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KALENDERGESCHICHTEN/032: 08-2013   Zu Gast beim Buntspecht (SB)


Buntstiftzeichnung: © 2013 by Schattenblick

Jonathan, Rupert und Käpt'n Carlo

Zu Gast beim Buntspecht

Jonathan und Majon freuten sich über ihre Baumhöhle und auf das Frühstück mit Nuss, Samen und Grünzeug, dass sie noch hinauf schaffen wollten. Doch bevor sie sich auf den Weg machen konnten, wurden sie arg überrascht. Sie hörten beide ein sehr merkwürdiges Geräusch, und dann wurde ihr Fenster, das Oval, durch das eben noch helles Sonnenlicht strahlte, verdunkelt. Finsternis breitete sich nun auch in ihrer Höhle aus. Erschrocken drängten sie sich dicht aneinander und möglichst weit entfernt vom Fenster an die gegenüberliegende Baumhöhlenwand.

"Jonathan, was ist das?", flüsterte Majon.

"Weiß nicht, keine Ahnung ..."

"Was machen wir jetzt?", Majons Stimme zitterte leicht.

Noch bevor Jonathan antworten konnte, wurde es wieder etwas heller an dem Oval, und dann ragte ein großer dunkler Stock ...? - nein, ein Vogelschnabel hinein. Wenig später blickten die beiden Mäuse in zwei runde glänzende Augen. Nun steckte der ganze Vogelkopf in ihrer Höhle und sah sich um. Kurz entschlossen schlüpfte der ganze Vogel hinein, hob seine beiden Flügel etwas an, zupfte hier und da an einer Feder und schien sich ganz wohl zu fühlen.

"Da ist ja meine Nuss! Wie kommt die denn hierher? Na, so etwas, nee-aber-auch?" Er sprach es wie ein Wort und schüttelte ungläubig den Kopf. Anscheinend hatte der Vogel die beiden neuen Bewohner noch nicht entdeckt.

Majon sah wie der Vogel den Schnabel aufsperrte, um sich die Nuss zu greifen. "Nein, halt, das ist meine Nuss!", fauchte sie ihn an. Erschrocken klappte der Vogel den Schnabel wieder zu und staunte nicht schlecht, als er Majon erblickte.

"Deine Nuss? In meinem Nest?", rief er aus, "das glaub ich aber gar nicht. Sie sieht ganz genauso aus, wie die, die eben noch in meiner Nuss-Schmiede gelegen hat!"

Majon wurde nachdenklich. Er könnte wohl recht haben, denn sie hatte die Nuss vor einem Ast gefunden, die Schale lag allerdings noch festgeklemmt in einem Spalt dieses Astes. War das vielleicht die Nuss-Schmiede? Majon war unsicher und wollte lieber nicht darauf beharren, dass ihr die Nuss gehörte. Zudem fiel ihr gerade noch ein, dass der Vogel sagte, es sei sein Nest, in dem sie sich häuslich niedergelassen hatten. Da stupste sie die Nuss an und diese kullerte hinüber zu dem Vogel.

"Danke. Ich war ganz schön erschrocken, als ich sie unten nicht mehr finden konnte. Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange ich darauf herumgehämmert habe, um die Schale zu zertrümmern", erklärte er. Erst jetzt schien ihm aufzufallen, dass sich zwei ungebetene Gäste in seinem Heim aufhielten.

"Wie kommt ihr eigentlich in meine Höhle? Ich meine, was wollt ihr hier? Eingeladen hab' ich euch doch wohl nicht, oder?", verunsichert schaute er die Mäuse an.

"Nein, nein, wir sind einfach so hier hinein ..."

"Ah, ja, und womit seit ihr geflogen? Habt ihr eure Flügel versteckt?", wollte der Vogel wissen.

"Wie bitte?", entrüstete sich Majon, "was sollen wir denn mit Flügeln?"

"Na, fliegen zum Beispiel", schlug der Vogel vor.

Jetzt mischte Jonathan sich ein: "Darf ich mal kurz unterbrechen. Wir sind von unten hoch geklettert. Innen im Baum befinden sich Sprossen, auf denen sind wir hierher gelangt. Wir wussten nicht, dass du hier wohnst. Brauchst dich gar nicht erst aufzuregen, wir verschwinden und suchen uns ein neues Quartier!"

"Nun mal langsam, sehe ich etwa aus wie ein Ungeheuer?" Abermals hob er seine Flügel etwas an und murmelte halblaut: "Ich bin vielleicht ein Stoffel, dass ich mich noch gar nicht vorgestellt habe. Vielleicht sollten wir uns erst einmal miteinander bekannt machen, bevor irgendjemand wieder verschwindet?"

"Gute Idee. Ist mir auch 'n bisschen unangenehm, musst ja denken, dass wir Einbrecher sind. Sind wir aber nicht ...", begann Jonathan.

"Nein, nein, bestimmt nicht, wir sind nur auf der Flucht ...", fügte Majon hinzu.

