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ADVENT - ERZÄHLT/009: Ein Weihnachtstraum ... (SB)



Fidibus Grünzweig

Unter riesigen Tannen, tief drinnen im dunklen, dichten Wald, verborgen hinter Büschen und Blattwerk im Unterholz, dort steht das Häuschen von Fidibus Grünzweig. Solltet ihr je dorthin gelangen, ihr würdet es wohl kaum erkennen. Von außen gleicht es eher einem Ameisenhaufen, allerdings mit ziemlich gewaltigen *"Tannennadeln". Irgendwo, wenn ihr ganz genau hinschaut, würdet ihr ein ganz besonders breites Stück Holz finden. Das ist die Haustür. Leider könnt ihr hier nicht hinein, da ihr viel zu groß seid. Aber ich weiß, wie es darin ausschaut und will euch gern berichten.

Fidibus lebt in einem einzigen Durcheinander. Aber er hat einen Plan gemalt, auf dem alles genau verzeichnet ist, damit er zum Beispiel seinen Kochtopf wiederfindet, wenn er sich eine Suppe kochen will. Auf die gleiche Weise spürt er auch den Tellern, Tassen, Messern und Gabeln nach. Fidibus ist trotz alledem sehr reinlich und macht sich stets sofort über den Abwasch her. Kaum ist er damit fertig, lässt er alles stehen und liegen und beginnt damit, einen neuen Plan zu malen, da sich ja nun alle Dinge wieder ein wenig woanders befinden. Morgens nach Sonnenaufgang verlässt er sein Haus und sucht im Wald nach Nüssen und Beeren, Blättern und würzigen Kräutern. Und genau das tat er auch an diesem Morgen, der ganz gewöhnlich begann, aber doch ungeheuerlich anders werden sollte.


Fidibus Grünzweig ist sehr klein, trägt einen riesigen Hut mit Tannenzweigen geschmückt, einen langen grünen Mantel und einen wuscheligen schwarzen Bart - Buntstiftzeichnung: © 2016 by Schattenblick

Buntstiftzeichnung: © 2016 by Schattenblick

Fröhlich pfeifend stratzte Fidibus unter Büschen und Geäst hindurch, begutachtete kleine Pilze und pflückte den einen oder anderen. Sie verschwanden ebenso in seinem Korb wie die Haselnüsse und Beeren. Ein lautes "Kra, Kra" ließ ihn gen Himmel blicken, von dem allerdings nur sehr wenig hier unten zu sehen war. Aber er kannte den Kra-Kra-Rufer genau. Unbekümmert lenkte er seinen Blick wieder auf den Waldboden und summte ein Lied. Kurz darauf landete die Krähe Mimix auf einem Ast genau über ihm. "Kra, kra, kra! Hallo Fidibus. Hast du heute schon etwas vor?"

"Na, klar, hab' ich doch immer!", lachte der kleine Grünzweig. "Na gut, schade, dann versuche ich dem geheimnisvollen Treiben hier im Wald allein auf die Spur zu kommen. Tschüs!", krächzte Mimix und schwang sich in die Lüfte. "Haaalt! Warte!", brüllte Fidibus ihr hinterher. "Warum sagst du das nicht gleich - geheimnisvolles Treiben -, da bin ich dabei, was soll das sein?"

Die Krähe flog einen kleinen Bogen und landete neben ihm. "Na, das ist es doch gerade, ich weiß es nicht, ich kann es mir nicht erklären." Fidibus stellte seinen Korb unter einem Busch ab, deckte ihn mit drei großen Blättern zu und sprach: "Da, ihr drei, gebt acht auf den Korb, tragt ihn nicht fort, lasst ihn hier stehen, komme ich wieder, will ich ihn seh'n!" Dreimal tanzte er im Kreis in die eine Richtung, dreimal in die andere, hielt inne, hob seinen Kopf und rief: "Los, los, Mimix, zeig' mir, was du entdeckt hast!" Die Krähe flog hinab und hockte sich vor dem kleinen Fidibus Grünzweig hin.


