Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

ANALYSE & KRITIK/475: Aufstand der Zeichenlosen


ak - analyse & kritik - Nr. 564 - 16.9.2011
zeitung für linke Debatte und Praxis

Aufstand der Zeichenlosen
Die Riots in England bedeuten auch ein Scheitern der Linken

von Christian Werthschulte


Einen solchen Gewaltausbruch hatte die englische Nachkriegsgesellschaft noch nicht erlebt. Vier Nächte lang randalierten in fast allen großen englischen Städten Jugendliche und plünderten Geschäfte. Der Staat veranlasste Schnellverfahren und zog das Blockieren sozialer Netzwerke in Erwägung. Premier David Cameron beschrieb die Ausschreitungen als "reine Kriminalität" und betonte, sie hätten nichts mit Armut zu tun. Auf den Kommentarseiten des Guardian oder in Red Pepper wurden dagegen schnell eine verfestigte Armut und Polizeigewalt als Ursachen der Riots ausgemacht. Die Frage, warum sich die Wut über die harten Lebensumstände nur in Plünderungen äußerte statt in zielgerichtetem Protest, wurde dagegen nicht gestellt.

Teil der Schwierigkeiten bei der Interpretation der Riots ist, dass die Ereignisse schnell hinter ihre Interpretationen zurücktraten. 5,5 Mio. Mal wurde auf YouTube der Überfall auf den Austauschstudenten Ashraf Haziq angesehen. Haziq wurde das Fahrrad gestohlen und der Kiefer gebrochen, bevor ihm wieder auf die Beine geholfen wurde, nur um ihm dann seine Videospielkonsole und sein Handy aus seinem Rucksack zu stehlen. Premierminister David Cameron deutete den Vorfall als Ausdruck einer "Sickness", eines moralischen Verfalls.

Aber der Überfall erzählt auch vom Zusammenprall zweier Lebensperspektiven. Auf der einen Seite Haziq, von seinen PeinigerInnen schnell als Student und damit als potenziell wohlhabend identifiziert. Nicht-EU-StudentInnen zahlen in Großbritannien zwischen 6.800 und 20.000 britische Pfund pro akademischem Jahr und finanzieren so das britische Hochschulwesen nach einem weitestgehenden Rückzug des Staates quer. Auf der anderen Seite der Geschichte sind diejenigen, für die der Rückzug des Staates ein Angriff auf ihre Zukunft ist. In England sind selbst kaufmännische Berufe häufig an einen Universitätsabschluss gebunden; gut 40 Prozent der 18-30 Jährigen besuchen deshalb eine Universität.

Auch wenn Die Welt (12.8.11) schnell "Wohlstandsjugendliche" unter den Angeklagten ausmachte, ist die Statistik eindeutig. Von den ca. 1.000 in den ersten zehn Tagen nach den Riots Angeklagten hatten nur 8,6 Prozent einen Job oder waren Studierende. 41 Prozent kamen aus den ärmsten zehn Prozent britischer Stadtteile. Armut ist für diese Jugendlichen Teil des Alltags. Die reflexhafte Behauptung, dass hier die Deklassierten auf die Straße gingen, ist also korrekt. Aber sie reicht nicht als Erklärung, warum es zu Plünderungen anstatt zu Demonstrationen kam. Denn die Geschichte der Riots ist ebenso eine Geschichte der Disziplinierung von Jugendlichen wie die eines Scheiterns der Linken, ihre alltäglichen Widersprüche politisch zu artikulieren.

Dieser Artikulationsprozess wird dadurch erschwert, dass die Motivlage unübersichtlich geworden ist. Das zeigt ein Blick zum Londoner Stadtbezirk Hackney, der am zweiten Tag Schauplatz von Auseinandersetzungen war. Bis in die 1980er war der Stadtteil im Londoner Osten von Armut gekennzeichnet. Seitdem kommt es jedoch zum Zuzug von Mittelklassefamilien, die politisch eher Labour nahe stehen und überwiegend im Bildungswesen oder in Kreativberufen arbeiten. Durch den Zuzug und den damit verbundenen Anstieg des Durchschnittseinkommens wurde die Armut weniger sichtbar; ein Prozess, der schließlich, gut fünfzehn Jahre später, zum Leitbild von New Labours "Urban Renaissance" wurde. Die entscheidende Maßnahme der konservativen Regierungen blieb mit ihren negativen Auswirkungen jedoch unangetastet - der Verkauf von Sozialwohnungen an ihre MieterInnen, ohne dass es zu Neubauten gekommen wäre. In den verbliebenen Sozialwohnungen leben zum einen nur noch die Bedürftigsten, zum anderen existiert ein Interessenskonflikt in ehemals kulturell recht homogenen Arbeiterklassenmilieus zwischen EigentumsbesitzerInnen und denjenigen, die weiter zur Miete wohnen müssen. Der Wert einer in den 1980ern erworbenen Sozialwohnung hat sich seitdem jedoch mehr als verdreifacht. Die harsche Ablehnung der Riots in ehemaligen Arbeitergegenden dürfte genau darin eine Ursache haben: Riots gefährden das Immobilienpreisniveau und damit auch die wichtigste Möglichkeit der privaten Vermögensbildung.

