Schattenblick →INFOPOOL →KINDERBLICK → GESCHICHTEN

GUTE-NACHT/2617: Felix wünscht sich ein Plakat (SB)


Wenn der Tiger eine Reise macht

"Gähn! Wer stört mich da in meinem Schlaf?" fragte ich mich und blinzelte mit meinem linken Auge. Durch mein leicht geöffnetes Fenster hörte ich eine Kinderstimme sagen: "Schau mal, da ist Jim Knopf an der Wand!" - "Wo?" fragte eine andere Stimme, die sich um einiges älter anhörte. Neugierig geworden, öffnete ich die Augen und stellte mich auf meine Vorderbeine. Vor meinem Fenster war eine Holzwand, an der große, bunte Plakate klebten. Auf eines dieser Plakate zeigte das Kind, das mich aus meinem Traum geweckt hatte. Eine Frau, wahrscheinlich seine Mutter, blickte nun in die gedeutete Richtung und sagte: "Ach, du meinst das Plakat von Jim Knopf. Was steht da eigentlich?" Sie trat einen Schritt näher, rückte die Brille zurecht und las ihrem Schützling vor: "Jim Knopf, das Musical geht auf Tournee!" Die Frau neigte ihren Kopf, um auch die Fußnote auf dem Plakat lesen zu können und sagte dann: "Schau mal, wo Jim Knopf überall zu sehen sein wird, sogar nach Lübeck kommt er. Aber das dauert noch ein bißchen." "Gehst du mit mir dann dahin?" fragte die Kleine. "Wäre schön!" war die Antwort. "Bitte, bitte!" versuchte die Kleine eine entgültige Entscheidung zu erhalten. Bettelnd lief sie hinter ihrer Mutter hinterdrein. Dann waren sie beide verschwunden.

Etwas gelangweilt kuschelte ich mich wieder auf dem Sitz zusammen. Dann blickte ich noch einmal hoch und betrachtete das Bild von diesem Jim Knopf genau. Irgendwoher kannte ich das Gesicht. Aber woher? Ich schloß die Augen und versuchte in meinen Traum zurück zu kehren. Doch das gelang mir nicht. Immer wieder schlich sich dieser Jim Knopf ein. Dann hatte ich die Erleuchtung. Sein Gesicht kannte ich von einem Buch, das Luisa sich gern vorlesen läßt. Ihre Mutter versucht sie zwar immer zu überreden, doch selbst schon mal ein bißchen weiter zu lesen. Aber Luisa findet Vorlesen viel schöner. Ich übrigens auch.

Nun überlegte ich, was da an dieser Wand stand. Was hatte die Frau gesagt? Jim Knopf turnt in Lübeck? Nein, das war es wohl nicht. Irgendwie wäre es doch toll, so ein großes Bild Luisa mit nach Hause zu bringen. Aber wie sollte ich nur darankommen? Ich kam ja nicht mal hier aus dem Wagen. Vielleicht, wenn ich mir ganz fest wünschte, daß einer käme, der dieses Bild abriß und es mir durch den offenen Schlitz im Fenster stecken würde? Oder wenn ein Windstoß käme, das Bild abriß und gegen die Fensterscheibe pustete, dann könnte ich es hereinziehen.

Hin und her überlegte ich, wie ich in den Besitz dieses Plakats kommen konnte. Dann aber erfüllte sich mein Wunsch von selbst, nur in etwas kleinerer Form. Denn endlich kam Vater Gustav zurück. Zwar konnte ich ihm nicht auftragen, das Plakat abzureißen. Dazu wäre er auch nicht bereit. Schließlich sollten noch andere Fußgänger erfahren, daß Jim Knopf nach Lübeck kam. Es war ja auch schon alles geritzt. Vater Gustav machte ein so strahlendes Gesicht, daß ich wohl sehr verwundert geschaut haben muß. Daraufhin legte er vor mich drei kleine Karten hin, auf denen ich das Bild von Jim Knopf wiedererkannte. Nun sagte er: "Es ist schon toll, wenn man Geschäftsbeziehungen hat." Was das bedeuten sollte, wußte ich nicht. Doch Vater Gustav klärte mich auf: "Ich habe gerade drei Eintrittskarten zu dem Musical von Jim Knopf erhalten. Es kommt nach Lübeck auf Tournee." Ah, das war das Wort, das ich gesucht hatte. Jim Knopf turnt nicht, sondern tourniert!

"Luisa wird sich sicher freuen, wenn sie mit Mama und Papa dieses Musical anschauen kann", fügte Vater Gustav noch hinzu. Mein Gesicht verzog sich, und ich blickte ihn traurig an. "Du brauchst nicht so zu schauen. Du kommst auf jeden Fall mit, auch ohne Eintrittskarte. Noch einmal wird dich Luisa nicht vermissen wollen." Das beruhigte mich und ich strahlte wieder. Ja, jetzt hatte ich auch genug vom Alleinsein in dieser großen Stadt. Ich sehnte mich nach Luisa und nach den anderen Kuscheltieren, meinen Freunden. Vater Gustav schlug den Heimweg ein. Ich konnte beruhigt noch ein bißchen die Augen schließen und würde wohl bald wieder zuhause sein.


Erstveröffentlichung am 18. Oktober 2001

29. April 2008

Gute Nacht