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BERICHT/057: documenta, Fragen und Kritik - Pfad der Künste, Weg der Zweifel (4) (SB)


Eine Schar weißgekleideter Frauen gruppiert sich am Fuße des Parthenons der verbotenen Bücher. Schnell schwillt die Schar des kunstinteressierten Publikums, das den Friedrichsplatz an diesem Sonntag Anfang Juli trotz regnerischen Wetters bevölkert, an. Öffentliche Performances sind auf der documenta 14 eher dünn gesät, und das hier sieht ganz und gar danach aus, als gehöre es zum Programm der Kunstausstellung. Mehrsprachige Zettel werden verteilt, und schon erschallt das "Gebet der Mütter". Gesungen wird im Wechsel auf hebräisch, arabisch und deutsch, zwei Fahnen in Regenbogenfarben mit den Schriftzügen für das Wort "Frieden" unterstreichen, worum es diesem Chor geht. Schließlich fassen sich die Menschen an den Händen und ziehen, den nun stärker herunterprasselnden Regen tapfer ignorierend, singend über den Friedrichsplatz.



Chor vor dem Parthenon der verbotenen Bücher - Foto: © 2017 by Schattenblick

"Gebet der Mütter" frei nach Yael Deckelbaum
Foto: © 2017 by Schattenblick


Friedensfahne mit arabischer und hebräischer Aufschrift - Fotos: © 2017 by Schattenblick Friedensfahne mit arabischer und hebräischer Aufschrift - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Gute Wünsche für aussichtslos erscheinende Fälle
Fotos: © 2017 by Schattenblick


Menschen fassen sich an den Händen und bilden Kreise - Foto: © 2017 by Schattenblick

Friedensbewegter Friedrichsplatz
Foto: © 2017 by Schattenblick

Marianne Schneider, die Initiatorin der Aktion, erklärt gegenüber dem Schattenblick, daß es sich um einen Flash Mob handelt, zu dem sie die israelische Friedensaktivistin Yael Deckelbaum [1] inspiriert habe. Deren Lied "Prayer of The Mothers" wurde auch im Oktober letzten Jahres auf dem "Marsch der Hoffnung" gesungen, bei dem ein breites Bündnis israelischer und palästinensischer Frauenorganisationen zwei Wochen lang quer durch Israel nach Jerusalem wanderte, um ein gewaltfreies und für beide Seiten akzeptables Ende des Konfliktes zu fordern. Marianne Schneider, die seit langem in der nahegelegenen Kommune Kaufungen lebt und Seminare für gewaltfreie Kommunikation veranstaltet, ist der Ansicht, daß hierzulande allemal möglich sein sollte, was im Nahostkonflikt so lange verfeindeten Gruppen miteinander versuchen. Dieser steht für einen besonders tiefgreifenden Konflikt zwischen ethnisch und religiös definierten Gruppen, ganz allgemein geht es den Frauen in Kassel jedoch darum, der Sehnsucht nach Frieden auf universale Weise Ausdruck zu verleihen, so die Aktivistin, deren spontane Versammlung ohne jegliche Beanstandung durch die documenta stattfinden konnte.


Inschrift auf dem Portal des Fridericianums - Foto: © 2017 by Schattenblick

Banu Cennetoglu "BEINGSAFEISSCARY", überwölbt von Beuyscher Eiche
Foto: © 2017 by Schattenblick

Kulturimport aus Griechenland - wie streitbar darf Kunst sein?

Dort, wo ansonsten in großen metallenen Lettern MUSEUM FRIDERICIANUM über dem Eingangsportal des baulichen Mittelpunktes der documenta zu lesen ist, steht nun in einem Wort BEINGSAFEISSCARY geschrieben. "Sicher zu sein macht Angst" - Banu Cennetoglu legt den Finger in die Wunde der Unentrinnbarkeit eigener Flüchtigkeit und Nichtigkeit, in der sich die Ängste und Schmerzen flüchtender Menschen ebenso wiederfinden wie die Ohnmacht der vollends Verlorenen. Der vermeintliche Gegensatz zwischen Angst und Sicherheit ist keiner, denn das Versprechen auf letzteres markiert den Fluchtpunkt all dessen, was so inakzeptabel ist, daß es nach Kräften ignoriert und verdrängt wird.