Diese Wohlstandskluft ist im Alltag präsent. In Hackney kann man am Broadway Market qualitativ hochwertige und hochpreisige Lebensmittel einkaufen. Für die BewohnerInnen der einen Kilometer entfernten Siedlung mit gemeindeeigenen Sozialwohnungen ist das Einkaufen auf diesem Markt keine Option. Diese materiellen Gegensätze werden kulturell, z.B. in Fernsehshows, legitimiert. Ein typisches Beispiel dafür ist der Fernsehkoch Jamie Oliver, der in mehreren Sendungen für eine gesunde Ernährung wirbt, aber damit gleichzeitig Klassenunterschiede inszeniert.

In "Jamie Oliver's Dream School", Olivers neuester Fernsehsendung, erhalten zwanzig Teenager ohne Schulabschluss Unterricht von einer Reihe Prominenter. Jamie Oliver erklärt seinen SchülerInnen unterdessen, wie sie sich aus der "Welt aus Trugschlüssen und Müll, die wir Fast Food nennen", verabschieden können. Die Sendung enthält eine einfache ideologische Anrufung: Ebenso wie Jamie Oliver können die SchülerInnen auch ohne Schulabschluss erfolgreich sein, wenn sie sich genügend Mühe geben und man ihnen Selbstwertgefühl vermittelt. Ihr Publikumserfolg gründet sich jedoch darauf, dass sich an ihr verschiedene Mittelklasseidentitäten konstruieren lassen.

Im konservativen Daily Telegraph werden die lauten und schlecht erzogenen Teenager als Problem des Schulwesens betrachtet, während im linksliberalen Guardian die Unterrichtsmethoden der pädagogisch nicht qualifizierten Prominenten im Mittelpunkt der Reflektion standen. Dass die Anrufung der SchülerInnen nur im Modus des individuellen Aufstiegs geschieht, ist kein Zufall, sondern spiegelt die Grundrichtung der sozialpolitischen Maßnahmen der letzten Labour-Regierungen wider. Der begründete Wunsch nach einer Verbesserung der Lebensverhältnisse wurde nicht mehr als kollektives, sondern als individuelles Ziel, als "Aspiration", artikuliert. Im Umkehrschluss bedeutete dies, dass die verfestigte Ungleichheit nicht mehr als das Ergebnis politischer Eingriffe betrachtet wird, sondern auf die Subjekte zurückfällt.

Flankiert wird diese Sichtweise durch die Konstruktion eines Stereotypen von Jugendlichen: des Chavs. Männliche "Chavs" tragen Trainingsanzüge und Burberry-Kappen, weibliche "Chavs" große Ohrringe und gefälschte Louis-Vuitton-Taschen. Die "Chavs" arbeiten der Konstruktion einer verantwortungslosen "Unterschicht" zu, die exzessiv in der Ernährung und Sexualität und vulgär in Habitus und Geschmack ist. Zudem wird sie nur als laute, undisziplinierte Gruppe im öffentlichen Raum wahrgenommen.

Die Konstruktion der "Chavs" unterscheidet sich von den "heroischen" Arbeiterklassen-Jugendkulturen der Nachkriegszeit wie den Teddy Boys oder Mods. Ihnen fehlt die Begeisterung für afro-amerikanische Musik, für RocknRoll, Soul oder Modern Jazz; sie sind als "weiße Unterschicht" konstruiert. "Chav" ist keine Selbstbeschreibung, sondern ein medialer Diskurs, der durch die Website chavscum.co.uk und den Bestseller "Little Book of Chavs" Teil der Alltagssprache geworden ist und unter Jugendlichen der Abgrenzung untereinander dient.

