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ANALYSE & KRITIK/288: Vor 30 Jahren begann Chinas Umbau auf dem Land


ak - analyse & kritik - Ausgabe 537, 20.03.2009

Windungen der Reform
Vor 30 Jahren begann Chinas Umbau auf dem Land

Von Henning Böke


Im Jahr 2009 richtet sich der Blick in Sachen neuere Zeitgeschichte vor allem auf die Ereignisse, die vor 20 Jahren zur spektakulären Implosion des "realen Sozialismus" in Osteuropa geführt und mit dem Wegbrechen der Satellitenstaaten schließlich der Sowjetunion die Existenzgrundlage entzogen haben. Genau zehn Jahre davor hatte die Volksrepublik China mit Reformen begonnen, die ihr das politische Überleben und eine erfolgreiche Aufstellung auf dem Weltmarkt ermöglichten - allerdings um den Preis einer Angleichung an den Kapitalismus. Die Folgen werden auch in China inzwischen zunehmend kritisch gesehen.

Nachdem im Dezember 1978 die historische 3. Plenartagung des XI. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas im Zeichen von Losungen wie "Befreiung des Denkens" und "Die Wahrheit in den Tatsachen suchen" die reformorientierte Linie von Deng Xiaoping angenommen hatte (vgl. ak 534), begann im Frühjahr 1979 ein Umbau des ökonomischen Systems der Volksrepublik, dessen Folgen damals nicht einmal die ProtagonistInnen der neuen Politik absehen konnten.

Maoistische Politsekten à la MLPD deuten diesen Richtungswechsel als Folge eines heimtückischen Putsches, mit dem wieder einmal, wie schon 1956 in der Sowjetunion, "Revisionisten" und "Verräter" das Volk überrumpelt haben sollen. Unergiebig ist eine solche Sichtweise, abseits der hanebüchenen verschwörungstheoretischen Argumentation, weil der Gang der Dinge die Prämisse in Frage gestellt hat, die der Option für eine radikale sozialistische Umgestaltung in der Dritten Welt zugrunde gelegen hatte.


Der "Große Sprung" führte zur Hungersnot 1959-1961

Nicht nur DogmatikerInnen, sondern auch große Teile der reflektierteren Neuen Linken waren davon ausgegangen, dass in den Ländern des Südens nur ein konsequenter, absoluter Bruch mit dem kapitalistischen Weltmarkt Entwicklung ermögliche. In Worten von Mao Zedong hieß das: "Nur der Sozialismus kann China retten." Deng Xiaoping hingegen sagte: "Sozialismus kann man nicht essen", und seine Politik führte nicht zu der Stagnation, der die Sowjetunion unter Breschnew anheim fiel, sondern zu einem beispiellosen Wachstumsschub, jedoch unter Bedingungen einer neuen sozialen Polarisierung. In China gibt es heute tatsächlich mehr zu essen als unter Mao, aber nicht alle bekommen gleich viel davon ab.

Bereits Mao hatte am Entwicklungskonzept der Sowjetunion unter Stalin die einseitige technokratische Fixierung auf die Schwerindustrie kritisiert. Seine Alternative war allerdings nicht weniger voluntaristisch. 1958 riskierte die chinesische Führung einen waghalsigen "Großen Sprung nach vorn", der durch politisch-ideologische Massenmobilisierung eine rigorose Kollektivierung der Landwirtschaft organisch mit einer basisnahen Industrialisierung auf dem Land verbinden sollte. In "Volkskommunen" sollten sowohl die landwirtschaftlichen Erträge gesteigert als auch Produktionsmittel hergestellt und industrielle Infrastrukturen geschaffen werden: Man glaubte fest an den rationalisierenden Effekt einer quasi-militärisch organisierten Großproduktion.

Die Gigantomanie schlug schnell in ein Chaos mit katastrophalen Folgen um. Der Staat entzog der bäuerlichen Bevölkerung ihre Subsistenzgrundlagen - und konnte sie dann nicht mehr ernähren. Die Hungersnot der Jahre 1959-1961 ist zweifellos das düsterste Kapitel in der Geschichte der Volksrepublik China, wenn auch eine exakte Bezifferung ihrer Dimensionen weniger eindeutig ist, als eine interessegeleitete Propaganda heute behauptet. Zur Behebung des Schadens setzte ein Teil der Partei ab 1961 auf Pragmatismus: Der Staatspräsident Liu Shaoqi und der von Mao zunächst als fähiger und loyaler Organisator geschätzte Deng Xiaoping plädierten für eine stärkere Berücksichtigung bäuerlicher Privatinitiative. Dafür mussten sie in der 1966 begonnenen Kulturrevolution büßen. Liu überlebte sie nicht, Deng wurde gleichfalls entmachtet, aber in Anbetracht seiner Talente in Reserve gehalten und auf Betreiben des eine Modernisierung des Landes anstrebenden Ministerpräsidenten Zhou Enlai mit Maos Billigung 1973 rehabilitiert.