"... und auf der Suche nach einer passablen Bleibe", erklärte der Mäuserich. "Ich heiße Jonathan und ..."

"... und ich Majon, guten Tag!", grüßte sie den Vogel freundlich.

"Nun, wie ihr inzwischen wisst, bin ich der Bewohner dieser wunderschönen Baumhöhle. Schon meine Vorfahren, also alle Buntspechte unserer Familie, haben hier gelebt. Ich heiße Raruck. Guten Tag. Vor wem lauft ihr denn davon?"

"Oh, das ist eine lange Geschichte, wirklich sehr lang. Ganz kurz: vor den Menschen!"

Nun wurde Raruck neugierig. "Menschen", wiederholte er, "ja, ja, schlimm, schlimm. Aber, ich höre unheimlich gerne Geschichten, lange Geschichten und sehr lange am allerliebsten", gurrte er versonnen. "Hört meinen Vorschlag", hob Raruck an, "ihr bleibt zum Essen. Wir machen es uns richtig gemütlich und ihr erzählt die lange Geschichte euer Flucht! Danach könnt ihr immer noch los fliegen, um ein Nest zu suchen. Was meint ihr?"

Jonathans Magen knurrte, er sah zu Majon hinüber und sie nickte ihm zu. "Ja, guter Vorschlag, gute Idee!"

"Dann werde ich noch rasch Grünzeug und Samen hinaufholen, eine Nuss für alle wird wohl zu wenig sein," schlug Majon vor.

So geschah es. Sie aßen und Jonathan erzählte von dem Tag, an dem er Rupert getroffen hatte, wie sie Bekanntschaft mit Käpt'n Carlo schlossen, dann gemeinsam den Kater Peterle aus dem Haus jagten, wie der Eingang zu seinem Mauseloch zugenagelt wurde, Herr Becker durch die Zauberkraft des Besens erstarrte und er, Jonathan, dann selbst in einen tiefen Erschöpfungsschlaf fiel. Jonathan berichtete, wie Käpt'n Carlo und Rupert ihn schlafend in den Garten gebracht und unter einem Busch versteckt hatten. Auch den Teil der Geschichte, in dem das Mädchen Telse mit einer Wurst in der Hand Rupert hat unvorsichtig werden lassen, schmückte er spannend aus. Wie Rupert unter dem Busch hervor kam, dem kleinen Mädchen dann auch noch ein Stück der Wust mopste, das Kind schrie, Herr Becker aus dem Haus kam und schließlich Rupert ins Haus schickte - auch das erzählte der Mäuserich mindestens ebenso aufregend, wie es wohl auch gewesen sein mag. Majon staunte über die lebhafte Art und Weise, in der Jonathan all das berichten konnte. Sie hatte das Gefühl alles selbst erlebt zu haben.

Jonathan erwähnte in seiner Erzählung, dass er von all dem nichts mitbekommen hatte, da er ja schlief, aber Käpt'n Carlo gut auf ihn acht gegeben hatte. Als er endlich wieder erwachte, erzählte * Käpt'n Carlo, was inzwischen alles geschehen war.

"So, jetzt kommt der schrecklichste Teil der Geschichte. Aber bevor ich weiter erzähle, muss ich erst mal was futtern, mir ist schon ganz komisch zumute", sagte Jonathan und nahm sich die Hälfte von der Nuss. Die andere lag direkt vor Majon zum Anbeißen bereit. Sie zögerte, schluckte und schob die Nusshälfte vorsichtig zu Raruck hinüber, denn sie fand es nicht richtig, dass sie davon aß und er nicht.

"Oh nein, iss du nur. Ich kann mir schon noch eine andere Nuss aufhämmern!"

Etwas verlegen begann sie zu knabbern und merkte dabei, wie hungrig sie war. Jonathan ließ es sich ungeniert schmecken. Als Nachtisch schnappte er sich noch ein paar Beeren und dann setzte er sich wieder gemütlich hin.

"Jetzt wird 's gruselig", begann er seine Erzählung. "Kurz nachdem der Käpt'n mir alles ausführlich berichtet hatte, kam das Mädchen wieder zurück, hockte sich vor den Busch und spinkste hinein. Ich ahnte es schon - sie konnte Käpt'n Carlo in seinem leuchtend roten Federkleid einfach nicht übersehen - aber mich, mich hat sie nicht entdeckt. Dann kam sie näher. Leute, ich sag' euch, das war eine brenzlige Situation. Was für ein Glück, dass ich schon wach war. So konnte ich mich blitzgeschwind unter einen Flügel vom Käpt'n verstecken. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Das Mädchen packte Käpt'n Carlo, umfing ihn mit ihren erstaunlich kräftigen Armen und drückte ihn an sich, so dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Zuerst versuchte er noch sich zu befreien, doch es gelang ihm nicht - aber mir. Ich rutschte etwas ungeschickt, muss ich schon sagen, hinunter auf die Erde, den Besen konnte ich gerade noch zu fassen bekommen und behielt ihn fest in meiner Hand. Niemand beachtete mich und das war verdammt gut so. Ich sah zu, wie das Mädchen den Käpt'n fort trug, fort aus dem Garten hinüber zu ihrem Haus und dann auf einen kleinen Schuppen zusteuerte. Dort hinein brachte sie Käpt'n Carlo."