Der in Ankara geborene Künstler arbeitet gerne mit im Wortsinn schweren Schriften wie diesen Messingbuchstaben. Sein auf der documenta 14 in Athen ausgestelltes Werk "Gurbet's Diary" weist das Ewigkeitsmerkmal in Stein gehauener Schrift auf. Auf 145, insgesamt 1800 Kilogramm schweren Kalksteinplatten, die sich als Druckvorlage nutzen lassen, wird die Geschichte der kurdischen Freiheitskämpferin Gurbetelli Ersöz in deren eigenen Worten erzählt. Nachdem die Journalistin von den türkischen Behörden verhaftet und gefoltert worden war, kämpfte sie in der kurdischen Guerilla. Das Tagebuch, das sie dabei bis zu ihrem Tod 1997 geführt hat, wurde 1998 in der Bundesrepublik veröffentlicht. 2014 erschien eine Ausgabe in türkisch, die schnell verboten wurde. Gurbetelli Ersöz wurden von einem in Deutschland hergestellten Panzer beide Beine weggerissen - wie gut hätten die steinernen Druckmatrizen, mit denen sich neue Ausgaben ihres Tagebuchs fertigen lassen und die das kurze, von 1965 bis 1997 währende Leben der Kämpferin lange überdauern werden, in die Panzerstadt Kassel gepaßt!


Zwei Installationen und ein Gemälde der EMST-Sammlung im Fridericianum - Fotos: © 2017 by Schattenblick Zwei Installationen und ein Gemälde der EMST-Sammlung im Fridericianum - Fotos: © 2017 by Schattenblick Zwei Installationen und ein Gemälde der EMST-Sammlung im Fridericianum - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Nikos Alexiou "The End", Stelios Faitakis "Fortunately absurdity is lost (but they have hoped for much more)", Lucas Samaras "Hebraic Embrace"
Fotos: © 2017 by Schattenblick

Im Fridericianum wird die Sammlung des Athener Nationalen Museums für Zeitgenössische Kunst (EMST) gezeigt. Ob diese Form des Kulturtransfers im Sinne des vielzitierten Arbeitstitels der documenta 14, "Von Athen lernen!", als Gegenbewegung zur ökonomischen Ausplünderung Griechenlands durch den deutschen Imperialismus verstanden werden kann, darf schon angesichts des Problems bezweifelt werden, daß die Sammlung des EMST aufgrund krisenbedingten Geldmangels trotz des bezugsfertigen Gebäudekomplexes einer ehemaligen Brauerei in Athen bislang dort nicht ausgestellt werden konnte. Was die Spardiktate der Troika, für die die Bundesregierung maßgeblich verantwortlich zeichnet, verhindert haben, wird durch eine von deutschen Funktions- und Geldeliten hochsubventionierte Großveranstaltung möglich gemacht, allerdings in deren eigenen Hallen. Bedenkt man zudem, daß die verbliebenen Staatsmittel Griechenlands für die weitere Aufrüstung seiner Streitkräfte unter ausdrücklicher Billigung der Troika weiterfließen und nicht zuletzt in Kassel angesiedelte Rüstungsunternehmen davon profitieren, dann bildet sich der Ertrag dessen, was in Athen gelernt wurde, in Kassel ab.


Schrifttafel 'Antidoron' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Erklärendes und Verklärendes - öffentlich ausgehängter Text zur EMST-Sammlung im Fridericianum
Foto: © 2017 by Schattenblick

Tatsächlich erklärt die EMST-Direktorin Katerina Koskina, man habe bei dieser Kooperation eine Menge von Kassel gelernt. "ANTIDORON", so die programmatische Überschrift für die erste ausführliche Präsentation der Sammlung des EMST, bezeichnet ein nach dem byzantinischen Ritus gesegnetes Brot, das auch von nichtorthodoxen Gläubigen verzehrt werden kann, weil es nicht der sakramentale Leib Christi sei. Hier verstanden als "Konzept des Teilens", setze das Präfix "anti" "eine eigenständige Position voraus und damit eine Sichtweise, die nicht notwendigerweise der anderen Position entgegengesetzt ist, sondern vielmehr von einem anderen Ausgangspunkt ausgeht, um von dort aus zu kommunizieren, zu argumentieren, Gräben zu überbrücken, zu konvergieren und die Haltung der Anderen zu akzeptieren." [2] Denkt man an das hierarchisierte Verhältnis Deutschland-Griechenland, dann könnte "anti" auch als Ausdruck kulturpolitischen Widerstandes gegen die Unterwerfung unter deutsches Hegemonialstreben verstanden werden.