Das System der Volkskommunen wurde zunächst durch eine Aufgliederung in kleinere Kollektive abgespeckt. Als agrarische Wirtschaftseinheiten fungierten überwiegend Produktionsgruppen aus etwa einem Dutzend Familien, bisweilen auch die meist ein ganzes Dorf umfassenden Brigaden - hierfür diente ab 1964 das Dorf Dazhai als Modell, dessen EinwohnerInnen unter der Leitung des charismatischen Parteisekretärs Chen Yonggui in heroischen Anstrengungen ihren kargen Berghängen künstlich bewässertes und teilweise mit Traktoren befahrbares Ackerland abgetrotzt hatten. Die Kollektive blieben aber an dirigistische Vorgaben gebunden. Mitte der 1970er Jahre befand sich die Landwirtschaft weithin in Stagnation. Die Ernährungssituation war in vielen Provinzen immer noch prekär.

Im Herbst 1975, ein Jahr vor Maos Tod, wurde eine Konferenz zum "Lernen von Dazhai" organisiert, auf der ein bis dahin unbekannter, im Zuge der Kulturrevolution ins Politbüro aufgestiegener Funktionär namens Hua Guofeng für eine ideologisch orthodoxe, aber kaum umsetzbare Problemlösungsstrategie plädierte: Nach dem Vorbild von Dazhai sollte die Kollektivierung wieder höherstufig fortgesetzt werden, um eine durchgängige Mechanisierung der Landwirtschaft zu ermöglichen. Der radikallinke Parteiflügel um Maos Frau Jiang Qing und die beiden Kulturrevolutions-Theoretiker Yao Wenyuan und Zhang Chunqiao, der in der Industrie gegen die technokratischen und autoritär-zentralistischen Tendenzen von Zhou Enlais Modernisierungsprogramm ankämpfte, lehnte diese Pläne als Abgleiten in die "revisionistische" Orientierung am "Primat der Produktivkräfte" ab, hatte aber für die Landwirtschaft nicht mehr zu bieten als Durchhalteparolen.

Im Oktober 1976 wurde Hua Guofeng als zentristischer Kompromisskandidat einer Koalition aus gemäßigten Kulturrevolutions-Linken, Militärveteranen und konservativen Bürokraten Nachfolger des verstorbenen Mao Zedong. Die Shanghaier Linksgruppe um Jiang Qing ließ er als "Viererbande" verhaften. Sie wurde beschuldigt, mit ihrer puristischen Blockadehaltung die sozialistische Produktivkraftentwicklung sabotiert zu haben. Dafür musste Hua dann allerdings Deng Xiaoping, den er wenige Monate zuvor in Zusammenarbeit mit der "Viererbande" erneut entmachtet hatte, zu seinem Stellvertreter machen.


Entwicklungsschub durch Reformen der 1980er Jahre

Hua setzte auf eine Verbindung aus ideologischer Mao-Orthodoxie, kulturrevolutionärer Rhetorik (allerdings ohne die antiautoritären und basisdemokratischen Elemente des Maoismus) und Massenkampagnen mit Technologie-Import und ehrgeizigen Großprojekten. In der Landwirtschaft sollte nach wie vor Dazhai als Modell dienen, in der Industrie das Ölfeld Daqing. Deng hingegen gelang es 1978, den altgedienten pragmatischen Wirtschaftsfachmann Chen Yun, der in der Kulturrevolution seinen Einfluss verloren hatte, wieder ins Boot zu holen. Es war vor allem Chen Yun, der mittels faktenbezogener Argumentation das Politbüro von der Undurchführbarkeit von Huas Plänen überzeugte.

Während um die Jahreswende 1978/79 das ZK auf die Deng-Linie einschwenkte, spielte sich in einem Dorf in der krisengeschüttelten Provinz Anhui ein Vorgang ab, der den künftigen Weg vorzeichnete: Der offiziellen Darstellung zufolge sollen Bauernfamilien dort konspirativ beschlossen haben, das Ackerland der Gemeinde zur eigenverantwortlichen Bewirtschaftung unter sich aufzuteilen, um sich mit den über das an den Staat abzuliefernde Soll hinaus erzielten Erträgen selbst zu versorgen. Diese Maßnahme war illegal. Ob sie tatsächlich ohne Wissen der reformorientierten Provinzparteileitung erfolgt ist, bleibt fraglich - ab dem Frühjahr 1979 wurde eine Ausbreitung dieser Praxis in Anhui, wo alle Versuche zur Reorganisation der in desolatem Zustand befindlichen Kollektivwirtschaft gescheitert waren, stillschweigend toleriert. Dies dürfte Deng Xiaoping sicher nicht verborgen geblieben sein, aber er äußerte sich vorsichtshalber zunächst nicht zu dieser brisanten Angelegenheit.

