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BERICHT/030: Fluchträume und Grenzen - dOCUMENTA (13) (SB)


Verengter Blick auf erweiterten Kunstbegriff

Rückblick auf dOCUMENTA (13) im September 2012 [*]


Warten auf Einlaß ins Fridericianum - Foto: © 2012 by Schattenblick

Rekorde aller Art sind nach dem Ende der dOCUMENTA (13) zu bilanzieren. Mehr als 860.000 Besucher, fast 300 Künstler an mehr als 60 Ausstellungsorten - eine Kunstausstellung der Superlative. Ein Tag vor ihrem Ende am 16. September machte als letzter prominenter Gast EU-Präsident José Manuel Barroso in Kassel Station. Er befand sich auf PR-Tour in Hessen, wo er dem Finanzplatz Frankfurt eine güldene Zukunft als Zentrale der europäischen Bankenunion prophezeite und die dafür zuständige Europäische Zentralbank (EZB) als gewinnbringenden Standortfaktor rühmte. Zufriedene Kommentare allerorten - die Stadt Kassel ist von den Zusatzeinnahmen durch die Documenta-Besucher ebenso begeistert wie das Hotelgewerbe oder die Bahn, die in Kooperation mit der Documenta innovative Vermarktungsmodelle erprobt. Doch die ökonomischen Perspektiven sind damit längst nicht ausgelotet, wie das Handelsblatt [1] berichtet. "Die wirtschaftlichen Möglichkeiten sind noch viel größer", meint Dieter Dahlhoff, Marketingexperte an der Uni Kassel, und Gerd-Michael Hellstern, Professor an der Universität Kassel, hebt hervor, daß 50 Prozent der Besucher Selbständige, Entscheidungsträger und Akademiker seien: "Diese Gruppe hat eine sehr viel größere Offenheit, um sich Anregungen einzuholen, welche Trends es in der Gesellschaft gibt".

Zweifellos läßt sich die dOCUMENTA (13) nicht auf die Interessen des Eventmanagements reduzieren, doch beruft sich die fast einhellige Zustimmung, mit der dieses Großereignis des Kunstbetriebs resümiert wird, auch auf diese Ergebnisse. Die künstlerische Qualität hingegen wird häufig mit Gemeinplätzen wie der wahrnehmungsverändernden Wirkung präsentierter Werke oder einer politischen Relevanz beschrieben, die vor allem an der Häufung ausgestellter Künstler aus dem arabischen Raum oder der Documenta-Dependance im afghanischen Kabul festgemacht wird. Die Installation von Thomas Bayrle, zu der ein vielbeachtetes, aus vielen kleinen Fotos collagiertes Flugzeug gehört, habe "unsere Wahrnehmung von Form und Bedeutung verändert", lobte die künstlerische Leiterin der dOCUMENTA (13), Carolyn Christov-Bakargiev, während der mit dem Arnold-Bode-Preis 2012 der Stadt Kassel ausgezeichnete Künstler der Ausstellung attestiert, sie "wollte keine unumstößlichen Antworten geben, sondern bildete die Welt mit all ihren Unsicherheiten gut ab". [2]

Die große Zustimmung steht denn auch in einem geradezu symbiotischen Verhältnis zu der notorischen Relativierung und Entuferung aller Versuche, das Gezeigte theoretisch zu reflektieren. Christov-Bakargiev selbst hat mit ihren Aussagen zum Verzicht auf jegliche konzeptionelle Grundlage der Kunstschau den Boden gelegt für eine Entuferung des Kunstbegriffs, die nicht etwa als radikale Überwindung tradierter Formen oder Gegenentwurf zum Imperativ kapitalistischer Verwertbarkeit funktionierte, sondern in der Unverbindlichkeit des gesellschaftlichen und politischen Kommentars auf überraschende Effekte, eine mit Arrangement und Design spielenden Ästhetik und die affirmativen Zirkelschlüsse kognitiver Wechselverhältnisse setzte.

