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ANALYSE & KRITIK/314: Das Internet, soziale Netzwerke und Realität des Web 2.0


ak - analyse & kritik - Ausgabe 541, 21.08.2009

Die Debatte erden
Das Internet, soziale Netzwerke und Realität des Web 2.0

Von Klaus Schönberger


Der Hype hinsichtlich sozialer Netzwerke ("Web 2.0") ist vergleichsweise nachhaltig, wenn man ihn mit dem Rummel um frühere Medienformate des Internet seit 1990 vergleicht. Dabei gibt es auch in diesem Fall gute (empirische) Gründe, misstrauisch und zurückhaltend zu sein, wenn ständig eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird: MySpace, Second Life, Facebook und nun Twitter. Im Folgenden soll sich der Bedeutung des Internet und dem Web 2.0 mittels der Empirie, also den Fakten und Zahlen genähert werden.

Allen diesen "Erscheinungen" soll gemein sein, dass sie unser Leben revolutionieren, sprich unseren Alltag umkrempeln, bestehende Machtverhältnisse aufbrechen und neue (politische wie "identitäre") Repräsentationen sichtbar machen. Angefeuert durch die verschiedensten Spielarten der Medienwissenschaften, die sich kurzzeitig als akademische Leitdisziplin wähnten und dabei sogar behaupteten, dass Kulturtheorie nur noch als Medientheorie denkbar sei, wurde ein Diskurs hegemonial, der den NutzerInnen bzw. NichtnutzerInnen das Mithalten als oberste Bürgerpflicht verordnete.

Einerseits basiert diese große Erzählung über das Internet auf der Grundlage einer falschen oder verkürzten Gesellschafts- und Kulturanalyse. Andererseits hat sich der Gebrauch der Informations- und Kommunikationstechniken veralltäglicht ("habitualisiert"). Sie sind ein kaum mehr wegzudenkendes Werkzeug in fast allen Lebensbereichen wie Arbeit, Freizeit und eben auch Politik geworden. Insofern lassen sich nicht nur technikeuphorische, sondern auch jene kulturkritischen Erzählungen finden, die in bewährt kulturpessimistischer Manier die Folgen des vorgeblich exzessiven Mediengebrauchs anprangern.


Die große Internet-Erzählung als soziales Kampfterrain

Mediendiskurse wie denjenigen über das Internet lassen sich auf zweierlei Art analysieren. Einerseits kann der Sachverhalt empirisch untersucht werden, andererseits kann gefragt werden, was sagen solche Narrationen über die Gesellschaft aus? Anhand der Debatte über Weblogs und die Qualität des Journalismus lässt sich beispielhaft zeigen, inwiefern solche Auseinandersetzungen auch "Bedeutungskämpfe" (Carstensen 2006) sind, in denen soziale Konflikte über Geschlecht und die Wertigkeit von kulturellem (und schließlich auch ökonomischem) Kapital geführt werden.

Ähnlich wie die Bildungseliten im 18. und 19. Jahrhundert ihr bisheriges Vorrecht der Nutzung der Kulturtechnik des Lesens in Gefahr sahen, reagieren heutige (Bildungs-)Eliten aggressiv auf die drohende Entwertung ihres Privilegs hinsichtlich der Produktion und Distribution von Texten oder Inhalten sowie deren vereinfachte Distribution durch das Internet. Wenn nun jeder und jede seine/ihre Sicht auf die Welt weltweit und ohne zeitliche und räumliche Einschränkungen publizieren kann, steht die Exklusivität des kulturellen Kapitals der Intermediatoren von Weltsichten, insbesondere von Intellektuellen, also WissenschaftlerInnen und JournalistInnen, zumindest potenziell zur Disposition. (Schönberger 2009)

Die Daten über die NutzerInnen zeigen, dass in Deutschland 15 Jahre nach der Geburtsstunde des Internet zwei Drittel der Bevölkerung (ab 14 Jahren) das Internet nutzt. Hier fängt das Problem aber auch schon an. Was heißt "nutzen"? In der jüngsten ARD/ZDF-Online-Studie 2009 wird unterschieden zwischen "gelegentlicher" und "in den letzten vier Wochen genutzt". Entsprechend unscharf bleibt die Bedeutung dessen, was hier als Internetnutzung verstanden wird.

Waren 1997 erst 6,5 Prozent der Bevölkerung über 14 Jahre Internet-NutzerInnen, so sind es im Jahr 2009 67,1 Prozent (= 43,5 Mio.). Das sind 1,3 Prozent Zuwachs gegenüber 2008 und 5,5 Prozent gegenüber 2007. Inzwischen haben sich jedoch die Zuwachsraten deutlich verringert, was mit der "Vollversorgung" bei den Kerngruppen erklärt wird. Es sind vor allem die älteren Jahrgänge (30 bis 39-Jährige sowie "Silversurfer", d.h. alle über 50, insbesondere bei den 60 bis 79 Jahre alten SeniorInnen), die für die gegenwärtigen Zuwachsraten sorgen.

