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GUTE-NACHT/3148: Entführt (SB)


Gute Nacht Geschichten

Im Erdgeschoß der alten Bücherei öffnen sich wie jeden Morgen die Schiebetüren wie von Geisterhand, wenn ein Besucher herein möchte. An diesem Morgen ist ein junger Mann der erste Besucher. Zielstrebig schreitet er zum Tresen und formuliert in Gedanken seine Frage, die er der dort sitzenden Mitarbeiterin stellen möchte. Plötzlich stößt sein Fuß gegen etwas auf dem Boden und er blickt sogleich hinunter. Es ist ein dickes altes Sagenbuch und gleich daneben liegt noch ein kleines Buch, nicht größer als ein Finger. Um die zu stellende Frage noch ein bißchen hinaus zu schieben, bückt sich der junge Mann, hebt zuerst das dicke Buch auf und stellt es in die Lücke im Regal zurück. Das kleine Büchlein nimmt er hoch. Dafür ist kein Platz mehr im Regal. "Es muß an einem anderen Ort wohnen", denkt der Mann. Er blättert kurz darin herum, doch sein Interesse für das Geschriebene ist nur von kurzer Dauer. Er kann sich nicht einmal auf die Buchstaben konzentrieren. Er ist einfach zu sehr damit beschäftigt, sein Kommen in Worte zu fassen, um eine bestimmte Wirkung damit zu erzielen.

Die junge Frau hinter dem Tresen fühlt sich nicht berechtigt, die Frage des jungen Mannes zu beantworten. Darum meldet sie ihn bei dem Büchereivorsteher selbst an. Ganz in Gedanken versunken steckt der junge Mann das eben gefundene Büchlein in seine Jackentasche ein. Die Frau verfolgt dies nicht. Sie hat sich bereits wieder ihrem Computer zugewandt.

Ein hitziges Gespräch entfacht sich hinter der Tür des Büchereivorstehers. Dennoch scheint der junge Mann Erfolg gehabt zu haben. Er verabschiedet sich freundlich von der Büchereiangestellten und verläßt sogleich die heiligen Hallen hier.

Viel später am Abend, wenn der junge Mann seine Taschen ausleeren und darin das kleine Büchlein wiederfinden wird, wacht jemanden unter einem schwarzen Schrank auf und wird vergebens nach dem kleinen Ding suchen.


26. Februar 2010

Gute Nacht