Wenn eine Ausstellung den Stand der zeitgenössischen Kunst dokumentieren will, ohne sich als Gegenentwurf zum Primat der Ökonomie zu verstehen, wenn sie darauf verzichtet, die Widersprüche herrschender Verhältnisse mit ihren Mitteln zu verschärfen und sich anstelle dessen auf deren symbolische oder metaphorische Abbildung beschränkt, dann kann es nicht erstaunen, daß diese Kunst sich bestens dazu eignet, von Industriekonzernen und Finanzmarktakteuren gesponsort und ausgestellt zu werden. Gerade weil die Kasseler Documenta keine Kunstmesse, sondern den inhaltlichen wie formalen Ansprüchen künstlerischen Schaffens gewidmet ist, wäre sie im Prinzip frei dazu, die Totalität des neoliberalen Leistungs- und Effizienzprimats anzugreifen.

Dies erfolgte auf der dOCUMENTA (13) jedoch auf eine Weise, die niemandem wirklich wehtut und die zu nichts verpflichtet. Selbstverständlich lehnt jeder Mensch Krieg, Zerstörung und Unterdrückung ab. Aufgabe einer Kunst auf der Höhe herrschender Konfrontationen wäre es jedoch, sich nicht mit dieser Selbstverständlichkeit zu bescheiden, indem einzelne Exponate Zeugnis vollzogener Raubzüge und Destruktionen ablegen, sondern etwa die Frage aufzuwerfen, wieso trotz aller Anregung zum Nachdenken, die es auch auf der Documenta gab, die meisten Menschen in den wohlhabenderen Regionen der Welt bestens mit diesen Widersprüchen leben können.

Das ist nicht zuletzt Ergebnis der künstlerischen Ausrichtung der dOCUMENTA (13) auf eine antidialektische Konzeption von der Unbestimmbarkeit eines "no-concept-concept" [3]. Sie wolle der Auseinandersetzung mit der ausgestellten Kunst nicht durch ihre theoretische Herangehensweise vorgreifen, relativierte Christov-Bakargiev später ihren anfänglichen Versuch, auf jegliche Konzeption zu verzichten. Tatsächlich hat die Autorin, Kunsthistorikerin und Kuratorin mit italienischer wie US-amerikanischer Staatsbürgerschaft im Vorwege wie im Verlauf der Ausstellung sehr dezidierte Stellungnahmen abgegeben. So ist der programmatischen Widmung des Begleitbuchs zur dOCUMENTA (13) ein Begriff des Politischen zu entnehmen, der sich dadurch auszeichnet, daß er seiner konkreten Bestimmung im Verhältnis sozialer Widersprüche konsequent ausweicht. Auf den die Ausstellung betreffenden Gebieten der "künstlerischen Forschung und Formen der Einbildungskraft, die Engagement, Materie, Dinge, Verkörperung und tätiges Leben in Verbindung mit Theorie untersuchen, ohne sich dieser jedoch unterzuordnen", wird "Politisches" als "untrennbar" definiert "von einem sinnlichen, energetischen und weltgewandten Bündnis zwischen der aktuellen Forschung auf verschiedenen wissenschaftlichen und künstlerischen Feldern und anderen, historischen ebenso wie zeitgenössischen Erkenntnissen" [4].

Ausgewiesen wurde dieses "Bündnis" als "von einer ganzheitlichen und nichtlogozentrischen Vision angetrieben, die dem beharrlichen Glauben an wirtschaftliches Wachstum skeptisch gegenübersteht. Diese Vision teilt und respektiert die Formen und Praktiken des Wissens aller belebten und unbelebten Produzenten der Welt, Menschen inbegriffen." Hier nicht von einer Konzeption zu sprechen ist nur möglich im Sinne eines Understatements, das die intendierte Wirkung einer Grenzüberschreitung rhetorisch vollzieht, um ihrem Gegenteil gänzlich zu unterliegen. Im Interview mit der taz [3] erklärte die künstlerische Leiterin der dOCUMENTA (13) den "Verzicht auf ein theoretisch ausgefeiltes Konzept" gar als "eine Form des Widerstands gegen den Wissenskapitalismus, (...) gegen die Art und Weise, in der in unserer digitalen Welt Macht durch die Beherrschung des Wissens ausgeübt wird."