"Chavs" sind zudem in erster Linie als KonsumentInnen konstruiert - im Gegensatz zu den Jugendkulturen der 1960er. Der Soziologe Dick Hebdige hat z.B. den Mods eine Rolle als kulturelle ProduzentInnen zugesprochen, da sie sich Zeichen aus der Arbeitswelt wie Anzüge aneigneten und produktiv für die eigenen Zwecke umwidmeten. Das machte sie als Zielgruppe schwer berechenbar und signalisierte gleichzeitig, dass sie durch sozialpolitische Zugeständnisse nicht käuflich seien. Bei den "Chavs" werden Sportkleidung und Burberry-Kappen jedoch wegen ihrer Upmarket-Konnotation getragen, was es wiederum leicht macht, auf die Jugendlichen zu reagieren.

In den Fokus staatlicher Disziplinarmaßnahmen geraten die "Chavs" erst dann, wenn sie die ihnen zugedachte Konsumentenrolle nicht mehr erfüllen. 2005 reagierte das Bluewater Shopping Centre im Süden Londons auf dort flanierende Jugendliche mit einem Verbot von Kappen und Kapuzenjacken. Zustimmung erfuhr diese Maßnahme von Tony Blair, der betonte, dass "die Menschen von Schlägertypen an Straßenecken oder in Einkaufszentren die Nase voll haben" und somit den Aufenthalt in einem semi-öffentlichen Raum mit Straßenkriminalität verknüpfte.

Disziplinarmaßnahmen werden mit dem Verweis auf die imaginierte Community "der Menschen" legitimiert, Verstöße gegen diese können mit sogenannten ASBOs (Anti-Social Behavior Order) geahndet werden. So lassen sich Platzverweise und Aufenthaltsverbote aussprechen, die bei Nichtbeachtung in eine Gefängnisstraße umgewandelt werden können. Die aktuellen Plünderungen sind zum Teil eine Reaktion auf die mit diesem Stereotyp verbundenen Rollenzuschreibungen.

In einem BBC-Interview von Ende August beschrieben ein paar junge Männer aus Manchester, dass es nicht nur die Aussicht auf Diebesgut war, die sie an den Riots teilnehmen ließ, sondern auch die Chance, ihren Kindern und Enkelkindern davon zu erzählen, wie sie Fensterscheiben und Geschäfte zerstört haben - eine primitive Negation einer Innenstadt, in der sie nur als KonsumentInnen geduldet sind.

Eine andere Reaktion auf die Stereotypisierung ist die Parodie. Eines der interessantesten Grime-Label nennt sich selbst "No Hats No Hoods". Die ProducerInnen und RapperInnen tragen in den Videos Pullis mit der Aufschrift "Keep calm and listen to Grime". Grime heißt so viel wie Schmutz und ist ein Musikstil, der seine Wurzeln im Hip-Hop und in elektronischer Musik hat. Der Slogan ist eine Anspielung auf ein Plakat mit der Aufschrift "Keep calm and carry" on, das Churchill als Propaganda im Zweiten Weltkrieg anfertigen ließ. Seit dem Beginn der Wirtschaftskrise ist es wieder ein Verkaufsschlager und Teil einer nostalgischen Erinnerung an das "Austerity Britain" der 1940er und frühen 1950er, das in der populären Erinnerung durch Zusammenhalt, Pragmatismus und die "good-spirited nature" der Briten gekennzeichnet ist, sich auch in schlechten Zeiten nicht unterkriegen zu lassen.

Entlang dieser nostalgischen Zeichenkette organisierten sich auch diejenigen LondonerInnen, die sich über Twitter und Facebook zu Aufräumaktionen verabredeten und dem eigenen Anspruch nach das "real London" verkörpern. Hiermit knüpfen sie direkt an die kommunitaristische Rhetorik von David Camerons "Big Society" an und reproduzieren deren Ausschlüsse, was von der jungen Frau, die beim Aufräumen in Clapham Junction (Süd-London) ein Tanktop mit der Aufschrift "Looters are scum" ("Plünderer sind Abschaum") trägt, perfekt verkörpert wird. "Community" ist auch nach den Riots der leere Signifikant, um den herum Ausgrenzung organisiert und legitimiert wird und auf die Rioters mit Negation reagieren, indem sie bei ihren Plünderungen nicht zwischen nationalen/internationalen Ketten und den lokalen Geschäften aus ihrer "community" unterscheiden.