Erst 1980 fanden solche Methoden offizielle Billigung, zunächst als Notbehelf an Orten, wo die Kollektive nicht funktionierten, dann als in größerem Maßstab zu erprobende Alternative, wobei es galt, die orthodoxen Skeptiker in der Partei davon zu überzeugen, dass diese Wirtschaftsweise von den Bauern gewünscht werde. Bis 1984 wurde das "Haushalts-Verantwortlichkeitssystem" schließlich flächendeckend etabliert. Die Volkskommunen wurden aufgelöst. Das Land blieb Eigentum der Gemeinden, jede Familie erhielt über eine Art Pachtvertrag eine Parzelle zur selbstständigen Nutzung. Märkte zum freien Verkauf der Produkte wurden geschaffen.

Das alles geschah ohne formellen Zwang, wohl aber mit einer geschickten Taktik aus Propaganda und materiellen Anreizen, welche zum sukzessiven Zerbröckeln der Kollektive führte - und zwar nicht nur der ineffizienten und unproduktiven, für die der Staat nicht länger aufkommen wollte, sondern auch der gut organisierten und erfolgreichen, die nun ebenfalls als nicht mehr zeitgemäß galten. Ein ganz offensichtlich gewollter Effekt dieser Demontage bestand darin, dass diejenigen, die von der neuen Freiheit auf dem Land nicht profitierten, als WanderarbeiterInnen in die Städte strömten und vor allem als billige Arbeitskräfte für westliche Investoren in den neuen "Sonderwirtschaftszonen" der südlichen Küstenregionen zur Verfügung standen.

Andererseits wurde in den 1980er Jahren die ländliche Industrialisierung wieder entschieden gefördert - nicht mehr mit den dirigistischen und voluntaristischen Methoden des "Großen Sprungs", sondern durch Unterstützung der Gründung kommunaler und genossenschaftlicher Leichtindustrieunternehmen in den Dörfern und Kleinstädten. Dies war damals ein ganz wesentlicher Aspekt der Reform: Der Übergang zur Marktwirtschaft war zunächst so angelegt, dass Kollektiveigentum Produktivität entfalten konnte. Der wirtschaftliche Aufschwung ging in hohem Maße von Basisinitiativen auf dem Land aus. Diese im Kern genossenschaftssozialistische Komponente der Reform trug entscheidend zur Hebung des Lebensstandards auf dem Land bei.

Um 1990 verlagerte sich der Schwerpunkt der Wirtschaftspolitik jedoch in die Städte. Die Prosperität auf dem Land hatte die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Staat seine Aktivitäten nunmehr auf die forcierte Modernisierung der Städte konzentrieren konnte und eine neue urbane Bourgeoisie zum Hauptakteur wurde. Der rasche Ausbau eines weltmarktorientierten privaten Wirtschaftssektors darf zwar nicht darüber hinwegtäuschen, dass der neue chinesische Kapitalismus im Wesentlichen ein Staatskapitalismus ist - ohne aktive Investitions- und Steuerungstätigkeit des Staates gäbe es ihn nicht -, aber die Folge war die, dass die binnenmarktorientierte ländliche Wirtschaft mit ihren Kooperativen, Genossenschaften und Kommunalunternehmen zunehmend in Bedrängnis geriet.


Seit Jahren permanente soziale Unruhen auf dem Land

Die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit hat in den 1980er Jahren unterm Strich erheblich von den Reformen profitiert. Nach 1990 hat sich ihre Situation wieder rapide verschlechtert. Auf diesen Sachverhalt haben seit Mitte der 1990er Jahre vor allem die SozialwissenschaftlerInnen hingewiesen, die der Neuen Linken zugerechnet werden. Die Politik ist seit einigen Jahren darauf aufmerksam geworden: Permanente soziale Unruhen auf dem Land erzwingen eine ernsthafte Einlassung auf kritische Stimmen, die in ihrer überwiegenden Mehrheit den Weg der Reformen grundsätzlich bejahen, aber die Frage aufwerfen, welche Fehlkonzeptionen zu neuen sozialen Polarisierungen geführt haben.

Eine Bilanz von 30 Jahren "Reform und Öffnung" muss diesen Dilemmata und Windungen Rechnung tragen: Die maoistische Wirtschaftspolitik hat (obwohl sie durchaus nicht generell so schlecht war wie ihr heutiger Ruf) die Benachteiligung der Landbevölkerung nicht überwinden können - sie blieb trotz aller Kritik am sowjetischen Modell wie dieses auf die Abschöpfung eines bäuerlichen Mehrprodukts angewiesen. Die Reform hat eine Zeitlang einen erheblichen Entwicklungsschub auf dem Land ermöglicht. Dieser beruhte, entgegen allen Mythen, nicht einfach auf Privatinitiative, sondern auf strukturbildenden Programmen des Staates, die Potenziale an der Basis aktiviert haben. Die Ursachen des Durchschlagens einer tatsächlich kapitalistischen Entwicklungstendenz, die diese Potenziale wieder blockiert, und die Frage ihrer Reversibilität bleiben weiter zu untersuchen.


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Quelle:
ak - analyse & kritik, Ausgabe 537, 20.03.2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2009