Sich dieser Herausforderung schlichtweg durch die Behauptung des Gegenteils zu entziehen gelingt nur zum Preis einer Verflachung, die im neoliberalen Postulat der flachen, von historischer und gesellschaftlicher Bedingtheit entkoppelten Welt ausschließlicher Marktsubjekte und -beziehungen ein um so herrschaftsaffineres Pendant findet, als ihre hierarchische Ordnung in der Suggestion horizontaler Ein- und Ausschließungsprozesse unsichtbar gemacht werden soll.

Man hat es mit einer Volte wider die im Kern gescheute Festlegung auf eine kunsttheoretische Position zu tun, die zur Rechenschaft verpflichtet und damit auf eine Weise gesellschaftlich wirksam würde, die unbestreitbare Ergebnisse zeitigen könnte. Christov-Bakargiev hat das Instrument einer gesellschaftliche Gewaltverhältnisse negierenden Verflüchtigungsstrategie nicht erfunden. Als prominente Exponentin des postmodernen Arrangements mit den Kommandohöhen einer Macht, deren zwingender und unterwerfender Impetus in der vermeintlichen Virtualität und Komplexität ihrer Manifestation auf eine bloße Erscheinungsform reduziert wird, bedient sie sich seiner lediglich.

Dies wurde auf sinnfällige Weise illustriert durch das Werk des britischen Künstlers Ryan Gander, der das in weiße Leere entschwindende Untergeschoß des Fridericianums von einem Windhauch unterschiedlicher Stärke und Intensität durchwehen ließ. "I Need Some Meaning I Can Memorise [The Invisible Pull]) unterstrich den flüchtigen Charakter einer sich auf Wahrnehmung stützenden Erkenntnis, die an feste Koordinaten und Orientierungspunkte zu binden allerdings dem Trugschluß verfällt, durch mehr kognitive Daten größere Haltbarkeit zu erzeugen. Das Gegenteil ist der Fall - der Wald, den man vor lauter Bäumen nicht sieht, erweist sich im endlosen Zirkelschluß der Masse-Raum-Zeit-Trinität als das Verhängnis fremdbestimmter Leiblichkeit zutreffend beschreibende Metapher. Die anhand dieser Parameter reflektierte Verortung des Menschen im Raum flieht mit der perspektivischen Überschreitung seiner Grenzen die Haltlosigkeit des Versuchs, den "Ort" zum Fixpunkt des inflationär verwendeten Raumparadigmas zu machen. Was bleibt ist der vergebliche Versuch, den Boden unter den Füßen zu ignorieren, auf den der Mensch in der Unvollständigkeit metaphysischer Höhenflüge zurückfällt.

Da diesen Räumen im wichtigsten Ausstellungsgebäude der Documenta seit jeher die Bedeutung eines für die gesamte Ausstellung emblematischen Initiationsritus zugeschrieben wird, repräsentieren sie auch die programmatische Unbestimmbarkeit des auf dieser Documenta propagierten Kunstbegriffs. So vertrat der Kunsthistoriker und Kurator Wulf Herzogenrath während einer von Deutschlandradio Kultur am 1. September 2012 veranstalteten Diskussion in Kassel die Ansicht, der Wind in diesen Räumen würde "unsere ganzen Vorstellungen, unsere Vorausschauen, die wir alle fertig im Kopf haben" wegpusten [5]. Andere Kommentatoren bewunderten den Mut, diese großen Räume leerzulassen, um ein Statement für die Leere abzugeben, oder lobten, wie Barbara Ettinger-Brinckmann, Präsidentin der Architekten- und Stadtplanerkammer in Hessen, daß man diese ansonsten durch Stellwände unterteilten "großzügigen Räume als Gesamtheit wieder sieht" [3]. Zweifellos kann man durch Weglassen neue Sichtweisen mobilisieren, doch wird die Materialität des Aggregats der Luft ebenso unterschätzt wie die Enge, die der Ferne komplementär entspricht.

