicht und mit den Methoden der praktischen Philosophie, Vorurteile zwischen Kulturen abzubauen und Toleranz zu fördern. Er wird dies in Forschung, Lehre und öffentlichen Diskursen umsetzen.

Die "Angela und Helmut Six Stiftung" hat diesen Lehrstuhl gestiftet. Auch dies ist eine Form von Völkerverständigung, denn aufgrund vieler praktischer Erfahrungen (vor allem durch Reisen in den arabischen Kulturraum) haben die Stifter sich dieses Thema zum Lebensmotto gemacht. "Dialog ist die Muttersprache der Menschheit" - so fasst Helmut Six das Anliegen pointiert zusammen. Die praktische Philosophie kann hierzu die Möglichkeiten von Völkerverständigung ausleuchten und damit einen wichtigen Impuls für wissenschaftliche wie öffentliche Debatten leisten. Methodisch geht es in dieser Hinsicht vor allem um eine Verbindung von religions- und kulturphilosophischen Fragen mit Ethik und politischer Philosophie.

Politisch betrachtet wird Völkerverständigung dabei immer auch einen utopischen Charakter beibehalten. Derrida hält dies für ein Wesensmerkmal einer kosmopolitischen Demokratie, die ein friedliches und tolerantes Miteinander der Weltgemeinschaft anvisiert. Damit ist eine Vision gemeint, die niemals vollständig realisiert werden kann, gleichzeitig aber etwas ist, auf das ständig neu hingearbeitet werden muss. Die Arbeit an einer kosmopolitischen Demokratie im Sinne der Völkerverständigung kann, so Derrida, nicht verschoben werden: "Weil sie nicht wartet und gleichwohl auf sich warten lässt. Sie erwartet nichts, verliert aber alles, wenn sie wartet."


Der mit einer sozialphilosophischen Arbeit über das Global Governance-Paradigma promovierte Theologe und Wirtschaftswissenschaftler Michael Reder (geb. 1974) ist seit Herbst 2010 Vertreter des Lehrstuhls für praktische Philosophie mit Schwerpunkt Völkerverständigung an der Hochschule für Philosophie in München. Er war die letzten drei Jahre Koordinator des Projekts Klimawandel & Gerechtigkeit, das das IGP zusammen mit dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, Misereor und der Münchener Rück Stiftung durchgeführt hat.


LITERATURBOX

Jacques Derrida: Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt 2003

Nicolaus von Kues: De docta ignorantia, Hamburg 1994

Michael Reder: Globalisierung und Philosophie. Eine Einführung, Darmstadt 2009

Markus Riedenauer: Pluralität und Rationalität. Die Herausforderung der Vernunft durch religiöse und kulturelle Vielfalt nach Nikolaus Cusanus, Stuttgart 2007

Georg Stenger: Philosophie der Interkulturalität. Erfahrung und Welten. Eine phänomenologische Studie, Freiburg 2006


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 1, Januar 2011, S. 40-44
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2011