Zelt mit Aufschriften, Wand mit gerahmten Photografien - Fotos: © 2017 by Schattenblick Zelt mit Aufschriften, Wand mit gerahmten Photografien - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Emily Jacir "Memorial to 418 Palestinian Villages Which Were Destroyed, Depopulated, and Occupied by Israel in 1948" und Arbeiten aus der Serie "Bethlehem and Ramallah"
Fotos: © 2017 by Schattenblick


Plakat der Palästina-Solidarität - Foto: © 2017 by Schattenblick

... zum gleichen Thema irgendwo an einer Wand in Kassel
Foto: © 2017 by Schattenblick

Durchaus förderlich ist die Anwesenheit der EMST-Sammlung in Hinsicht auf die ausgiebige Thematisierung des Themas Flucht und ihrer Gründe. Es erstreckt sich auch auf den Nahostkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern, der in Griechenland meist auf sehr parteiische, den Opfern des israelischen Siedlerkolonialismus zugewandte Weise verfolgt wird. Eine Installation der palästinensischen Künstlerin Emily Jacir enthält schon in ihrem Namen eine Anklageschrift: "Memorial to 418 Palestinian Villages Which Were Destroyed, Depopulated, and Occupied by Israel in 1948". Das Zelt mit den Namen nicht mehr vorhandener Dörfer wurde unter starker Beteiligung ehemaliger Bewohnerinnen und Bewohner wie von Menschen, die heute in den an ihrem früheren Ort errichteten Wohnstätten leben, aus Palästina und Israel 2001 im New Yorker Atelier der Künstlerin aufgebracht. Ergänzt wird die Arbeit durch die Fotoserie "Bethlehem and Ramallah, April 2002".

Von der in Kassel aktiven, angeblich antifaschistischen Linken, die regelmäßig auf Veranstaltungen der Palästinasolidarität losgeht, blieben die Installationen bislang verschont. Dabei wäre die documenta ein hervorragender Anlaß, einer Israelsolidarität, die keinen Begriff von kapitalistischer Eigentumsordnung und kolonialistischer Herrschaft hat, sondern Faschismus fast ausschließlich als Jüdinnen und Juden bedrohende Gewaltherrschaft versteht, Stimme und Gesicht zu verleihen.


Videoinstallation mit zwei Screens - Fotos: © 2017 by Schattenblick Videoinstallation mit zwei Screens - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Vielbeachtete Szenen aus Köken Ergun "I, Soldier"
Fotos: © 2017 by Schattenblick

Von großer Aktualität und beklemmender Aggressivität ist das siebenminütige Video "I, Soldier" des Istanbuler Künstlers Köken Ergun. Er hat junge türkische Soldaten bei einer Propagandaveranstaltung in einem Sportstadium aufgenommen, die als Dokument militaristischer Verherrlichung der Nation und propagierter Opferbereitschaft kaum zu übertreffen ist. Die von dem tonangebenden Offizier ausgestoßenen Drohungen gegen Verräter in den eigenen Reihen zeigen, daß der vielbeschworene Korpsgeist auf nach innen wirkender Gewalt beruht, der der nach außen gerichteten Zerstörungswucht in nichts nachsteht. 2005, als die Arbeit produziert wurde, befanden sich die Militärs in der Türkei noch in einer mächtigeren Position. Ihre Entmachtung durch den Quasi-Diktator Erdogan zeigt, wie sehr die vom Staat ausgehende Gewalt politisch determiniert ist, also das militaristische Element, will sich die Exekutive seiner dauerhaft bedienen, nicht auf seine gesellschaftliche Anerkennung verzichten kann.