Räume erfüllten auf dieser Documenta auch aufgrund der vielen Ausstellungsorte, die unter dem Leitmotiv "Zerstörung und Wiederaufbau" einen Bezug zur Kriegsgeschichte Kassels herstellten, die Funktion eines modellhaften Erklärungsmodells. Natascha Sadr Haghighian hat mit ihrem Projekt, einen Pfad an einem Hang in der Karlsaue anzulegen, der aus dem Schutt der Trümmer in den Bombenangriffen auf Kassel zerstörter Häuser besteht, Erinnerungen offengelegt und Fragen gestellt, die mehrere Faktoren kriegerischer Entwicklung betreffen. So tragen alle in den Kasseler Rüstungsbetrieben von Henschel und Wegmann gefertigten Panzer seit der NS-Herrschaft Tiernamen, doch keiner kann beantworten, warum genau diese Tradition begonnen und aufrechterhalten wurde. 25.000 Zwangsarbeiter mußten im Zweiten Weltkrieg in diesen Rüstungsbetrieben für einen Aggressor schuften, der ihre Heimat vernichtete, doch niemand schien daran etwas auszusetzen zu haben, daß die Gastarbeiter, die 1955 zur Zeit der ersten Documenta in Kassel eintrafen, in denselben Rüstungsbetrieben arbeiteten und in denselben Lagern untergebracht waren.

Die Rüstungsfabriken befanden sich mitten in der Stadt, und die Bombardements der Alliierten kosteten dementsprechend viele Zivilisten wie auch Zwangsarbeiter das Leben. Was in Kassel noch der Schwächung militärischer Kapazitäten galt, bedurfte im Irak 1991 keiner besonderen Vorwandslage mehr, wurde die zivile Infrastruktur des Landes doch ohne weitere Umschweife mit dem Ziel angegriffen, die Zivilbevölkerung zu treffen. 2005 wurden die Terrassen der im Krieg zerstörten Henschel-Villa, mit der der Pfad befestigt wurde, von einer Arbeitsloseninitiative in schwerer Handarbeit freigelegt, wie eher beiläufig in der Präsentation des Projekts [6] auf der Webseite der dOCUMENTA (13) angemerkt wird. Hier nachzufassen und die Kontinuität von Zwangs- und Gastarbeitern als Subjekte kapitalistischer Ausbeutung weiterzutreiben wäre durchaus von erhellendem Interesse gewesen.

Die auf der dOCUMENTA (13) anzutreffenden zeitgeschichtlichen Dokumente wurden dem politischen Anspruch der Ausstellung noch am ehesten gerecht, wie die Arbeit des algerisch-französischen Künstlers Kader Attia belegt. Unter dem Titel "The Repair from Occident to Extra-Occidental Cultures" wurden zum Teil aus zweckentfremdetem Militärmaterial hergestellte Artefakte präsentiert, mit denen afrikanische Handwerker die Produktivität der Kolonialmächte in die eigene Hand nahmen. Kontrastiert wurden diese Exponate mit Bildern von Kriegsversehrten des Ersten Weltkriegs, an denen plastische Operationen mit zum Teil grotesken Ergebnissen vollzogen wurden.

Auch die Arbeit "Scratching on Things I Could Disavow" des libanesischen Künstlers Walid Raad lohnte einen Besuch, gewinnt er seiner Kunstgeschichte der arabischen Welt doch durch seinen so amüsierten wie hintergründigen Kommentar zu den Agenturen finanzieller und geheimdienstlicher Manipulation einen kritischen Blickwinkel ab, der sich allerdings erst bei umfassenderer Beschäftigung mit seinem Werk erschließt. Sie gehört wie die Wandteppiche der 1970 verstorbenen norwegischen Kommunistin Hannah Ryggen zu den auch ästhetisch beeindruckenden Kunstwerken, in denen politische Unterdrückung und kriegerische Zerstörung manifest werden. Ryggens Arbeiten werden im Begleitbuch der dOCUMENTA (13) mit Pablo Picassos berühmtem Gemälde über die Bombardierung der baskischen Stadt Guernica verglichen. Daß sie nicht annähernd so bekannt sind, mindert ihre Bedeutung als künstlerische Stellungnahme gegen Krieg und Faschismus nicht im mindesten.