ASBOs treffen jedoch auch afro-karibische und asiatische Jugendliche in London, die zudem unter dem Rassismus der Polizei leiden. Schließlich begannen die Riots mit einem Angriff während eines Protestzuges gegen Polizeigewalt. Die Erschießung des 29-jährigen Mark Duggan durch die Polizei, ohne dass er das Feuer eröffnet oder erwidert hätte, ist dabei kein Einzelfall. Zwischen 1998 und 2010 sind 333 Menschen im "Gewahrsam" der Polizei ums Leben gekommen, ohne dass auch nur einE PolizistIn verurteilt worden wäre. Es wundert daher nicht, dass KommentatorInnen immer wieder Parallelen zu den Riots von 1981 in Brixton und 1985 in Tottenham gezogen haben, als das rassistische Vorgehen der Polizei zu tagelangen Ausschreitungen führte.

In einem Interview mit der BBC erzählte der Journalist Darcus Howe von seinem Enkel, der ohne Grund "unzählige Male" von der Polizei auf der Straße durchsucht worden sei. Auch das kein Einzelfall. Dunkelhäutige BritInnen werden 26 Mal und asiatisch aussehende BritInnen 6,3 Mal so häufig von der Polizei durchsucht als weiße BritInnen. Auf Einwände der BBC-Moderatorin Fiona Armstrong reagierte Howe mit einem "Wo waren Sie 1981 in Brixton?" und griff so auf das kulturelle Gedächtnis der afro-britischen MigrantInnen zurück.

Mitte April 1981 war der Stadtteil im Süden Londons drei Tage lang Schauplatz harter Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und der lokalen, überwiegend afro-britischen Bevölkerung. Diese Ereignisse fanden vor dem Hintergrund einer erhöhten Arbeitslosigkeit in Brixton von 24,5 Prozent für ethnische Minderheiten und von 55 Prozent für afro-britische junge Erwachsene statt (Durchschnitt: 13 Prozent). Dass die Erklärungsversuche als Rechtfertigung der Ausschreitungen interpretiert werden, war jedoch schon damals Bestandteil des Sprechens über die Riots. Margaret Thatcher erklärte unmittelbar danach: "Nichts, gar nichts kann die Ereignisse rechtfertigen" und ergänzte, dass Geld keine "racial harmony" herbeiführen könne.

Politisch und kulturell konnten die Riots jedoch deutlicher als Antagonismus artikuliert werden. Sie richteten sich nicht nur gegen die Polizei, sondern auch gegen Unternehmensketten wie Currys oder Burton. Ein anarchistischer Buchladen oder Geschäfte von Afro-BritInnen blieben dagegen verschont. Ein Pub, der unter dem Verdacht stand, schwarze Gäste nicht zu bedienen, wurde niedergebrannt.

Der Dichter Linton Kwesi Johnson verewigte dieses Ereignis in seinem Song "Di Great Insohreckshan" der die Riots als Antagonismus von "wi" und "di babylon dem" artikuliert. Damit steht er exemplarisch für eine Phase afro-britischer Kulturpolitik, die der Soziologe Stuart Hall als "politics of resistance" bezeichnet. Ihr gemeinsames Kennzeichen war die Bekämpfung rassistischer Fremdzuschreibungen durch die positive Repräsentation eines "schwarzen Subjekts", hinter dem Gender, Sexualität, Klassenfragen sowie die unterschiedlichen Geschichten der einzelnen Einwanderergruppen in den Hintergrund traten.

Ab Mitte der 1980er rückte dann aber die Vielheit afro-britischer und asiatischer Communities als Gegenentwurf zum ethnisch homogenen Großbritannien in den Vordergrund. Ein Effekt dieser Strategie war die Institutionalisierung multikultureller Politik ab den späten 1990ern, die nicht nur im öffentlichen Dienst, sondern auch in den Förderprogrammen der Privatwirtschaft Positionen für in den Kämpfen der 1980er politisierte "community leaders" bereithielt, die damit eine "Logik der Privatisierung" akzeptiert hätten, wie der Sozialwissenschaftler Paul Gilroy in einem Vortrag nach den letzten Riots ausgeführt hat. (1)

Das führte dazu, dass Forderungen von z.B. afro-karibischen Jugendlichen, die sich nicht unmittelbar als "multikulturell" einordnen lassen, kaum politisch repräsentiert werden. Am 10.12.10 kam es auf der großen Demonstration gegen Studiengebühren vor dem Parlamentsgebäude zu einem Polizeikessel, der mehrere Stunden andauerte. (ak 563) Inmitten des Kessels wurde jedoch eine Gruppe sichtbar, die bei den bisherigen Protesten nicht anwesend gewesen war: überwiegend dunkelhäutige Jugendliche aus Peckham, Croydon und den Sozialwohnungen in Islington. Sie waren gekommen, um gegen die Abschaffung der Education Maintenance Allowance zu protestieren, einer Ausbildungsförderung für Jugendliche aus ärmeren Haushalten, die einen weiterführenden Schulabschluss machen wollen.

