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BERICHT/051: "Help Me Hurt Me" - fremdeln erwünscht ... (SB)



Seit dem 6. April 2017 zeigt die Hamburger Kunsthalle die Ausstellung "Help Me Hurt Me. Zwischen Fürsorge und Grausamkeit", die sich mit dem Erfahrungs- und Erlebnisbereich des Menschen auseinandersetzt.

Bei einer solchen Ausstellung, die eine Vielfalt zeitgenössischer Werke zeigt, weiß man vorher nie so recht, was einen erwartet. Im Keller der Kunsthalle werden derzeit die Meisterstücke der venezianischen Maler ausgestellt, dort weiß ich genau, was mich erwartet. Es steht auf dem Plakat und auf der Eintrittskarte, große Kunst, wunderschöne Ölgemälde in leuchtenden Farben, eben echte handwerkliche Meisterleistungen einer Kunstepoche.

Im ersten Stock aber finde ich mich in einem großen, kargen Raum wieder. Im Hintergrund schallt ununterbrochen "Help me! Hurt me!" in dissonanter Dauerschleife aus der Videoinstallation des amerikanischen Künstlers Bruce Naumann, dem die Ausstellung anlässlich seines 75. Geburtstages gewidmet wurde. An den Wänden sind drei Fotografien zu sehen, Portraits von Familien in Schwarz und Weiß, in der Mitte des Raumes steht ein gepolsterter Kubus, wohl ein Sitzmöbel. Ich begutachte die Bilder genau, lese den danebenstehenden Wand-Text und erfahre, was die Künstler sich gedacht haben sollen. Trotz Erklärung habe ich große Mühe, die Bilder auf mich wirken zu lassen und ihre Besonderheit zu erkennen.

Ein wenig in Verlegenheit gebracht von dem für mich bisher wenig nachvollziehbaren Ausstellungsinhalt, gehe ich weiter in den nächsten Raum, in dem eine halbdurchsichtige, hellblaue Gardine vor den großen Fenstern der Kunsthalle hängt. Durch den leichten Stoff kann man die Alster im Hamburger Aprilregen sehen und zu meinem Erstaunen steht auch hier ein Text an der Wand. Auch die Gardine ist Teil der Ausstellung, der Künstler möchte die Trennung von Innen und Außen, von privatem und öffentlichen Raum verdeutlichen. Je länger ich vor der Installation stehe, desto mehr wünsche ich mich in den Keller zu den venezianischen Malern, deren Kunst durch ihre Ästhetik und Plastik so viel einfacher zu greifen scheint. So schreite ich von Raum zu Raum und finde wenig Ansprechendes. Immer weniger Zeit verbringe ich mit dem Versuch, die Bilder und Skulpturen zu verstehen und komme kurz darauf am Ende der Ausstellung an. Das soll es jetzt gewesen sein? Nun, es gab wohl das eine oder andere Highlight - die Installation "Chor der Heuschrecken", die mit mechanischen Schreibmaschinen und Elektromotoren alle paar Minuten Lärm macht zum Beispiel, aber der Rest?


© VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Photo: Kay Riechers

Rebecca Horn (*1944)
Chor der Heuschrecken I, 1991
33 Schreibmaschinen, 1 Schreibmaschinenkoffer,
Blindenstock, Metall,
Elektromotoren, Elektronik
351 x 349 x 270 cm über alles
Hamburger Kunsthalle / Dauerleihgabe der Stiftung für die Hamburger Kunstsammlungen
© VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Photo: Kay Riechers

Wird Gegenwartskunst richtig eingesetzt, kann sie den Betrachter an die Hand nehmen und dabei helfen, einen neuen Blickwinkel auf die eigenen Handlungen einzunehmen. Genau dieser Effekt wird von "Help Me Hurt Me" erzielt, denn der Vermeidungsmechanismus, der bei meinem Durchschreiten der Ausstellung eingesetzt hat, ist von den Künstlern und Kuratoren möglicherweise beabsichtigt. Die Ausstellung ist ein Ausdruck der Enttäuschung darüber, dass wir uns nicht mit dem Gedanken- und Gefühlsraum unserer Mitmenschen auseinandersetzen wollen und jede Möglichkeit zur Vermeidung nutzen. Nachdem ich die ersten Kunstwerke nicht verstanden habe, wurde meine Bereitschaft, das Folgende auf mich wirken zu lassen, immer geringer. Dabei ignorierte ich, dass die Gardine, deren Symbolik ich anzweifelte, für den Künstler so wirkmächtig, ihre Botschaft so signifikant war, dass er sie zum Medium seines Ausdruckes erhoben hat. Hätte ich tatsächlich versucht, seinen Standpunkt einzunehmen und seine Gedanken mitzudenken, statt möglichst schnell die Lücken mit eigenen Urteilen zu füllen, hätte ich womöglich etwas dazu gewonnen. Die Voraussetzung dafür ist jedoch das Zugeständnis, dass mein Gegenüber nicht langweilig oder dumm ist, nur, weil ich ihn nicht verstehe.

Hört man schon bei der Frage "Was soll das?" auf, weiter zu forschen und zu denken, bleibt eine ganze Dimension verschlossen, nicht nur in der Kunst. Die Werkzeuge, derer man durch diese Auseinandersetzung Herr werden kann, sind weit über die Grenzen einer Museumsausstellung hinaus anwendbar und es lohnt sich, die Unbequemlichkeiten der Erschließung in Kauf zu nehmen.

Manchmal muss man eine Ausstellung ein zweites Mal durchschreiten, um sie zu verstehen. Die Unbequemlichkeit, die eine Konfrontation mit den eigenen Vermeidungsstrategien mit sich bringt, mag einen Besuch von "Help Me Hurt Me" nicht unbedingt ansprechend erscheinen lassen. Dennoch sollte man sich überlegen, ob man diese Möglichkeit zur Entwicklung nutzen möchte, denn trotz aller Verständnisprobleme schlägt die Kunst an dieser Stelle eine sehr gangbare Brücke. Die venezianischen Meister kann man sich auf dem Weg nach draußen dann immer noch angucken.


© Hamburger Kunsthalle / bpk - VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Photo: Kay Riechers

Bruce Naumann (*1941)
Anthro/Socio. Rinde Spinning, 1992
(Raumansicht)
Farbe, Ton, sechs Video-Discs, NTSC, Loop
© Hamburger Kunsthalle / bpk
VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Photo: Kay Riechers


HONEY, I REARRANGED THE COLLECTION
#2 Help Me Hurt Me
Zwischen Fürsorge und Grausamkeit
7. April 2017 bis 7. Januar 2018 in der Hamburger Kunsthalle

20. April 2017


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