Einzelne Exponate von entschiedener politischer Stellungnahme können einen Kunstevent, der schon durch die schiere Menge des zu Sehenden, zu Hörenden und zu Erlebenden überforderte, dennoch keine gesellschaftskritische Wucht verleihen, wenn diese nicht im Grundsatz beabsichtigt ist. Dem stand die postmoderne Programmatik der dOCUMENTA (13) ebenso entgegen wie deren Erweiterung auf Afghanistan, wo das Motto "Zerstörung und Wiederaufbau" ganz und gar unironisch dokumentiert, aus welcher Fallhöhe dieser Krieg nicht nur mit militärischen Mitteln geführt wird. Wenn die Kultureliten der NATO-Staaten vor dem Hintergrund der "vier wichtigsten Positionen, um die sich die dOCUMENTA (13) dreht - Belagerungszustand, Hoffnung, Rückzug und Bühne" [4] Kunst in Afghanistan ausstellen, dann wäre eine kritische Reflexion der Einbettung eigener kultureller Normen und Werte in die Zurichtung der afghanischen Gesellschaft auf den zivilgesellschaftlichen und marktwirtschaftlichen Standard der Besatzer das mindeste, was dabei zu erwarten wäre. Ansonsten hat man es mit einem Übergriff zu tun, bei dem emanzipatorische Ansprüche gegen sich selbst gekehrt werden, um sie in den Dienst derjenigen Kräfte und Mächte zu stellen, die zu entlarven und konterkarieren seit jeher Aufgabe kritischer Kunst ist.

Auch der immer wieder betonte Anspruch, man wolle den Prozeß künstlerischen Schaffens darstellen, anstatt letztgültige Werke und Wahrheiten zu präsentieren, verging auf dieser Documenta an der nichtvorhandenen Bereitschaft, sich mit der politischen Ökonomie des Kunstbetriebs auseinanderzusetzen. Anstatt die Situation der Künstler in ihren zumeist prekären Lebenslagen zu reflektieren und das bourgeoise Distinktionsstreben dieser Art kultureller Produktivität anzugreifen schmückte man sich mit etwas Occupy-Ambiente, das als dOCCUPY auf eine Weise in die Ausstellung eingemeindet wurde, die das widerständige Potential als Exponat entsorgte. Die lange Liste von Sponsoren und Unterstützern aus allen Bereichen der Wirtschaft, Medien und Non-Profit-Industrie klärt ohnehin darüber auf, wie eng die Grenzen schonungsloser Gesellschaftsanalyse sind. So laborierte man auch in diesem Bereich eher auf dem Feld kulturindustrieller Beschwichtigung als künstlerischer Konfrontation.

Occupy-Camp vor Fridericianum - Foto: © 2012 by Schattenblick

dOCCUPY - Mutationen einer Protestbewegung
Foto: © 2012 by Schattenblick

Nicht weiter erstaunlich war auch, daß die dOCUMENTA (13) im Zeichen einer Nachhaltigkeitsideologie stand, die in der Abkopplung von den Mechanismen kapitalistischer Vergesellschaftung Ergebnisse von einer Betulichkeit individuellen Eintretens für die Zukunft des Planetens zeitigte, die zumindest den Konsumentinnen und Konsumenten nicht wehtun. Aller Anspruch auf eine Neuformulierung des Mensch-Tier-Verhältnisses, auf "Multispecies Intra-Action" [7] gerät zur Farce, wenn im Rahmen der Documenta für eine zwar tierfreundlichere, aber nichtsdestotrotz tierausbeuterische Landwirtschaft geworben wird. Zweifellos strebt die Bewegung gegen Massentierhaltung für eine Verbesserung der Haltung von Schlachtvieh, doch als solches bleibt das Grundproblem der Verstoffwechselung des anderen Lebewesens unberührt. Die Schrecken, die dieses Verhältnis zwischen Mensch und Tier birgt, könnten in ihrer künstlerischen Artikulation zu jener beunruhigenden Wirkung beitragen, ohne die Kunst in einer von Krisen und Konflikten gebrochenen Welt jeder Relevanz verlustig geht.

