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GUTE-NACHT/2762: Versteckt (SB)


Die Galerie ist auch heute geöffnet und einige Besucher, die nicht bei der Ausstellungseröffnung zugegen sein konnten, nutzen den Tag, um nachzuholen, was sie versäumt haben.

"Zum Glück wechseln die Ausstellungen nur alle vier Wochen", erklärt eine Besucherin ihrer Begleiterin, "so kann man sich die Werke in Ruhe und auch des öfteren anschauen. Auf diese Weise entdeckt man so allerhand mehr in den Bildern, was vorher nicht so offensichtlich war."

"Meinst du beispielsweise dieses Bild hier?", fragt die Begleiterin und zeigt auf eine große Leinwand, die nur in Gelb und Orange gemalt wurde. Das Bild nimmt den gesamten Platz einer ganzen Wand ein und außer gelber und orangener Farbe, die ineinander verarbeitet wurden, ist hier nicht viel zu erkennen. Eine Stimmung von Sonne und Sommer schleicht sich bei dem Betrachter ein. Aber auch das Gefühl von schrecklicher Hilflosigkeit, wenn man sich vorstellt, mitten in der Wüste zu stehen.

Noch immer deutet die Begleiterin auf die gelbe Leinwand und hofft, daß sie eine Antwort bekommt. "Warum sollte gerade dieses Bild ein Beispiel sein?", fragt die andere. Die Begleiterin zeigt auf einen kleinen Fetzen Papier. "Das war doch gestern abend noch nicht da, oder? Hat sich da vielleicht jemand einen Scherz erlaubt?"

Die Besucherin dreht sich um und blickt die besagte Stelle an. "Du meine Güte, du hast Recht!", entfährt es ihr erstaunt, "das kleine Püppchen aus Papier war gestern noch nicht auf der Leinwand zu sehen, das könnte ich schwören." - "Schwör lieber nicht", rät die Begleiterin ab, "du kennst sicher den Spruch - man hat schon Pferde Kotzen sehen - das sagte zumindest früher immer meine Mutter. Was ich damit sagen will ist, manches Mal ist man sich so sicher, etwas getan oder gesehen zu haben, was dann nachweisbar gar nicht stimmt. Trotzdem ist man dann immer noch nicht gewillt, zu akzeptieren, daß man sich geirrt hat."

"Vielleicht haben wir uns geirrt, vielleicht auch nicht", sagt die Besucherin und faßt vorsichtig das Papierpüppchen auf dem gelben Bild an. Erstaunt sagt sie: "Es klebt fest! Es muß wohl doch schon da gewesen sein." Die Begleiterin ist anderer Ansicht. "Siehst du irgend ein Papierpüppchen auf einem der anderen drei Bilder in diesem Raum?" Die Besucherin schüttelt den Kopf. "Siehst du, der Künstler hat eine Serie erschaffen, wo die Bilder sich nur in der Farbe unterscheiden, nicht in einzelnen Elementen. Vielleicht hat jemand anderes das Püppchen zum Scherz im Bild plaziert?" - "Und wie hat er es festgeklebt?", taucht die Frage auf. Die Begleiterin hat da schon ihre Ideen: "Vielleicht hatte er Klebstoff dabei oder einfach ein Kaugummi." - "Das wäre ja Frevel an der Kunst", schimpft die andere. Aber beide trauen sich nicht, die Galeristin zu holen. Es könnte ja sein, daß sie sich doch geirrt haben. Neugierig faßt nun auch die zweite Dame das Püppchen aus Papier an und zupft leicht daran. Oje, da löst es sich vom Untergrund. Schnell rechts und links geguckt, niemand hat es gesehen.

Viel schneller als sie gekommen sind, sind die beiden Damen wieder verschwunden. Sie haben es besonders eilig, aus der Galerie zu kommen. Und das kleine Wesen in der Anziehpuppe? Wohin haben sie es versteckt?

18. Oktober 2008

Gute Nacht