Die Krähe Mimix in ihrem schwarz-bläulich schimmernden Gefieder - Buntstiftzeichnung: © 2016 by Schattenblick

Buntstiftzeichnung: © 2016 by Schattenblick

"Na, dann, hinauf mit dir auf meinen Rücken! Achtung, fertig! Und halte diesmal deinen Hut fest, sonst müssen wir ihn wieder überall suchen, wenn Ästchen ihn fortgerissen haben!" Fidibus kletterte auf Mimix und fasste die schwarzen Federn mit festem Griff: "Hü, hü, hü, fliege los, fliege schnell." - "Kra, kra, kra", beschwerte sich die Krähe, "ich bin doch kein Pferdchen!" - "'tschuldigung. Also dann, ab die Post!"

Mimix schüttelte den Kopf, sagte aber lieber nichts mehr. Sie flog ziemlich weit unten und Fidibus hatte seine liebe Mühe damit, seinen Hut auf dem Kopf zu behalten, weil Zweige ihn immer wieder streiften. Schließlich gelangten sie an eine Lichtung. Die Krähe steuerte auf eine Tanne zu und setzte sich auf einen grünen, kräftigen Nadelzweig, von dem aus sie alles gut überblicken konnten. Doch Grünzweig konnte nichts Sonderbares sehen. Dort unten standen nur einige Rentiere und kauten das letzte, schon etwas welke Gras. Aber halt! Was war denn das? Ein wenig entfernt konnten Mimix und Fidibus ein merkwürdiges Gefährt erkennen. Irgendwie glich es einer Kutsche, aber irgendwie auch einem Schlitten. Fidibus war das gleich aufgefallen und er trällerte los: "Ein Kutschenschlitten, ein echter Kutschenschlitten, hat man so was schon gesehen?"

"Nicht so laut, willst du, dass uns jemand hört?", rügte Mimix ihn. "Pah, wer soll uns denn hören? Die Rentiere? Flieg uns lieber hinab, damit wir uns alles aus der Nähe ansehen können." Gerade breitete Mimix ihre Flügel aus, als sie ein mächtiges Stapfen hörten und spürten, denn der Boden, mitsamt den Bäumen, bebte bei jedem Schritt des ... ? ... des Riesen! Er war so riesig, dass seine Nasenspitze sich genau auf gleicher Höhe mit dem Zweig befand, auf dem Mimix und Fidibus hockten. Starr vor Schreck fühlten sie ihre aufgeregten Herzen wild klopfen. Sie wagten nicht sich zu rühren, ja, kaum zu atmen. Glücklicherweise bemerkte er sie nicht.

Der Riese bückte sich hinab und hob den Schlitten auf, betrachtete ihn von allen Seiten und sah sich die eine Kufe ganz besonders lange an. Sie war gebrochen. So konnte niemand mehr das seltsame Gefährt benutzen. Der Riese hockte sich hin, stellte es vor sich auf den Boden und zog ein paar kleine Teile aus seiner Manteltasche. Eine Weile hantierte er eifrig mit seinen viel zu groben Fingern, trotzdem sehr geschickt, herum und begutachtete endlich den Kutschenschlitten. Mit sich und seinem Werk zufrieden, stellte er ihn zurück. Kurz darauf begann es ganz heftig zu schneien. Dicke Flocken tanzten, einem dichten Schneevorhang gleich, in solchen Mengen auf die Erde, dass man meinen konnte, sie wollten alles unter sich verstecken. Fidibus hatte sich wieder etwas beruhigt, während er beobachtete, was dort auf der Lichtung geschah. "Jippi, juhu, der Riese hat 's repariert!", jauchzte er laut - leider etwas zu laut, denn nun drehte der Riese sein Gesicht genau in ihre Richtung. Langsam erhob er sich, klopfte den Schnee von seinem Mantel und wenige Augenblicke später blickten Mimix und Fidibus in zwei leuchtend grüne Augen und auf eine gewaltig große Nase direkt vor ihnen. Aus ihr blies ihnen ein kräftiger Wind entgegen, der Kleider und Gefieder flattern ließ.


Mimix und Fidibus hocken auf einem dicken Tannenzweig, direkt vor ihnen der große Kopf des Riesen - Buntstiftzeichnung: © 2016 by Schattenblick

Buntstiftzeichnung: © 2016 by Schattenblick

"Mimix, flieg!", brüllte Fidibus aus Leibeskräften, krallte sich ins Federkleid der Krähe, die nicht zögerte, ihre Schwingen ausbreitete und erst einmal hinabstürzte, um möglichst schnell dem Gesicht des Riesen zu entfliehen. Dann flatterte Mimix wie wild los und flog schnurstracks zurück zum Haus von Fidibus.