Bäume vor See im Auepark - Foto: © 2012 by Schattenblick

Naturschönes als Dauerausstellung
Foto: © 2012 by Schattenblick

So ist der Anspruch, Kunst weder logozentrisch noch anthropozentrisch zu konzipieren, nicht davon zu lösen, daß auch dies eine spezifisch menschliche Sichtweise ist. Die vielzitierte Tomate, die Carolyn Christov-Bakargiev zum Kunstwerk erklärte, wird dies nur in einer menschengemachten Welt, in der Gemüse und Pflanzen einem konkreten Nutzen, dem Verbrauch als Nahrung für Mensch wie Tier und den damit einhergehenden Manipulationen ihrer Form und Existenz, ausgesetzt werden. Fernab davon, den auf alle Lebewesen und Dinge übergreifenden Anspruch dieses Kunstbegriffs realisieren zu können, verbleiben auch Tiere in einem ihnen keineswegs zum Vorteil gereichenden Verhältnis, so daß der auf dieser Documenta allerorten anzutreffende ökologische Anspruch als Vorwand profaner Vernutzung in Erscheinung tritt.

Mit Sonnenenergie gebratenes Spiegelei - Foto: © 2012 by Schattenblick Mit Sonnenenergie gebratenes Spiegelei - Foto: © 2012 by Schattenblick

Alles dreht sich ums Spiegelei ... wo bleibt das Huhn?
Fotos: © 2012 by Schattenblick

Dies nicht zu tun verlangt die konkrete Adressierung der Gewaltverhältnisse, denen Lebewesen und Landschaften ausgesetzt sind, die durch kapitalkräftige Konzerne zerstört werden. Der indische Künstler Amar Kanwar lenkte mit seinem Projekt "The Sovereign Forest" anhand eines Films, der einen Lebensraum vor seiner Auslöschung durch seine Parzellierung und Verwertung zeigt, den Blick auf die Raubzüge der Rohstoffkonzerne, denen die Menschen auf dem indischen Subkontinent ausgesetzt sind. Der Angriff der globalen Saatgutindustrie auf die Autonomie einer Landwirtschaft, deren Getreide monopolistisch kontrolliert werden soll, um selbst die Subsistenzwirtschaft von Millionen Menschen unter das Kapitaldiktat zu zwingen, wurde durch die Sortenvielfalt, über die indische Bauern noch verfügen, konterkariert. Das eher im Schatten vielbesprochener Werke stehende Projekt dokumentiert den im Westen viel zu wenig beachteten existentiellen Kampf indischer Kleinbauern mit Hilfe der organischen Materialien, die ihnen nicht zur Ernährung, sondern für vielfältige Lebensbelange dienen.

Ein kulturgeschichtlich bedeutsames, ebenfalls im Naturkundemuseum Ottoneum präsentiertes Werk ist die Xylothek, die der an Naturgeschichte interessierte Tieraufseher Carl Schildbach zwischen 1771 und 1799 schuf. Der US-amerikanische Künstler Mark Dion schuf ein aus Eichenholz gefertigtes sechseckiges Kabinett, um diesem in Buchform gefaßten Archiv von 441 einheimischen Buch- und Straucharten zu neuer Geltung zu verhelfen. Was heute als multiperspektivische Präsentation digitalisierter Artefakte in Erscheinung träte, wird hier auf eine Weise gegenständlich, die dem Betrachter das Artifizielle und Flüchtige virtueller Räume schmerzlich bewußt macht.

Die Lebenswelt des Menschen über ihn hinaus zur Geltung zu bringen erfordert mehr als die Neukonstitution eines stets an den Logos gebundenen Erkenntnisvermögens. Damit wird keineswegs die Axt an die Wurzel einer Kognition gelegt, die in ihrer spezifisch humanen Entwicklungsgeschichte fesselt wie nach ihrer Überschreitung verlangt. Die von Christov-Bakargiev aufgeworfene Frage, welche Erkenntnis eine Flasche habe, wenn sie zu Boden fällt, belegt dies in aller Deutlichkeit:

