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GUTE-NACHT/2769: Die Tageszeitung (SB)


In Gedanken ist der Zeichner Raimund schon beim Frühstück. Doch zuerst will er sich noch eine Tageszeitung holen. Bevor er sich also in den Speisesaal der Pension begibt, geht er noch schnell los, am Kiosk um die Ecke eine Zeitung zu kaufen. Was steht so wichtiges in der Zeitung drin, daß es nicht bis nach dem Frühstück warten kann?

Den Zeichner interessieren nicht die aktuellen Tagesgeschehen, obwohl er sich sonst täglich gerade deshalb die Nachrichten im Fernsehen anschaut oder ihnen im Radio lauscht. Er braucht keine Unterhaltung in Form des täglichen Comic-Strips und auch nicht die Fortsetzung des spannenden Krimis. Ebensowenig ist an diesem Tag die Wettervorhersage für den Zeichner von Bedeutung. Wenn auch viele informative Beiträge auf der Kinderseite, die selbst die Erwachsenen zum Lesen anregen, zu entdecken sind, so sucht der Zeichner heute doch nach etwas ganz Persönlichem. Seit Tagen schaut er in die Zeitung, um darin Kritik über seine Ausstellung zu lesen. Denn nach einer Ausstellungseröffnung, bei der auch die Presse eingeladen war, ist meist darüber etwas in der Zeitung zu finden. Das bewirkt, daß noch mehr Menschen kommen, um sich die Werke des Künstlers anzuschauen.

"Wieder steht nichts in der Zeitung?", überlegt der Künstler, der die Seiten schon direkt am Kiosk durchgesehen hat. "Wenn auch keine lobenden Worte zu finden sind, so könnte doch wenigstens eine kritische Stimme laut werden", denkt der Zeichner Raimund. Schließlich regen gerade auch negative Meldungen die Neugier der Menschen an. Lustlos kehrt der Zeichner zur Pension zurück und begibt sich in den Speisesaal, auch wenn er nun gar keinen Appetit verspürt. Eine Tasse duftenden Kaffee nimmt er allemal.


*


Als die Zimmertür zu laut ins Schloß fällt, schreckt das kleine Wesen hoch. Es blickt sich um und weiß im ersten Moment nicht, wo es sich befindet. Dann aber erinnert es, daß der Zeichner nicht nur sein Erschaffer ist, sondern auch zu seinem Retter aus dem Straßenpapierkorb geworden war. Aber wo steckt der Zeichner in diesem Augenblick? Wollte er nicht heute wieder nach Hause fahren? Hatte er das kleine Wesen etwa vergessen? Ein bißchen ist das Papierpüppchen noch immer beweglich. So kann es sich aufsetzen und sehen, daß der Zeichner nicht im Raum ist. "Sind seine Sachen noch vorhanden?", ist der nächste Gedanke des kleinen Wesens. Die Jacke ist fort. Panik ergreift es. Dann aber sieht es, daß der Zeichenblock noch auf dem Tisch liegt. "Den wird Raimund sicher nicht hier lassen", denkt sich das kleine Wesen, "ich werde mich am besten gleich in den Zeichenblock hineinbegeben."

Es ist nicht so einfach, vom Nachttisch über das Bett zum Tisch hinauf zu gelangen. Doch das kleine Wesen ist zuversichtlich, diesen Weg schon zu meistern. Da geht die Zimmertür auf. Zu seinem Entsetzen erscheint nicht der Zeichner, sondern eine Frau mit einem Eimer und einem Besen. "Was hat sie vor?", grübelt das kleine Wesen und ahnt nichts Gutes.

27. Oktober 2008

Gute Nacht