Viele Exponate im Fridericianum wirken an diesem Sonntag ein wenig verwaist. Das mag an ihrer geringen Einbindung in eine verständliche Kontextualisierung liegen, könnte aber auch Ergebnis der wenig kohärenten, im Einzelfall auch etwas beiläufig wirkenden Präsentation liegen. Kleine Attraktionen wie die disco-artige Inszenierung in der Eingangshalle oder das verspiegelte Objekt in einem Seitenflügel sind zweifellos unterhaltsam, doch warum ist der Sitz des Parlaments der Körper in der Rotunde des Fridericianums von einem übergroßen, aus Kunststoffelementen zusammengefügten Panzer besetzt, dessen Kanone in Richtung Eingang zielt? Wird hier die überfällige Kritik an den in Kassel ansässigen Rüstungsunternehmen geleistet? Wenn das der Fall sein sollte, dann nicht auf eine so explizite Weise, daß man es nicht auch übersehen könnte.


Hausfassade, Dinosaurierstatue, rauchende Installation am Fridericianum - Foto: © 2017 by Schattenblick

Ottoneum mit Naturkundemuseum und temporärer Ausstellung der documenta 14
Foto: © 2017 by Schattenblick

Indigene Kunst und kolonialistisches Vermächtnis

Der dem Fridericianum am nächsten gelegene Ausstellungsort ist das Ottoneum, ein Anfang des 17. Jahrhunderts als Theater errichtetes Gebäude, das im 19. Jahrhundert in ein Naturkundemuseum umgewandelt wurde. Absolut sehenswert ist die dort angesiedelte, über 200 Jahre alte Holzbibliothek. Diese enzyklopädische Naturaliensammlung besteht aus Büchern, die aus dem Material gefertigt wurden, über das sie Auskunft geben. Eingebunden in Buchdeckel und -rücken aus Holz und Rinde des jeweiligen Baumes oder Strauches entfalten sich in ihrem Innern die dazugehörigen Blätter, Blüten und Früchte in dauerhaft konservierter Form. Obgleich kein Exponat der documenta 14, fügte sich dieses Naturarchiv bestens in die große Reihe von Kunstwerken, die mit Schrift und Text, Druck und Buch die Kulturtechnik des Schreibens und Lesens als künstlerische Ressource erschließen.


Zwei Videoscreens mit Zuschauern - Fotos: © 2017 by Schattenblick Zwei Videoscreens mit Zuschauern - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Überwältigende Klang- und Bildfülle aus dem Regenwald - Khvay Samnang "Preah Kunlong"
Fotos: © 2017 by Schattenblick

Der zur documenta 14 gehörige Teil des Ottoneums bietet einige sehenswerte Beispiele für zeitgenössische Kunst auch aus dem globalen Süden, wo Auffassung und Erkenntnis von Natur von ganz anderer Art sein können. So bildet der kambodschanische Künstler Khvay Samnang die Lebensrealität der Chong ab, ein in Kambodschas letztem zusammenhängenden Regenwald im Südwesten des Landes lebendes Volk. Auch deren - im Sinne perspektivisch auszubeutender Natur - als Reservat zu bezeichnendes Gebiet wird in seinem Bestand durch einen Extraktivismus bedroht, der die Lebensrealität der meisten indigenen Bevölkerungen inzwischen mit ökozidaler und genozidaler Finalität bedroht. In Samnangs Videoinstallation bringt der Tänzer Nget Rady zum Ausdruck, wie die Chong mit ihrer natürlichen Umgebung interagieren und versuchen, ihr Land durch den besonderen Kontakt, in dem sie zu ihm stehen, dem Zugriff der Palmöl-, Bergbau- und Energiekonzerne zu entziehen.


Schräge Glasfläche über drei grafischen Kunstwerken - Foto: © 2017 by Schattenblick

Präsentation mehrerer Kartenwerke von Keviselie (Hans Ragnar Mathisen) im Ottoneum
Foto: © 2017 by Schattenblick