Drinnen ließen sie sich in die Kissen plumpsen und verschnauften. Von diesem Schreck mussten sie sich erst einmal erholen. Nach einer ganzen Weile fasste Fidibus sich ein Herz und schritt hinaus, um seinen Korb zu holen, denn nach diesem Abenteuer hatte er mächtigen Hunger und auch Mimix hatte nichts gegen ein Nachtmahl einzuwenden. Derweil hatte die Krähe sich den Plan von Fidibus geschnappt und tatsächlich alles gefunden: Töpfe, Teller und Besteck. Fidibus kippte den Inhalt des Korbes auf dem Tisch aus. Gemeinsam kochten sie aus den mitgebrachten Köstlichkeiten einen kräftigen Eintopf und ließen es sich schmecken. Sie redeten lange über den Riesen und überlegten, was es mit dem Kutschenschlitten, dem Riesen und den Rentieren auf sich haben könnte. Sie fanden keine Erklärung. Erschöpft, müde und satt schliefen beide schließlich irgendwann ein.

Da sie ihren Posten auf der Lichtung fluchtartig verlassen hatten, konnten sie nicht wissen, was geschah als sie fort waren. Die Rentiere suchten unter den Tannen Schutz vor dem wilden Schneetreiben. Der Riese hatte den Kutschenschlitten nochmals aufgehoben, den Schnee vorsichtig weggepustet und ihn ebenfalls unter ein paar Tannenbäumen abgestellt. Dann machte er sich mit so sanften Schritten wie es einem Riesen nur möglich war auf seinen Heimweg. Als es schon dämmerte, schälte sich eine Gestalt in einem großen roten Mantel aus dem Dunkel des Waldes. Er trug eine ebenso rote Mütze und ziemlich große schwarze Stiefel. Auf seinem Rücken trug er einen schweren Sack, der wirklich prall gefüllt war. Gebückt und völlig außer Atem tat er noch ein paar Schritte auf die Rentiere zu und ließ sein Gepäck auf den Boden sinken: "Donner, Blitz, hört ihr. Es ist nicht zu schaffen! Ich kann unmöglich ohne euch und den Schlitten die Geschenke überall hinbringen. Nein, tut mir leid, aber diesmal wird es wohl ein Weihnachten ohne mich geben müssen." Er seufzte und redete weiter: "Der Schlitten ist entzwei und ich kann ihn nicht wieder flott machen, habe weder Werkzeug noch Material."

Ob man es glaubt oder nicht, aber dem Mann in dem roten Mantel und dem weißen Bart rannen Tränen übers Gesicht. Dann aber nahm er den großen, schweren Sack noch einmal auf, um ihn auf den Schlitten zu stellen, damit er wenigstens nicht von unten nass würde. Die Geschenke darin, konnte er wohl oder übel erst nächstes Jahr verteilen und deswegen durften sie keinen Schaden nehmen. Gerade als er alles gut verstaut hatte, staunte er: der Schlitten war heil. Ja, eigentlich sah er aus wie neu, als wäre nie ein Schaden daran gewesen. Freudig rief er nach seinen Rentieren, spannte sie an und rief: "Nun wollen wir uns aber beeilen, vielleicht schaffen wir es doch noch rechtzeitig, die Geschenke zu den Kindern zu bringen! Dank sei dem, der uns so geholfen hat!" Laut rief er es in den Wald hinein. Dann trabten die Rentiere an und erhoben sich in hoher Geschwindigkeit in den Himmel.

Am nächsten Morgen erwachten Fidibus und Mimix fast gleichzeitig. Während Fidibus sich die Äuglein rieb, meinte Mimix noch etwas verschlafen: "Ich hatte einen ganz merkwürdigen Traum." Fidibus sah sie an. "Ich auch, wirklich seltsam. Erzähle du zuerst." Mimix schlug zwei, dreimal mit den Flügeln und begann: "Mir träumte von einem Mann im roten Mantel, der sein schweres Gepäck auf den Kutschenschlitten hievte. Dann rief er die Rentiere, spannte sie an und flugs machten sie sich daraufhin auf in den Himmel. Merkwürdig, nicht wahr?"

Fidibus staunte. "Noch viel, viel merkwürdiger ist es, dass ich genau denselben Traum hatte."

Ende

22. Dezember 2016


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