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GUTE-NACHT/2212: Die Tränen des Himmels (SB)


Gestern waren Vater und Mutter auf dem Dachboden des alten Schulhauses, um die vom Sturm verschobenen Dachziegeln wieder zu richten. Bei all den vielen alten Sachen, die hier oben in Kisten herumstehen, fragten sich die Eltern, ob es nicht an der Zeit wäre, sich von einigem Gerümpel zu trennen. Besonders Vater war dafür. Dachte er doch daran, Überflüssige aus der Garage, das aber zum Wegwerfen noch zu schade sei, hier hinauf zu tragen. Schließlich waren die alten Autositze und auch die Reifen noch ganz gut zu gebrauchen. Heute aber kommen die Eltern doch nicht dazu, noch einmal auf den Boden zu steigen. Das Dach ist dicht und was macht es da schon, wenn die alten Kisten oben auf dem Boden kreuz und quer herumstehen. Da kann man sich auch später noch darum kümmern.


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Vater hat das Dach mit den alten Ziegeln wieder gerichtet. Eine Ziegel allerdings, die vom Dach gerutscht und auf dem Rasen gelandet war, hat eine abgebrochene Ecke davongetragen. Das ist Vater gestern beim Wiedereinsetzen der Ziegel nicht aufgefallen. Gegen Morgen, als dann der Himmel weinte, fielen einige seiner Tränen auch durch die kleine Lücke in der Ziegel und landeten direkt auf dem Karton mit den Kuscheltieren. Hier bahnten sich die kleinen Tropfen ihren Weg ins Innere des Kartons. An der in einer Plastiktüte eingefangenen Stoffschlange liefen die Tropfen gleich wieder ab und suchten sich ihr Ziel weiter unten in den Tiefen des Kartons.

Während die neueren Modelle der Teddys und Pferdchen, der Seehunde und Katzen weiter oben im Karton liegen, befinden sich zu unterst die ältesten Kuscheltiere überhaupt. Hier liegt auch der alte Bär von Mutter. Er ist nicht so weich wie die anderen Kuscheltiere, denn sein Innerstes ist dick mit Stroh gefüllt. Vielleicht ist das der Grund, warum er von all den anderen Tierchen nicht ganz platt gedrückt worden ist.

"Hey, Teddy! Wie ist dein Name?" Doch einen richtigen Namen hat der alte Bär nie erhalten. Auf seinen dünngelaufenen Sohlen ist der frühere Name von Mutter zu lesen. Damals vor mehr als 40 Jahren bekam das kleine Mädchen den Bär, damit es nicht allein ohne die Eltern in Kur reisen brauchte.

Inzwischen hat auch die letzte Träne des Himmels ihr Ziel erreicht und ist auf dem linken Auge des alten Teddys zu liegen gekommen. Die feuchte Träne scheint den alten Brummbär, der noch immer seine tiefe Stimme hat, wenn er denn auf den Kopf gestellt wird, aufgeweckt zu haben. "Was war das?" gähnt der Bär und versucht sich zu strecken. Doch die dicht an ihn gedrängten anderen Stofftiere verhindern dies. Der Bär versucht mit seinen Knopfaugen etwas zu erkennen. Doch im Inneren des Kartons ist es noch dunkler als es ohnehin schon auf dem Dachboden ist. Jetzt versucht Teddy seinen Kopf zu drehen, um vielleicht in einer anderen Richtung etwas zu erspähen. Doch auch das gelingt ihm nicht. Allerdings liegt dies nicht an dem Gedränge in dem er steckt. Teddy erinnert sich, einst wurde ihm der Kopf abgerissen und so fest wieder angenäht, daß er ihn seit damals nicht wieder bewegen kann.

Teddy gibt nicht auf. Er möchte einfach nur aus diesem stickigen Karton heraus. Deshalb knufft und stupst er die anderen Kuscheltiere um sich herum an und fragt, ob sie nicht einmal Platz machen könnten. Die meisten Kuscheltiere sind viel zu müde, um zu reagieren. Ein kleines Stück aber schafft es Teddy nach oben zu kommen. Doch dann braucht auch er eine kleine Verschnaufpause und nickt wieder ein.


Gute Nacht