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GUTE-NACHT/2919: Auf dem Hausflur (SB)


Gute Nacht Geschichten


Eine neue Gelegenheit, aus dem Käfig zu entwischen, erhielt Sokrates bald. Allerdings sah der Mäuserich in dem folgenden Zwischenfall keine Chance, sondern eine Gefahr, bei der er gut Kopf und Kragen, ja den ganzen Körper hätte verlieren können.

Folgendes geschah. Nachdem Sokrates wieder eingefangen war, regnete es die nächsten Tage und der Käfig kam nicht in den Garten. Da hatte Sokrates auch nichts dagegen. Er bedauerte eher die Mäuschen da draußen, die er ab und zu unter den Bäumen entlang huschen sah.

Als dann das Wetter besser wurde, hockte der Mäuserich auf seinem Mäusehaus und blickte sehnsüchtig in den Garten hinunter. Um sich abzureagieren, daß er nicht hinaus durfte, kletterte Sokrates jedesmal in sein Laufrad und drehte so viele Runden bis er nicht mehr konnte. Das Laufrad allerdings war nicht mehr das neueste. Dementsprechend quietschte es.

Gunnar war in diesen Tagen viel zuhause. Er hatte eine Hausarbeit zu schreiben. Dabei ging es um Philosophie. Hochtrabende Gedanken hatte er zu ergründen. Das sich wiederholende Quietschen störte ihn immens. Zuerst registrierte er gar nicht, was ihn störte. Dann aber, als es ihm klar wurde, versuchte er das Laufrad durch einen Tropfen Maschinenöl zum Schweigen zu bringen. Als dies nichts half, montierte er das Rad einfach ab.

Jetzt hatte Sokrates nicht einmal mehr diese Ablenkung. Er saß auf seinem Hausdach und blickte Gunnar böse an. Nachdem dieser ihn gar nicht registrierte, fiel dem Mäuserich ein, daß er wohl wie das Laufrad nur durch Lärm die Aufmerksamkeit des Menschen erregen konnte. Er raschelte mit seinem Futter, knabberte an den Gitterstäben und begann letztlich entsetzliche Geräusche von sich zu geben. Endlich hatte Gunnar kapiert, was Sokrates von ihm wollte. Das hatte der Mäuserich angenommen, als Gunnar den Käfig packte und ihn vor die Wohnungstür stellte. Allerdings hinaus in den Garten tragen, wollte er ihn nicht. Gunnar wollte nur den Lärm los sein.

Sokrates war enttäuscht. Doch er fand sich in sein Schicksal. Schließlich hatte er jetzt eine neue Aussicht zu genießen, wenn auch der Flur im Gegensatz zu Gunnars Zimmer relativ wenig Interessantes bot. Was allerdings doch von Vorteil war, war die Gesellschaft auf dem Flur. Die meisten Hausbewohner gingen nur vorbei. Dann gab es einige, die ein furchtbares Theater machten, als sie den Käfig mit seinem Inhalt erblickten. Eine Frau schrie sogar ganz entsetzt: "Ih, eine Maus!"

Den Kindern, die vorbeikamen, gefiel das Mäuschen. Sie steckten ihm sogar etwas von ihren Süßigkeiten durch die Gitterstäbe. Das hätte Gunnar sicher gar nicht gefallen. Vorsichtig kostete Sokrates von dem Geschenk. Es schmeckte ihm viel zu süß. Dennoch brachte er es in sein Häuschen, um es für schlechte Zeiten aufzuheben.

Mittlerweile waren zwei Stunden vergangen. Jetzt kam das Unvermeidbare, denn auch der Hund aus dem dritten Stock mußte irgendwann einmal hinaus. Er durfte meist ohne Leine bis zur Haustür laufen. Auch an diesem Tag lief er voran. Seine Besitzerin schimpfte und ging noch einmal zurück, sie hatte ihre Tasche vergessen. Diese Zeitspanne nutzte ihr Hund und musterte das Neue im Flur genau - den Käfig.

Zwei große Augen starrten in zwei kleine. Dann öffnete sich das Maul des Großäugigen, denn er wollte ein Gähnen nicht unterdrücken. Sein riesiges Maul zeigte alle seine großen Zähne, und Panik ergriff den Kleinäugigen. War er bis dahin auf seinem Häuserdach still sitzen geblieben, peste er jetzt von einer Ecke des Käfigs in die andere und wieder zurück. Daß er sich eigentlich in seinem Häuschen hätte verstecken können, hatte er völlig vergessen. Dieser Aufruhr in dem Käfig erweckte das Interesse des Hundes ganz besonders. Er versuchte nun das kleine dahinsausende Geschöpf zu fassen zu bekommen, erinnerte es ihn doch sehr an seine kleine Spielzeugmaus, die sein Frauchen immer wieder aufzog.

Da der Hund mit seiner Schnauze das Mäuschen nicht zu fassen bekam, versuchte er irgendwie durch die Gitterstäbe zu gelangen. Aber auch das gelang nicht. Am Gitter war allerdings ein Lappen angebracht. Darin erkannte der Hund ein anderes Spiel, das sein Frauchen stets mit ihm spielte. Wenn er an dem Lappen an einem Schränkchen zog, ging die Tür auf und ein Leckerlie wartete auf ihn. Ob das hier wohl auch der Fall war?

Der Hund versuchte dies herauszufinden. Leider kam der Käfig durch das Ziehen sehr dicht an den Rand der Treppe heran. Noch ein kleiner Stups mit der Schnauze genügte, um den Käfig die ganze Treppe hinunter zu schmeißen. Metall auf Stein - das war ein Lärm. Sofort gingen sämtliche Wohnungstüren auf, bei den Wohnungen, in denen zur Zeit jemand zuhause war.

Auch Gunnar war sogleich heraus gekommen, ahnte er doch Schlimmes. Zuerst war der Käfig gestürzt. Dem folgte sogleich der Hund, denn Bewegung liebte er über alles. Von oben schrie jemand: "Kann man denn um die Mittagszeit nicht mal Ruhe haben?" Von unten kam ein weiterer Protest einer nicht sehr beliebten Hausgenossin: "Ich habe ja gesagt, Hunde im Haus bringen nur Ärger mit sich." Als diese Dame dann wirklich registrierte, was gerade geschehen war, schrie sie erneut und jetzt nicht mehr ärgerlich, sondern nur noch entsetzt auf: "Hilfe eine Maus!" Die Käfigtür war durch den Sturz aufgesprungen und die Maus hinausgeschleudert worden.

Zuerst war Sokrates still liegengeblieben und hatte alle Viere und den nackten Schwanz von sich gestreckt. Als dann aber von oben die großen Hundeaugen wieder näher kamen, sprang das Mäuschen auf und nahm jede der kommenden Stufen in einem Satz. Er wäre fast direkt in die Wohnung der schrecklichen Nachbarin gesprungen, hätte die nicht direkt vor seiner Nase, die Türe zugeklatscht.

Sokrates prallte gegen die Tür und rutschte kopfunter daran hinunter. Es war wohl der Fußmatte zu verdanken, daß nichts Schlimmeres geschehen war. Zum Glück schnüffelte der Hund nun nur an der bewegungslosen Maus, die von Gunnar mit schlechtem Gewissen hochgenommen wurde.

"Sei bloß am Leben!", stöhnte er.

28. April 2009

Gute Nacht