Der in Norwegen lebende Same Hans Ragnar Mathisen mit dem Künstlernamen Keviselie hat einige Karten der in Norwegen, Schweden, Finnland und Rußland liegenden Gebiete geschaffen, in denen die samische Bevölkerung lebt. Sie sind quasi animistisch animiert, indem sie landschaftliche und natürliche Eigenheiten der Region zeigen, aber keine territorialen Grenzen aufweisen. Der durch die samische Benennung herausragender topographischer Merkmale artikulierte Anspruch der Samen auf die Region bricht nur scheinbar mit dem transnationalen und kosopolitischen Anspruch der Kuratorinnen und Kuratoren. Dies und die vielen anderen auf der documenta 14 präsentierten Exponate indigener Genese legen Zeugnis kollektiver Zusammenhänge ab, die über territoriale, nationale und ethnische Identitäten nicht nachdenken müßten, wenn sie nicht durch äußere Übergriffe dazu gezwungen würden. Die ihnen aufoktroyierten Staatsgrenzen und abverlangten Nationalzugehörigkeiten zu relativieren, ihre materielle Lebenswirklichkeit gegen die Aneignungsversuche durch Staat und Kapital ermächtigter Exploratoren zu verteidigen als auch ihre sprachlichen Kommunikationsformen zu wahren nötigt ihnen jedoch Zugeständnisse an eine zivilisatorische Entwicklung ab, die sie sich nicht ausgesucht haben.

Die Idealisierung und Glorifizierung indigener Kunst und Kultur geht daher ebenso an der Sache vorbei wie deren Kritik aus antinationaler und antifaschistischer Sicht, sofern keine konkrete Übernahme nationalistischer und rechtsradikaler Inhalte durch indigene Bevölkerungen vorliegt. Wer in der totalen Durchdringung durch die kapitalistische Moderne und Globalisierung noch versucht, ein anderes, möglicherweise über Jahrhunderte eigenständiger Entwicklung tradiertes Leben zu leben, und unter den anthropologische Definitionshoheit beanspruchenden Begriff des Indigenen subsumiert wird, muß mitunter erleben, sich ideologiekritisch gerierenden und dabei neokolonialistisch und eurozentrisch agierenden Angriffen ausgesetzt zu sein. Dem Problem linker radikalökologischer Gruppen, einerseits jede Bindung an Land und Tradition als völkisch zu kritisieren, andererseits indigenen Widerstand, der sich auf elementare Weise an den angestammten Ort und die eigene Herkunft beruft, zu unterstützen, ist der Kulturtheoretiker Gene Ray in einem Essay zur documenta 14 unter dem Titel "Den Ökozid-Genozid-Komplex beschreiben: Indigenes Wissen und kritische Theorie in der finalen Phase" [3] auf den Grund gegangen.


Drei Siebdrucke mit Zuschauerin in weiß und blau - Foto: © 2017 by Schattenblick

Dale Harding "Reckitt's Blue" im Ottoneum
Foto: © 2017 by Schattenblick

Der in der Stammeskultur der Aborigines verwurzelte Künstler Dale Harding hat den zum Teil uralten Schablonenbildern im Carnarvon Gorge in Central Queensland Motive entlehnt, die von einer Lebenswirklichkeit zeugen, die auf einen kulturellen Überbau namens Kunst gut verzichten kann. Ein über die praktischen Seiten der Bewältigung basaler Notwendigkeiten hinausgehender Ertrag muß nicht erwirtschaftet werden, wenn diese Praxis weder fremdbestimmt noch von anderen Ansprüchen überdeterminiert ist. Bei diesem wie anderen Werken indigener Künstlerinnen und Künstler wäre denn auch zu fragen, ob das zivilisatorische Konzept der Kunst eher fesselnden denn befreienden Charakter hat. Nicht von vornherein auf staats- und marktförmige Weise vergesellschaftet zu sein, nicht den Imperativen rationaler Funktions- und Nutzenlogik zu unterliegen könnte bedeuten, einen Entwicklungspfad zu begehen, der dem Projekt der Menschwerdung ganz andere Seiten und Schritte abgewinnt als die einer Entwicklung der Produktivkräfte, die den immanenten Zweck suffizienter Reproduktion längst überholt haben und in desaströser Zerstörung leerlaufen.


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Nomin Bold "Green Place" im Ottoneum
Foto: © 2017 by Roman Maerz


Blick vom Friedrichsplatz in Richtung Karlsaue - Foto: © 2017 by Schattenblick

documenta-Halle, Rahmenbau und Installation von Hiwa K
Foto: © 2017 by Schattenblick

Fluchtpunkt Kassel

Hier im Zentrum der documenta-Stadt Kassel liegen die Ausstellungsorte hochkarätiger Kunst so nah beieinander, daß die großen Distanzen zwischen den in unwirtliche Nachkriegsarchitektur eingebetteten documenta-Orten in der Nordstadt fast wie ein Gegenentwurf zur hohen Dichte künstlerischer Präsentation zwischen Friedrichsplatz und Karlsaue wirken. Strömt das Ottoneum den Charme einer Stilelemente des Barock wie der Renaissance aufweisenden Baukultur aus, so beeindruckt die 1992 eröffnete documenta-Halle mit der Transparenz ihrer gläsernen Außenfassade, den klaren Linien und der luftigen Weite ihrer Ausstellungsräume.


