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GUTE-NACHT/3605: Besuch von nebenan (SB)


Gute-Nacht-Geschichten

Besuch von nebenan

Unter dem Wohnzimmertisch hat sich Enna eine Höhle gebaut. Ein paar Decken über den Tisch geworfen und schon ist es darunter urgemütlich. Uroma Magda hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als Enna die Schüssel mit den Äpfeln zur Beschwerung der Decken wieder auf den Tisch stellen wollte. "Kind", begann sie, "wenn du an den Decken ziehst, weil du gerade aus deiner Höhle hervor kriechst, fällt dir womöglich die Schüssel auf den Kopf."

Gegen Omas Ängstlichkeit ist nichts zu machen. Aber die Decken bleiben auch ohne die Schale auf dem Tisch liegen und Enna weiß selber, daß sie an den Decken nicht herumziehen kann, schließlich soll die Höhle ja eine Weile Ennas und Mausohrs Wohnung sein. Als Bett haben sich die beiden mehrere Kissen und eine Decke hereingeholt. Heute Nacht wollen sie hier unten schlafen. Wenn Enna Opa ihre Höhle zeigt, wird er sicher dafür sorgen, daß ihr das auch gelingt. Es ist nicht immer einfach, sich gegen vier Omas und einen Opa durchzusetzen.

Schnell klopft Enna noch bei Uroma Kathy an, um sich einen geheimen Proviant zu sichern. Da klingelt es an der Haustür. Enna stört das nicht weiter. Schließlich geht Oma Lucie sowieso jedesmal zum Öffnen selber an die Tür. Derweil steckt sich Enna mehrere Mandarinen in die Jackentasche und ein paar Kekse in ihre Brotbox aus dem Kindergarten. Für Mausohr bekommt sie extra zwei Mäusespeck aus der spitzen Tüte vom Kaufmann.

Als Enna zurück zum Wohnzimmer geht, hört sie eine fremde Stimme. Es könnte der Nachbar sein, der erst vor einigen Tagen nebenan eingezogen ist. Enna spitzt die Ohren und linst um die Ecke. Sie sieht einen Mann in der Tür stehen. Er hält seine Hand schützend auf der Schulter eines Jungen. Der mag genauso alt sein wie Enna. Jetzt erinnert sich Enna. Sie hat den Mann schon im Garten nebenan gesehen, den Jungen nicht. Nur seine Stimme hat sie schon einmal durch den Nachbargarten rufen hören. Aber im Moment sagt er nichts.

Der fremde Mann fragt: "Könnte mein Sohn vielleicht ein paar Stunden bei ihnen bleiben?" Oma sieht ihn wohl sehr merkwürdig an. Enna kann ihr Gesicht nicht sehen, aber der Nachbar spricht gequält: "Ich würde nicht fragen, wenn es nicht wichtig wäre."

"Kommen sie doch erst einmal herein", bietet Oma an und fragt gleich den Jungen nach seinem Namen. Aber der Junge antwortet nicht. "Ich kann nicht lange bleiben. Ich muß mit meiner Frau ins Krankenhaus fahren. Ihr Mann war gestern so freundlich, mir anzubieten, ich könnte Paul herüberbringen, wenn es soweit ist. Paul schien den alten Herrn gleich zu mögen." Oma Lucie versteht nicht recht, dann aber erinnert sie sich, wie sie den beiden Nachbarsleute beim Kaufmann begegnet ist und weiß Bescheid. Sie sagt: "Nun dann lassen sie Paul mal hier." Und zu Paul gewandt sagt sie: "Wir werden uns schon vertragen."

Während sie dann nach Opa Eggi ruft, verabschiedet sich der Vater von seinem Sohn. Enna kann es nicht hören. Damit keiner merkt, daß sie hinter der Tür gelauscht hat, huscht sie ins Wohnzimmer unter den Tisch. Ob der fremde Junge jetzt vielleicht auch noch mit in die Höhle will? Das würde aber ganz schön eng werden.

Der Vater ist gegangen. Oma hat Paul an den Küchentisch gesetzt und ihm Kekse und einen Kakao hingestellt. Inzwischen ist auch Opa aus dem Garten eingetroffen. Oma Lucie funkelt ihn böse an. Nicht, daß sie etwas dagegen hätte, daß Paul im Haus ist, sondern nur deshalb, weil Opa mal wieder nicht erzählte, was er mit dem Nachbarn abgesprochen hat. Opa bekommt eine Tasse Kaffee hingestellt, und Oma Lucie läßt die beiden allein. Sollen die beiden doch erst einmal miteinander warm werden.

Enna in ihrer Höhle packt den Proviant aus. Mausohr darf auf dem Kopfkissen des Bettes sitzen. "Aber nicht krümeln!", mahnt Enna. Sie ißt einen Keks und spitzt die Ohren. Was Opa und der fremde Junge sich jetzt wohl erzählen? Das wüßte Enna schon gern. Sie unterläßt sogar das Kauen, um die beiden besser hören zu können. Aber sie versteht dennoch nichts. Kann sie auch gar nicht, denn in der Küche wird kein Wort gewechselt.

Dann aber hört sie Opa fragen: "Spielst du Schach?" Der Junge scheint nicht zu antworten, aber wohl mit dem Kopf zu schütteln, denn Opa meint: "Nunja, ist ja auch nicht so einfach. Aber wenn du es mal lernen möchtest, sag Bescheid. Ich hab draußen noch was zu tun, willst du mitkommen?" Diesmal hört Enna ein leises "Ja". "Gut, die Jacke hast du ja noch an. Dann laß uns losgehen. "Willst du die Kekse mitnehmen?", fragt Opa. Doch eine Antwort vernimmt Enna nicht. Dann klackt die Tür zum Garten und beide sind fort.

Enna ärgert sich. Warum hatte ihr niemand diesen Paul vorgestellt? Sie schleicht in die Küche und schaut nach, ob noch Kekse übrig geblieben sind. Es liegen noch jede Menge auf dem Teller. Nicht einmal bei den Keksen hatten sie an Enna gedacht und sie gerufen. Schnell steckt Enna alle übrig Gebliebenen ein und verkriecht sich schmollend unter dem Wohnzimmertisch. Dort futtern Enna und Mausohr allen Proviant auf einmal auf. Davon wird Enna so müde, daß sie sich auf dem gemachten Bett ausstreckt und mit Mausohr im Arm einschläft.

Gute Nacht


5. November 2012