"Sie weiß ganz viel, diese Flasche ist wie der beste Computer der Welt. Wir verfügen nicht über das Wissen, das diese Flasche hat. Unsere Computer können zwar einige Dinge gut simulieren, aber die Komplexität dessen, was diese Flasche im Fallen berechnet, ist immens. Deshalb ist meine Denkweise nicht nur eine Neubestimmung des Raums, sondern der Versuch, über die Welt mit dem Wissen nachzudenken, über das alle Schöpfer der Welt verfügen, nicht nur die Menschen, zumal wir da nur sehr geringe Erkenntnisse haben." [5]

Allein die Mutmaßung, daß eine Flasche rechnet, dokumentiert die Bindung menschlichen Vorstellungsvermögens an Verhältnisse des Teilens und Vergleichens, deren Proportionen und Fluchten den vergeblichen Versuch bedingen, dem Verhängnis des Aufpralls über perspektivische Manöver zu entkommen. Das Scheitern der Flasche, ihrem Zerschellen unaufhaltsam entgegenzufallen, mag in einer anderen Zeitdimension noch so fern liegen, doch die damit bestimmte Kausalität determiniert alles, was ihre Existenz ausmacht. Wo Christov-Bakargiev sich aus gutem Grund gegen die Suprematie einer Wissensgesellschaft stellt, die sich anmaßt, über alles Bescheid zu wissen, um jeden Widerspruch gegen ihr Leistungsprimat und Akkumulationsregime im Keim zu ersticken, verfällt sie ihm durch den kategorischen Übergriff auf Möglichkeiten der Erkenntnis, die nicht nichtmenschlicher Art sein können, wenn sie auf diese Weise konstatiert und kommuniziert werden können.

Bevor eine nichtmenschliche, alle Lebewesen respektierende und schützende Position zu erringen wäre, sollte die Frage nach der Zukunft des Menschen über die Grenze ihrer Widersprüchlichkeit hinaus getrieben werden. Wenn sich nicht einmal die Werte humanistischer Vernunft verwirklichen lassen, wie sollte ein derart an seinem eigenen Anspruch auf Emanzipation und Befreiung gescheitertes Wesen dazu in der Lage sein, mit anderen Lebensformen einen weniger zerstörerischen Umgang zu führen als mit denjenigen, die ihm am nächsten stehen? Die uneingelöste Position des Menschen in Anspruch zu nehmen verlangt, die Ohnmacht seiner Raub- und Gewaltstrategien mit einer Unausweichlichkeit zu konfrontieren, die Schritte über die Grenzen seiner sozialen Praxis und kognitiven Erkenntnis hinaus ermöglicht. Eine Kunst, die diese Auseinandersetzung nicht scheut, könnte von grundstürzender Wirkung sein.

So lief die dOCUMENTA (13) in dem Versuch, die widerständigen Energien einer längst in ihr Gegenteil umgeschlagenen arabischen Revolution in die Inzenierung künstlerischer Produktivität einzuspeisen, ebenso ins Leere einer gehobenen Eventkultur, wie sie mit der spektakulären Selbstinszenierung der US-amerikanischen Fotografin Lee Miller in Hitlers Badewanne dem massenmedial zelebrierten Kult, mit dem Abglanz des Bösen nach Bedeutung zu fischen, frönt. Mit der Entgrenzung des Anspruchs, alles und jedes zum Exponat seiner selbst zu machen, verhob sich die künstlerische Leiterin an jenen Letztbegründungen kapitalistischer Vergesellschaftung, die zu überwinden radikale, streitbare und damit einseitige Positionierung erfordert hätte. Der kulturindustrielle Verwertungsprimat legt sich wie Mehltau selbst auf die Ironisierung seiner Wirkkraft, wie an der Klanginstallation Susan Hillers "Die Gedanken sind frei" exemplarisch zu studieren war. Lieder aus der Geschichte des sozialen und politischen Widerstands präsentiert mit einer Music Box, die den Kitsch popkultureller Reproduktion auf die Spitze des Widerspruchs zwischen musikindustrieller Aneignung und antikapitalistischem Zorn trieb, erschienen denn auch als Spektakel eines Konsumismus, dem sich die Melodien und Texte noch so bitterer Kämpfe widerstandslos überantworteten.