Diverse Masken und Publikum - Foto: © 2017 by Schattenblick

Beau Dick "Masken" im Eingangsbereich der documenta-Halle
Foto: © 2017 by Schattenblick

Gleich im Eingangsbereich findet sich ein Zeugnis indigenen Kunstschaffens von eindrücklicher Kraft. Die Masken des am 27. März während der Vorbereitungen seiner Arbeiten für die documenta 14 verstorbenen Künstlers und Aktivisten Beau Dick [4] täuschen nichts vor, was der Begriff der Maske an Hintergründigem suggeriert. Als Manifestation der Kräfte und Wirkungen, mit denen die in Kanada lebenden und sich seit jeher gegen die Vereinnahmung durch die weiße Mehrheit wehrenden First Nations auf ihre Art und Weise die Machtfrage stellen, blicken sie dem Publikum in die Augen und sehen nichts anderes als das, was ihren eigenen Kampf bestimmt - Demütigung und Unterwerfung. Die ebenfalls den First Nations Kanadas angehörende Kuratorin Candice Hopkins bevorzugt dafür den rechtsförmigen Begriff des "Outlawed Social Life". In diesem zur documenta 14 veröffentlichten Text, auf deutsch "Gesellschaft als Verbrechen" [5], werden das von 1885 bis 1951 währende Verbot der Zeremonie des Potlatch und die vielfältigen Formen des dagegen gerichteten Widerstands geschildert und entschlüsselt.


Übersicht über große Ausstellungshalle von oben - Foto: © 2017 by Schattenblick

Bewegungsfreiheit für Kunstgenuß
Foto: © 2017 by Schattenblick


Zwei Installationen aus Bootsüberresten und roten Stoffseilen - Fotos: © 2017 by Schattenblick Zwei Installationen aus Bootsüberresten und roten Stoffseilen - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Guillermo Galindo "Fluchtzieleuropahavarieschallkörper", Cecilia Vicuña "Quipu Gut"
Fotos: © 2017 by Schattenblick


Videoinstallation mit einer Performance von Wolfgang Prinz und Michel Gholam - Fotos: © 2017 by Schattenblick Videoinstallation mit einer Performance von Wolfgang Prinz und Michel Gholam - Fotos: © 2017 by Schattenblick Videoinstallation mit einer Performance von Wolfgang Prinz und Michel Gholam - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Zweisamkeit als Bewegungsform - Prinz Gholam "My Sweet Country (Olympieion)"
Fotos: © 2017 by Schattenblick

Diese autonome, nicht dem abstraktem Wert unterworfene Form materialisierter Sozialbeziehung wurde nicht zu Unrecht verdächtigt, die kapitalistische Vergesellschaftung im Kern zu bedrohen und für die indigenen Bevölkerungen vollends inakzeptabel zu machen. Im Potlatch wurden häufig Masken eingesetzt, wie die von Beau Dick geschaffenen Exponate. Das Verbrennen dieser Masken, wie von ihm zuletzt 2012 vollzogen, mag als Akt der Befreiung von jenen Kräften und Wirkungen, gegen die sie sich wenden, verstanden werden. Was immer die Interpretationen dieses Rituals und Brauchtums besagen, als Mittel und Zweck antikolonialistischen Widerstandes kann es allemal begriffen werden.

Das Ausstellen indigener Kunst auf einer Kommandohöhe kulturalistischer Deutungsmacht wirft gerade dann, wenn ihr Werden und Vergehen als Absage an die herrschende Verwertungslogik verstanden werden kann, Fragen unbequemer Art auf, denen wohl am besten durch die Auseinandersetzung mit den eigenen Anteilen an kolonialistischer Eroberung und Unterwerfung Rechnung getragen wird. Dem Widerspruch jeder institutionell eingebetteten und kulturindustriell vermarkteten und vermachteten Form von Kritik entkommt niemand, der einen Schritt auf die documenta macht. Ihn produktiv zu entwickeln könnte etwa bedeuten, die affirmative Eigendynamik spektakulärer Kunstpräsentation so umfassend in die Kritik einzubeziehen, daß die Seite der Rezeption als integraler Bestandteil herrschender Aneignungsstrategien sichtbar wird.