Doch nicht nur ihre Anwesenheit war außergewöhnlich, sondern auch die Form ihres Protestes. Sie kaperten das Soundsystem, schlossen einen Blackberry an und tanzten bei Temperaturen um den Gefrierpunkt mit freiem Oberkörper zu Lethal Bs "Pow", dem ersten Grime-Track, der 2004 an den britischen Top Ten kratzte. "Pow" ist kein programmatisch linker Track. Die Reime der MCs sind teilweise homophob, das Video sexistisch. Aber an diesem Nachmittag hatten ihn die Deklassierten zu ihrem Soundtrack gemacht. Vielleicht war es kathartisch, sich im Chor die Textzeile "Crack your Skull" zuzurufen, während sie nicht sicher sein konnten, ob nicht ihr Schädel der nächste sein würde, der von einem Knüppel getroffen wird. Vielleicht spiegelte der Track aber auch lediglich ihre eigene Unsichtbarkeit wider.

Als "Pow" zum ersten Mal veröffentlicht wurde, war Grime ein Underground-Phänomen, das überwiegend über selbstgebrannte DVDs verbreitet wurde, die die Battles der MCs im Londoner Osten dokumentierten. JedeR RapperIn hatte 16 Takte Zeit, seine/ihre Skills zu beweisen, danach wurde das Mikro weitergereicht. "Pow" funktioniert nach dem gleichen Prinzip: Die neun verschiedenen RapperInnen können in einem Hit ihr Können vor großem Publikum beweisen.

Damit bringen sie das Dilemma der Jugendlichen an diesem Nachmittag auf den Punkt: Sie hatten nur diese eine Chance, um wahrgenommen zu werden, und ihre Zeichensprache und die der Studierenden waren kaum kompatibel. Nach den Protesten war ihre Sichtbarkeit wieder an ein Ende gekommen, Aktionen gegen die Verfahrenswelle gegen studentische AktivistInnen rückten in den Vordergrund. Hier zeichnet sich jedoch nach den Riots ein Wandel ab. Die hohen Haftstrafen für die Riots werden sowohl von studentischen AktivistInnen als auch von prominenten BürgerrechtanwältInnen verurteilt. Im Umfeld des nach den Studierendenprotesten gegründeten Bündnisses "Defend the Right to Protest" wurde bereits Unterstützung bei Zwangsräumungen aus Sozialwohnungen angekündigt, die einige Londoner Bezirksverwaltungen durchführen lassen wollen, falls ein Familienmitglied im Zuge der Riots verurteilt worden ist.

Aber damit ist die Geschichte der Riots noch nicht zu Ende erzählt. Noch fehlen die Stimmen der beteiligten Jugendlichen, die bei den Schnellverfahren ihre Positionen nicht darlegen konnten. Die Rolle der Polizei, die sich während der Riots häufig sehr zurückhielt, aber im Angesicht der Kürzungspläne eine eigene Agenda vertritt, muss noch genauer beleuchtet werden. Aber eine Geschichtsschreibung der Riots wird auf jeden Fall unvollständig bleiben, wenn sie nicht zugleich als Krise politischer Repräsentation und linker Artikulationsketten begriffen werden.


Anmerkung:
1) Paul Gilroy speaks on the riots, August 2011, Tottenham, North London, unter http://dreamofsafety.blogspot.com (16.8.11)


*


Weiterveröffentlichung in gedruckter oder elektronischer Form
bedarf der schriftlichen Zustimmung von a.k.i. . -
Verlag für analyse, kritik und information Gmbh, Hamburg

Auf Kommentare, Anregungen und Kritik freuen sich AutorInnen und ak-Redaktion.


*


Quelle:
ak - analyse & kritik, Ausgabe 564, 16.09.2011
Zeitung für linke Debatte und Praxis
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion
Herausgeber: Verein für politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.
Redaktion: Rombergstr. 10, 20255 Hamburg
Tel. 040/401 701 74 - Fax 040/401 701 75
E-Mail: redaktion@akweb.de
Internet: www.akweb.de

analyse & kritik erscheint monatlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2011