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GUTE-NACHT/3603: Der große Brummer (SB)


Gute-Nacht-Geschichten

Der große Brummer

Enna hockt auf der Fensterbank, mit Mausohr auf dem Schoß, und blickt zum Nachbarhaus hinüber. Im Garten legt sich der Tag zur Ruh' und die Nacht schleicht herbei. In dieser dämmrigen Stimmung scheinen die beleuchteten Fenster vom Haus hinter dem Zaun in die Dunkelheit hinaus zu rufen: "Enna, Enna, komm her!"

Ein rötliches kleines Licht ist in dem beleuchteten Küchenfenster des Nachbarhauses zu erkennen. Enna flüstert ihrer großen grauen Maus ins Ohr: "Schau, Oma Berenieke ist in der Küche. Sie hat die Laterne für uns ins Fenster gestellt. Schade, daß wir nicht mehr hinüber gehen können. Oma Lucie ist es jetzt zu spät dafür." Ärger über das Verbot, aber auch Erleichterung darüber, den dunklen Schatten auf dem Weg hinüber nicht ausgeliefert zu sein, mischen sich in Ennas Stimme.

Plötzlich vernimmt Enna hinter ihrem Rücken ein fremdes Brummen, gefolgt von einem ihr bekannten Geräusch von Schritten. Das Brummen weckt Ennas Aufmerksamkeit. Die Ohren gespitzt, suchen die Augen den Raum nach der Ursache des brummenden Tones ab. Schnell hat Enna den Geräuscheverursacher entdeckt. Der hockt sich still in eine Falte des Vorhangs, um nicht von der ihm aus der Küche gefolgten Oma Lucie entdeckt zu werden.

"Wo steckt dieser riesige Brummer? Der wollte sich gerade an unserem Pudding gütig tun", schimpft sie. Drohend hält sie die Fliegenklatsche in der Hand und fordert: "Zeig dich, du fliegender Dämon!"

Doch ein weiteres Brummen ist nicht zu vernehmen, anstatt dessen aber ein knackender Ton. Jedes Mal ist ein solcher zu hören, wenn der Schaukelstuhl in Bewegung gerät. Uroma Kathie hatte es sich darin gemütlich gemacht, schwingt nun vor, steht auf und geht zum Schrank. "Du wirst doch so eine arme Kreatur nicht platt hauen wollen. Laß sie uns einfangen und sie dann an die frische Luft setzen, wo sie hin gehört", schlägt Uroma Kathie vor.

Oma Lucie aber prustet verärgert los: "Du kannst den Brummer von mir aus fangen und ihn dann vor die Tür setzen. Aber sollte er die Schwelle der Küche überfliegen, halte ich die Waffe bereit." Schon macht sie auf dem Absatz kehrt und stolziert zur Küche zurück.

Mit einem Blick fordert Uroma Kathie ihre Urenkelin auf, Lucie zu folgen und die Küchentür hinter ihr zu schließen. Aus dem Schrank holt sie indess eine durchsichtige Plastikdose mit Deckel. Damit will sie die fette Fliege einfangen. "Wo steckt der Brummer?", fragt sie.

Enna, die wieder in der Stube zurück ist, deutet auf den Vorhang. Mit der Dose in der einen und dem Deckel in der anderen Hand nähert sich Uroma Kathie dem Versteck. Doch der Brummer ist nicht dumm. Enna hört ihn in Gedanken rufen: "... da bin ich kantapper, kantapper vor Oma Lucie aus der Küche geflohen und soll mich jetzt von dir einfangen lassen ..." Und schon sitzt er nicht mehr auf dem Vorhang ich gelassen und saust in der Stube herum, über die Lampe hinweg, am Sessel vorbei und sucht sich einen Platz auf dem Schreibtisch. Vorsichtig nähert sich Uroma Kathie dem Möbel. Sie holt aus ... doch der Brummer hebt schon wieder ab.