Gemälde mit Zuschauern - Fotos: © 2017 by Schattenblick Gemälde mit Zuschauern - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Zwei Stücke aus der Installation mit Gemälden und Sound von El Hadji Sy "Disso-Concertation" in der documenta-Halle
Fotos: © 2017 by Schattenblick

Das im baulich größten Teil der documenta-Halle versammelte Ensemble aus Bildern und Installationen besteht ebenfalls aus Kunstwerken, die aus der Peripherie westeuropäischer Metropolengesellschaften stammen und das Thema Flucht, das an vielen Orten der documenta 14 künstlerisch aufgearbeitet wird, nicht aussparen. Der "Fluchtzieleuropahavarieschallkörper" des mexikanischen Künstlers Guillermo Galindo besteht aus Überresten von Fluchtvehikeln und Gegenständen, die bei der gefährlichen Überquerung der Ägeis zwischen der Türkei und Griechenland verwendet wurden. Galindo hat sich bereits künstlerisch mit der Grenze zwischen den USA und Mexiko auseinandergesetzt, deren selektive Qualität als Schatten überlebenrelevanter Kämpfe auch auf Industriegesellschaften wie die USA fällt, wo endemischer Hunger längst an der Tagesordnung ist. Indem der Künstler aus den Überbleibseln der Flucht klingende Gegenstände baut, schafft er, wie beim Bau von Musikinstrumenten in mesoamerikanischen Kulturen verbreitet, Talismane für den Übergang von einer Welt in die andere [6].


Wandbild mit Zuschauerin in langer Flucht - Foto: © 2017 by Schattenblick

Britta Marakatt-Labbas "Historja" vom rechten Ende aus betrachtet
Foto: © 2017 by Schattenblick

Die 39 Zentimeter breite und 23,5 Meter lange Arbeit "Historja" der samischen Künstlerin Britta Marakatt-Labbas ist eine Bildergeschichte, die auf einer bildnerischen Ebene zwar konsekutiv, aber nicht zwingend kausal organisiert ist. Der feingesponnene Charakter des Erzählfadens wird visualisiert in einer Stickerei, die schon in kleinen Segmenten mit ihrer klaren Linienführung und unaufdringlichen Farbgebung beeindruckt. Bei dieser Form erzählter Geschichte ist leicht zu erkennen, daß geringer Aufwand und bleibende Erinnerung mehr miteinander zu tun haben, als die dröhnende Sprachlosigkeit kulturindustrieller Übersteigerung jemals ahnen läßt.


Von zwei Autostraßen gesäumte Straßenbahnschienen mit Blick auf die Wilhelmshöhe - Foto: © 2017 by Schattenblick

Wer vom Bergpark auf der Wilhemshöhe in die Niederungen der Stadt geht, ...
Foto: © 2017 by Schattenblick


Jutesäcke aus Ghana bedecken die beiden Gebäude der Torwache - Foto: © 2017 by Schattenblick

... wird von der Torwache im Elendsgewand der Globalisierung begrüßt - Ibrahim Mahama "Check Point Sekondi Loco"
Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] FRAGEN/051: Yael Deckelbaum - Wenn Frauen sich zusammentun, ist Frieden möglich (Pressenza)
https://www.schattenblick.de/infopool/buerger/fakten/bfaf0051.html

[2] http://www.documenta14.de/de/notes-and-works/23457/antidoron-die-sammlung-des-emst-im-museum-fridericianum

[3] http://www.documenta14.de/de/south/895_den_oekozid_genozid_komplex_beschreiben_indigenes_wissen_und_kritische_theorie_in_der_finalen_phase

[4] http://www.documenta14.de/de/notes-and-works/17052/zum-gedenken-an-beau-dick-1955-2017-

[5] http://www.documenta14.de/de/south/685_gesellschaft_als_verbrechen

[6] http://www.documenta14.de/de/artists/13506/guillermo-galindo


10. August 2017


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