Die letzte zweistellige Zuwachsrate mit 22 Prozent gab es 2003, als es gelang, mittels neuer Medienformate wie Online-Auktionen (eBay) und Preisvergleichsportalen bisher nicht geneigte Gruppen wie etwa Nicht-Berufstätige zu gewinnen. Zuwachsraten sind künftig überwiegend bei den Älteren zu erwarten. Eine der zentralen Folgen ist der Veränderungsdruck für die traditionellen Medien (Zeitungen, Radio, Fernsehen), die sich infolgedessen mit ganz neuen Erwartungen wie Zusatzangeboten im Netz konfrontiert sehen. Ebenso bezeichnend ist, dass bereits 34 Prozent dieser NutzerInnen das Internet als ihr "Primärmedium" ansehen, "um sich im Alltag zurechtzufinden".

In Bezug auf das Web 2.0 passiert gegenwärtig das Gleiche wie zu Beginn des Internet mit Online-Spielen und Chats. Es nutzt diese "user-content-generated"-Anwendungen noch kaum jemand aktiv, aber es wird über sie geschrieben, als würde inzwischen jedeR nichts anderes mehr machen. Es lassen sich Anwendungen wie Wikipedia, Videoportale (YouTube), Fotosamlungen (Flickr), berufliche Netzwerke (Xing) oder private Communities (Facebook, StudiVZ, MySpace), Weblogs, Social-Lesezeichensammlungen (del.ici.ous) und virtuelle Spielwelten unterscheiden. Allen ist gemein, dass ihr Wert für die einzelnen NutzerInnen vor allem darin besteht, dass andere sie ebenfalls nutzen und gleichermaßen Inhalte generieren.


Schwache Zuwächse in der Internetnutzung

Die Zahlen von 2009 besagen, dass die Nutzung von "Social-Web-Anwendungen" in den jeweiligen Altersgruppen sehr unterschiedlich ausfällt. Sie weisen zwar gegenüber 2008 einen geringfügig höheren Anteil auf, das ändert aber nichts an der stagnierenden Tendenz, seit dem diese Medienformate untersucht werden. Während Wikipedia und Videoportale wie YouTube erwartungsgemäß einem großen passiven Nutzerkreis bekannt sind, hält sich die passive Nutzung privater Netzwerke wie Facebook und MySpace immer noch sehr in Grenzen. Wenn etwa bei privaten Netzwerken gegenüber 2008 in einzelnen Altersgruppen Zuwächse bis zu zehn Prozent zu verzeichnen sind, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass - trotz der gruppenspezifischen Steigerungsraten - diese Medienformate nach wie vor als Nischenanwendungen angesehen werden müssen.

Und diese Zahlen geben nur darüber Auskunft, wer schon einmal auf solche Seiten gegangen ist. Wenn wir uns die aktive Nutzung dieser Medienformate des "Mit-Mach-Web" anschauen, dann wird deutlich, dass die Bereitschaft (und Fähigkeit), sich aktiv dieser Anwendungen zu bedienen, überaus gering ist. Bei Fotocommunities und teilweise auch bei Weblogs ist der Anteil der aktiven Nutzung noch vergleichsweise hoch, bei YouTube und Wikipedia hingegen gering. Etwa sechs Prozent der passiven Wikipedia-NutzerInnen haben schon einmal selbst einen Artikel verfasst. Aber gerade auf der technisch vereinfachten Möglichkeit, selbst aktiv einzugreifen und selbst zu gestalten, basiert letztlich das Versprechen des Akronyms "2.0".

Der vergleichsweise geringe Aufwand für die Veröffentlichung eigener Inhalte ließ die Hoffnung sprießen, mit Weblogs könnte nun endlich die Brechtsche Demokratisierungsutopie (Radiotheorie) verwirklicht werden. Doch die technische und ökonomische Sendemöglichkeit ist nicht hinreichend. Vielmehr resultiert der "Digital Divide" auch aus der ungleichen Verteilung von kulturellen, sozialen und Bildungsressourcen. Um ein Enablingpotenzial von technischen Innovationen zu realisieren, bedarf es gleichermaßen sozialer Innovationen.

Die jüngsten Zahlen der ARD/ZDF-Online-Studien zeigen, dass die Bereitschaft, sich im Sinne der Brechtschen Radiotheorie aktiv zu beteiligen und selbst Inhalte ins Netz einzuspeisen, nach wie vor sehr gering ist. Für zwei Drittel der NutzerInnen ist dies "weniger" bis "gar nicht interessant". Das Internet bleibt also für die Mehrheit der NutzerInnen ein Abrufmedium und wird nicht aufgrund seiner Partizipationsmöglichkeiten genutzt.

