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GUTE-NACHT/3426: Der kleine Nachtwächter wird herausgerissen (SB)


Gute Nacht Geschichten vom kleinen Nachtwächter


Mittags als der kleine Nachtwächter noch tief und fest schläft, pocht es heftig gegen die Haustür. Rebell ist sofort zur Stelle und bellt die Tür von der Flurseite her an. Nun werden Stimmen laut, die sich beschweren: "Zuerst wird unsere Stadt nicht bewacht, und dann werden ihre Bürger auch noch ausgebellt." Erneut wird gegen die Tür gepoltert. Diesmal aber nicht nur einmal.

Bei diesem Krach kann auch der kleine Nachtwächter nicht mehr länger schlafen und öffnet die Augen. Es dauert allerdings eine Weile, bis er wirklich begreift, was hier eigentlich los ist. Er streift sich seinen Bademantel über und geht zur Tür. "Ruhig, Rebell!", ermahnt er seinen Hund, sperrt ihn aber dann vorsichtshalber lieber in die Küche. Erst jetzt öffnet er die Wohnungstür.

Ein Schwall von durcheinander rufenden Stimmen schlägt ihm entgegen, und böse Gesichter blicken ihn an. Eine Frau spuckt ihm sogar ins Gesicht. Da hebt der Mann in der Mitte die Hand und die anderen verstummen. Es ist der Bürgermeister, der den kleinen Nachtwächter anspricht: "Wo warst du heute Nacht, kleiner Nachtwächter?"

Der kleine Nachtwächter versteht die Frage nicht und entgegnet: "Wo soll ich denn gewesen sein? Ich habe wie immer meine Runden durch die Stadt und durch die Landschaft gedreht und ..."

Aber weiter kommt er nicht. Ein erneuter Redeschwall aller vor seiner Tür versammelter Bewohner dieses Städtchens schimpfen auf ihn ein. "Lügner!" - "Betrüger!" - "Scharlatan!"

Der Bürgermeister, der an der dicken Kette mit dem Stadtabzeichen um seinen Hals zu erkennen ist, versucht erneut einzulenken. Diesmal dauert es etwas länger bis sich Meute beruhigt, nachdem er erneut seine Hand zum gebotenen Stillschweigen erhebt.

"Kleiner Nachtwächter, du bist in der vergangenen Nacht nirgends in der Stadt gesehen worden und ebensowenig dein Hund. Dafür aber war ein Dieb unterwegs. Beim Bäcker wurden aus der Backstube alle frischen Brote abgeräumt, während der Bäckergeselle gerade die Brötchen aus dem Ofen zog. Als er zurückkehrte, fand er nur noch einen dicken braunen Scheißhaufen vor. Das ärgerte ihn am meisten. Beim Metzger wurden die geräucherten Würste aus der Räucherkammer gestohlen. Nur eine angebissene Wurst blieb auf dem Fußboden zurück. Die hatte der Dieb wohl verloren. Auch bei der Bank wurde versucht einzubrechen, nachdem zuvor sogar in der Kirche etwas entwendet wurde, nämlich das goldene Kreuz des Herrn Jesu. Bei der Bank aber hatte der Dieb kein Glück. Da ging der Alarm los. Doch das war leider viel zu spät. Denn zuvor waren bereits die vollen Milchkannen der Bauern und auch sämtliche Zeitungen vor dem Sparladen geraubt worden. Als der Alarm endlich losging, kamen alle Bewohner zusammen, nur du, unser Nachtwächter, hast gefehlt. Und wie ich deinem Aufzug ansehe, hast du die ganze Zeit über geschlafen."

Der kleine Nachtwächter kann das gar nicht fassen. Er blickt auf die Uhr mit der Datumsanzeige, die in seinem Flur hängt, und er muß feststellen, daß der Bürgermeister die Wahrheit spricht. Er hat einen ganzen Tag und die darauf folgende Nacht sowie einen weiteren halben Tag durchgeschlafen. "Das wird nicht wieder vorkommen!", entschuldigt er sich bei den Stadtbewohnern.

"Das sehen wir genauso", unterstreicht der Bürgermeister seine Worte, und weist mit der Hand hinüber auf die andere Straßenseite. Dort steht ein bulliger Kerl in dunkler Kleidung mit einem ebenso bullig ausschauenden Hund. Beide sehen angsteinflößend aus. Der Hund läßt die Versammlung nicht aus den Augen, während sein Herrchen ihm befiehlt, Ruhe zu halten.

Die Schirmmütze auf dem Kopf, das dicke Schlüsselbund am Gürtel und die Taschenlampe in der Hand sind eindeutige Indizien dafür, daß der Bürgermeister den kleinen Nachtwächter nicht mehr sehen will und bereits einen Nachfolger bestimmt hat.

Da ist wohl nichts mehr zu machen. Der kleine Nachtwächter zieht sich in seine Wohnung zurück und verschließt hinter sich die Tür fest. Die Stimmen davor schimpfen noch eine Weile weiter, verstummen aber doch alsbald.

Der kleine Nachtwächter befreit endlich Rebell aus der Küche und setzt sich mit ihm in seine Stube. Wie konnte das alles nur geschehen? Und wie konnte so schnell Ersatz für ihn gefunden werden? War da nicht etwas faul an der ganzen Geschichte?

Zeichnung: copyright 2011 Schattenblick

zum 13. Juli 2011