"Fängst du ihn?", fragt Enna, die nicht so sicher ist, ob der Brummer wirklich ins Freie möchte. Da draußen ist es schließlich schon recht kalt und noch viel dunkler als vorhin, als sie ihre Oma Berenieke besuchen wollte.

"Wird schon werden. Wir brauchen nur ein bißchen Geduld. Oder willst du, daß er mit Lucies Fliegenpatsche Bekanntschaft schließt?" Nein, auf keinen Fall möchte Enna das.

"Nun, wir dürfen nicht so viel Wind machen", rät Uroma Kathie, "ich denke, wir werden ihn bald haben. Der arme Kerl saust schon den ganzen Nachmittag in der Wohnung herum. Kein Wunder, daß er sich an unserem Pudding vergreifen wollte. Er ist bestimmt hungrig. Schließlich, was gibt es hier im Haus schon für ihn zu fressen. Er mag doch lieber vom Kompost im Garten fressen oder von den Pferdeäpfeln auf der Weide naschen. Es wundert mich, daß Lucie ihn erst jetzt entdeckt hat."

Erneute Brummgeräusche verraten den Weg, den der Eindringling durch die Luft saust. Nach kurzer Zeit aber läßt er sich erschöpft nieder. Vorsichtig stülpt Uroma Kathie das durchsichtige Gefäß über ihn. Ein Papier schiebt sie langsam zwischen dem Gefäß und der Tischplatte durch, sodaß die Fliege sich beim Umstülpen auf den Boden des Plastikbehälters nieder läßt. Dann verschließt Uroma Kathie schnell den Behälter mit dem Deckel.

"Also, jetzt können wir den Brummer an die frische Luft setzen", meint Uroma Kathie. Enna nimmt den Plastikbehälter in die Hand und besieht sich den Insassen von allen Seiten. "Ganz schön groß!", stellt sie fest.

"Nun aber los, bringen wir ihn ins Freie", fordert Uroma Kathie Enna auf. Dort im Hoflicht wird der Gefangenen wieder freigelassen. Enna kippt dazu den durchsichtigen Plastikbecher langsam um. Schon landet die Fliege auf dem kopfsteingepflasterten Hofstück. Einen kurzen Augenblick liegt sie da, dann aber bewegt sie die Flügel.

"Nun komm, Enna. Laß uns zurück ins Haus gehen. Es ist kalt." Enna aber blickt noch zu Boden. Endlich startet der Brummer durch. Nun merkt auch Enna, daß sie fröstelt. "Vielleicht wäre der Brummer jetzt auch lieber wieder im Warmen", überlegt sie und blickt unwillkürlich zum Haus hin. Doch die Fenster sind alle verschlossen. Schnell läuft sie hinter ihrer Uroma her.

Vom Flur aus trommelt Oma Lucie alle Bewohner zum Abendbrot zusammen. Als sie ihre Schwiegermutter und Enna vom Hof ohne Jacke hereinkommen sieht, schüttelt sie nur mit dem Kopf. "Laßt uns essen, es steht schon alles auf dem Eßzimmertisch." Klappergeräusche dringen aus der Küche. "Eggi", ruft Oma Lucie, "was polterst du in der Küche herum, der Tisch ist schon fertig gedeckt." - "Ich komm' ja", entgegnet Opa Eggi, der eigentlich Egbert heißt. "Ach, wenn du schon mal in der Küche bist", ruft Oma Lucie ihrem Mann zu, "öffne doch bitte das Fenster, damit die Bratengerüche abziehen, danke!"

Enna horcht auf und verschwindet in der Küche. "Hände waschen", sagt sie zu Opa, der schon mal vorausgeht. Enna blickt zum offenen Küchenfenster. "Jetzt hat Brummi eine Chance", freut sie sich und läßt vorsichtshalber auch noch das Licht in der Küche an.



Gute Nacht

11. Oktober 2012