Vergleichsweise interessierter zeigen sich Teenager und die Altersgruppe der 20-29-Jährigen. Am wenigsten interessiert zeigen sich die Älteren. Daraus ist aber keineswegs die Schlussfolgerung zulässig, dass in einigen Jahren die Zahl der Aktiven sich automatisch erhöhen wird. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass sich mit der Veränderung der Lebensführung und die Anforderungen und Zwänge des Alltags im Altersverlauf, das Interesse oder auch die Möglichkeiten zur umfassenden Mediennutzung generell nicht mehr ausgeprägt sein werden, als dass man darauf nicht verzichten könnte. Denn: Wer geht auch schon ewig in die Disco?

Was bedeutet nun die Tendenz der geringen aktiven Nutzung der "Mitmach"-Medienformate für die Möglichkeit zu Protest und Widerstand in den sozialen Bewegungen? Wenn insgesamt Skepsis angebracht erscheint, so ist in diesem Kontext wiederum zu differenzieren, weil wir es hier mit Nutzergruppen zu tun haben, die das Enablingpotenzial dieser Medienformate durchaus in ihrem Sinne zu nutzen wissen. Zurückzuweisen ist nur die Vorstellung, dass über eine verbesserte mediale Repräsentation und Selbstorganisation die Machtverhältnisse insgesamt ausgehebelt seien.

Als jüngst im Rahmen der Proteste gegen die Wahlfälschungen im Iran die Informationssperren mittels des Onlinedienstes Twitter und diverser Facebook-Seiten unterlaufen werden konnten, gab es unzählige Medienberichte, die den technischen Aspekt für die Mobilisierung und der Möglichkeit der Zensurumgehung betonten. Es war von Twitter-Revolution die Rede und wir erlaubten uns erneut jene Abkürzungen, die für einen technologischen Determinismus charakteristisch sind, nämlich Erklärungsschritte auszulassen. Aber auch das ist nicht neu.


Mitmachnetz ohne MitmacherInnen

Der Protest von sozialen Bewegungen wird seit der frühbürgerlichen Revolution periodisch mit der Entwicklung von Medientechnologie in Verbindung gebracht. Immer wieder gelten medienkulturelle Entwicklungen als Verursacher und Auslöser von Protest und Widerstand. Dabei ist es umgekehrt. Unter denen, die AktivistInnen sind, protestieren und mobilisieren, finden sich insbesondere auch jene, die willens und qualifiziert sind, sich die neuen Medienformate anzueignen. Insofern macht es Sinn, gesellschaftliche Bereiche wie soziale Gruppen zu unterscheiden.

Wenn auch die Möglichkeit zur Nutzung nicht die Ursache von Protest und Widerstand ist, so bedeutet die Verfügbarkeit von neuen Medienformaten veränderte Möglichkeiten des Agierens und Handelns. Bereits in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung kam den besonders qualifizierten ArbeiterInnen eine zentrale Rolle bei der Organisierung, Mobilisierung und Aufklärung zu. Und ähnlich lässt sich heute beobachten, dass es wiederum jene sozialen Gruppen innerhalb der Multitude sind, die die neuen Medienformate sowohl zur internen wie zur externen Kommunikation in Dienst nehmen. Allerdings bedarf es dazu eines gesellschaftlichen Projekts. Erst dann lassen sich die Möglichkeiten im Sinne gesellschaftlicher Emanzipation einsetzen.


Literatur:

Katrin Busemann und Christoph Gscheidle: Web 2.0. Communitys bei jungen Nutzern beliebt, Media Perspektiven, 7/2009,
www.ard-zdf-onlinestudie.de/fileadmin/Online09/Busemann_7_09.pdf

Tanja Carstensen: "Das Internet" als Effekt diskursiver Bedeutungskämpfe, kommunikation@gesellschaft, 7/2006,
www.soz.uni-frankfurt.de/K.G/B6_2006_Carstensen.pdf

Birgit van Eimeren und Beate Frees: Der Internetnutzer 2009. Multimedial und total vernetzt?, Media Perspektiven, 7/2009,
www.ard-zdf-onlinestudie.de/fileadmin/Online09/Eimeren1_7_09.pdf

Jan Schmidt: Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Konsequenzen des Web 2.0. Konstanz 2009

Klaus Schönberger: Doing Gender, kulturelles Kapital und Praktiken des Bloggens. In: Simon Michael u.a. (Hg.): Bilder - Bücher - Bytes. Zur Medialität des Alltags. Berlin 2009,
www.kultur.uni-hamburg.de/technikforschung/download/Schoenberger_dgv_kongress_Main_preprint.pdf


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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2009