"Oha, lebt er noch?", fuhr Rurack erschrocken dazwischen.

"Ja, ja, zum Glück", setzte Jonathan seine Erzählung fort bis er dort anlangte, wo sie gerade saßen.

Rurack staunte nicht schlecht: "O haua ha, o haua ha, was ihr schon alles Schlimmes erlebt habt, schlimm, schlimm! Wirklich eine schöne, schlimme Geschichte, das muss ich schon sagen!"

Majon und Jonathan wunderten sich ein wenig, sagten aber nichts.

"Habt ihr vielleicht noch mehr erlebt, ich meine so etwas richtig abenteuerliches und schreckliches?"

"Na, also mir war das alles schon gefährlich genug! Ich giere wirklich nicht nach noch gefährlicheren Abenteuern, nee, danke, mir reicht 's", entgegnete Jonathan und Majon nickte eifrig.

"Em, ja, ja, sicher, verstehe. Ihr seid auch echt schlimm dran, daran hab ich gar nicht gedacht, ihr könnt ja nicht einfach wegfliegen, wenn ihr in Gefahr seid", murmelte Rurack vor sich hin.

"Hast du denn vor gar nichts und niemanden Angst?", wollte Majon wissen.

"Ich muss zugeben, dass ich mich über den Baummarder und das Eichhörnchen total ärgere. Ja, ich bin so etwas von wütend auf diese, diese ...", ihm fehlten die Worte und er stockte einen Moment. "In diesem Jahr habe ich keine Kinder und muss mir deswegen also keine Sorgen um Baummarder und Eichhörnchen machen. Vor kurzem erst hörte ich vom anderen Ende des Waldes von geplünderten Nestern und gefressenen Eiern - furchtbar schlimm das!"

"Und dir selbst, dir kann keiner was?", erkundigte sich Majon etwas ungläubig.

"O, na ja, bisher hat es mit dem Wegfliegen noch immer ganz gut geklappt. Aber ganz ehrlich, auf eine Begegnung mit dem Habicht oder dem Uhu kann ich gut verzichten!"

Jonathan hörte gar nicht mehr richtig zu. In Gedanken war er ganz weit weg. Dann wurde er immer unruhiger: "Ich schlage vor, dass wir uns nun auf die Socken machen ..."

Majon sah ihn verwundert an: "Hast wohl zu lange bei den Menschen gelebt?"

"?, also, dass, egal, am besten scheint mir, dass wir uns auf den Weg machen", beendete Jonathan seinen Satz.

"Weißt du denn schon, wohin wir gehen?", wollte Majon wissen. Irgendwie kam es ihr ein wenig merkwürdig vor, dass Jonathan so schnell aufbrechen wollte. Er sah traurig aus und war ganz aufgewühlt. "Ist auch nicht so wichtig", fügte sie noch schnell hinzu, "wir laufen einfach erst mal los!"

"Ganz wie ihr meint. Falls ihr aber noch einmal auf euren Wegen hier in den Wald kommt, schaut doch bei mir vorbei. Ihr seid immer willkommen. Vielleicht habt ihr dann auch wieder etwas zu erzählen?" Dabei lachte er hoffnungsvoll und kullerte noch eine Nuss in Majons Richtung. "Hier, für unterwegs!"

"Danke, dann brechen wir jetzt auf. Pass gut auf dich auf!", verabschiedete sich Majon und Jonathan nickte Rurack freundlich zu.

Sie schnappten sich Nuss und Besen, kletterten die Sprossen hinunter und verließen den Baum. Nach einer Weile setzte Jonathan sich ins Gras und lehnte sich gegen einen riesigen Pilz. Majon tat es ihm gleich und sah ihren Gefährten besorgt an.

Buntstiftzeichnung: © 2013 by Schattenblick

Buntstiftzeichnung: © 2013 by Schattenblick

"Jonathan, irgendetwas stimmt doch nicht mit dir. Du sieht so traurig aus."

"Majon, ich hab so eine Sehnsucht nach Käpt'n Carlo und Rupert. Am liebsten würde ich umkehren!"

"Tja, aber dann sind wir wieder bei den Menschen. Toll finde ich das nicht!"

"Hast ja recht, aber ...", er sprach nicht weiter und senkte seinen Kopf.

"Jonathan, weißt du was, eigentlich ist es für uns Mäuse überall mehr oder weniger gefährlich. Also, ich gehe dahin, wo du hingehst - immer. Lass uns hier etwas verschnaufen, die Nuss aufessen und morgen suchen wir nach Rupert und Käpt'n Carlo!" Jonathan hob seinen Kopf und strahlte übers ganze Gesicht.

Fortsetzung folgt ...

zum 1. August 2013