Hyperreal illustriert wurde dies durch eine Szene vor dem Eingang zur Neuen Galerie, in der Hillers Projekt vor weißen, mit rebellischen Liedtexten ordentlich tapezierten Wänden inszeniert wurde. Eine junge Frau sammelte Pfandflaschen im Abfallkorb neben der Einlaßkontrolle, was einen männlichen Documenta-Mitarbeiter zu der Aufforderung veranlaßte, sie solle damit aufhören, sonst würde es etwas auf die Finger geben. Sein weiblicher Konterpart wandte, von so viel Ordnungsmacht bereits in die Defensive getrieben, schwach ein, daß sie dies doch brauche, um essen zu können. Der maskulinen Gewaltandrohung nicht gewachsen sagte sie dann zu der Flaschensammlerin, daß es noch zu früh dazu sei und stören würde. So konnte sich das wartende Publikum ganz ungestört auf den kommenden Kunstgenuß freuen, der im Falle Hillers darin bestand, eben dieses Gewaltverhältnis im klinischen Ambiente funktional reduzierter Ästhetik zu genießen.

So fügt sich die durchaus beeindruckende Gestaltung vieler Installationen und Artefakte der dOCUMENTA (13) in einer Welt, in der Konsumgüterindustrie und Dienstleistungsunternehmen mit Hilfe personalisierter Marketingstrategien, eines Gebrauchswert suggerierenden Designfetischismus und einer soziale Kontakte ritualisierenden Servicementalität den naturhaften Schein der Warendiversität und die Freiheit der Kaufentscheidungen zelebrieren, so fugenlos in die Logik der Effizienzoptimierung und Marktkonkurrenz ein, daß am Ende ein im bürgerlichen Wertekodex zwar arrivierter, aber nichtsdestotrotz dem gefälligen Verbrauch vorgesetzter Amüsierbetrieb herauskommt. Wenn Carolyn Christov-Bakargiev beansprucht, "die Kunst solange in der Schwebe zu halten, bis sie tatsächlich entsteht", um den Moment greifbar zu machen, "bevor Erkenntnis archiviert und in eine institutionelle Form gebracht wird" [5], dann greift sie nach den Quellgründen menschlicher Schaffenskraft und künstlerischer Subjektivität. Es ist gut zu wissen, daß die noch unerschlossenen Potentiale humaner Entwicklung auch mit den Mitteln der Kunst, die ihnen am ehesten adäquat zu sein scheinen, nicht anzueignen und auszubeuten sind. Es bleibt dem Mut unerschrockenen Erkenntnisstrebens und der Kontinuität unbescheidenen Schaffens überlassen, sich als Künstlerin und Künstler nicht den maßgebenden Normen und Werten gesellschaftlicher Zurichtung zu unterwerfen, sondern ihnen entgegenzutreten und sie zu überwinden.

Fußnoten:
[1] http://www.handelsblatt.com/panorama/kunstmarkt/documenta-2013-alle-sind-begeistert/7107642.html

[2] http://www.welt.de/newsticker/news3/article109185834/Mehr-war-nicht-zu-erwarten.html

[3] http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ku&dig=2012%2F06%2F02%2Fa0027&cHash=bda75e66e4

[4] Das Begleitbuch, Band 3/3 des dOCUMENTA (13)-Katalogs

[5] http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2012/09/01/drk_20120901_2304_56ea1e84.mp3

[6] http://www.d13pfad.de/interview-volker-lange-weinberg-henschel-truemmer/

[7] http://www.art-magazin.de/szene/54608/der_kongress_der_samen_last_days_of_documenta

Orangerie durch eine Seifenblase gesehen - Foto: © 2012 by Schattenblick

Paralleluniversum Documenta durchzieht den Auepark
Foto: © 2012 by Schattenblick

[*] Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Aus urheberrechtlichen Gründen wurden die Fotos der auf der dOCUMENTA (13) ausgestellten Kunstobjekte nach Ablauf der "aktuellen Berichterstattungsfrist" aus dem Schattenblick entfernt.

19. September 2012