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GUTE-NACHT/2760: Der große Abend (SB)


Gespannt wartet das kleine Wesen auf die erste Ausstellungseröffnung, die es je in seinem Leben miterlebt hat. Die Werke des Künstlers Raimund hat das kleine Wesen ja bereits heute morgen begutachten können. Jetzt sind eher die vielen Besucher von Interesse. Was sagen sie zu den Bildern? Was erkennen sie darin? Da fallen Begriffe wie "Avantgarde" oder "vorreiterisch". Aber auch Stimmen wie "weltfremd" und viel zu "farblos" - was zutreffend ist, da die Bilder alle mit schwarzer Tusche gezeichnet sind - werden laut.

Noch immer steht das merkwürdige Sitzmöbel in der Mitte des Raumes, und das kleine Wesen hat sich noch nicht wieder darunter hervor gewagt. Ein Grund ist sicherlich, daß es sich in seinem gegenwärtigen fast getrockneten Zustand mal wieder nicht bewegen kann.

"Das ist ja richtig lästig", denkt das kleine Wesen, "wenn ich mal starr und mal beweglich bin." Im Moment findet es das kleine Wesen besonders ärgerlich. Zwar hat es gute Ohren und bekommt auch viele Gespräche mit, die die Galeriebesucher und Sitzmöbeleinnehmer so von sich geben, aber das kleine Wesen würde viel lieber zwischen den Leuten umhergeschwirren, um denen zuzuhören, die es am interessantesten findet. Tja, wo bekommt das kleine Wesen nur die nächste kalte Dusche her.

Wie es die Gewohnheit bei solchen Festivitäten ist, stellen die Besucher gern mal, in Ermangelung eines Tisches, ihr Glas genau dort auf den Fußboden ab, wo sie sitzen. Das kleine Wesen sieht nun seine Chance darin, irgendwie an den Inhalt des Glases zu gelangen.

Leider ist seine Beweglichkeit durch den Trockenvorgang an der Luft noch weiter eingeschränkt. Da kommt ihm die Ungeschicklichkeit oder vielleicht auch die Absicht eines der Gäste zupass. Ein merkwürdiges Glas, das wie ein Trichter auf einem langen Stil ausschaut, kippt um und ergießt seinen Inhalt zum großen Teil auf die Anziehpuppe aus Papier.

"Ih, wie riecht das denn und was kitzelt mich denn da?", das kleine Wesen ist ganz schön verwundert. "Mal kosten", denkt es und steckt den wieder beweglichen Finger in die Getränklache in der es liegt und dann in den Mund. Jetzt kann es sich schon wieder aufrichten. Doch was ist das? Ihm ist ganz schwindelig zumute. "Das kommt bestimmt von dieser merkwürdigen Flüssigkeit", stellt das kleine Wesen fest. Es rutscht aus der durchsichtigen Flüssigkeit heraus und sucht sich einen anderen Platz. Gerade noch rechtzeitig, denn jetzt kommt ein Lappen an einem Stiel unter das Sitzmöbel gefahren und wischt die Flüssigkeit auf.

Das kleine Wesen hört nur noch, wie eine Stimme sagt: "Schade um den Sekt." Dann fällt es in tiefen Schlaf mit merkwürdigen Träumen.

16. Oktober 2008

Gute Nacht