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ARBEITERSTIMME/187: Die soziale Kluft wird größer


Arbeiterstimme Nr. 162 - Winter 2009
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Die soziale Kluft wird größer


Im Juni dieses Jahres wurde der dritte Armutsbericht der Bundesregierung, im folgenden Monat dann auch der Öffentlichkeit bekannt. Die Tagesschau berichtete unter der Überschrift: "Die soziale Kluft in Deutschland wird tiefer". Danach sind inzwischen 20 Millionen Menschen in Deutschland von Armut betroffen. Das heißt, jeder vierte Deutsche muss durch staatliche Leistungen vor dem völligen Absturz bewahrt werden. Besonders von Armut betroffen sind Alleinerziehende und Kinder. Inzwischen gelten 2,5 Millionen Kinder als arm. Das sind doppelt so viele wie im Jahr 2004.

Nach der international gängigen Definition ist arm, wer weniger als 60 Prozent eines mittleren Einkommens bezieht. Für Alleinstehende hat die Bundesregierung die Armutsgrenze auf derzeit 781 Euro festgelegt, bei einer vierköpfigen Familie auf 1640 Euro. Es fällt auf: Mit dieser 60-Prozent-Grenze geht man im Bundesarbeitsministerium offensichtlich recht locker um, dennoch im Jahr 2005 lag die Armutsgrenze im selben Bericht für Alleinstehende bei 938 Euro. Mit der realen ökonomischen Entwicklung hat das somit nichts zu tun, sondern wohl eher damit, dass man die ausgewiesene Armut in der BRD nicht noch höher ausfallen lassen wollte.

Denn glücklich waren die Regierungsakteure über ihren Bericht natürlich nicht. Obwohl manipuliert, zeigt er dennoch überdeutlich die Auswirkungen neoliberaler Politik der vergangenen Jahre. Dabei hatten diese Politiker immer das Gegenteil des jetzt vorliegenden Resultats verkündet. Nämlich, dass diese "Reformen" Arbeitsplätze schaffen, die Sozialsysteme sichern und zu Wohlstand führen würden.

Aber die neue Armut trifft nicht nur die, mit dem von der SPD erfundenen Begriff "Prekariat" bezeichnete Gesellschaftsgruppe, sondern bedroht inzwischen auch die Teile der abhängig Beschäftigten, die in der Vergangenheit über ein gesichertes Auskommen verfügten. Nach der bürgerlich, ideologisch definierten Bevölkerungsdifferenzierung ist das der "Mittelstand". Ob Facharbeiter oder qualifizierter Angestellter, bei eintretender Arbeitslosigkeit beginnt auch für sie die Abwärtsspirale in Richtung Armut. Um den sozialen Abstieg zu dämpfen und die geringen Ersparnisse, die von Hartz IV gefressen würden, zu retten, sind diese Menschen deshalb zu Vielem bereit. Unter anderem auch dazu, ein prekäres Arbeitsverhältnis anzunehmen.

Über sieben Millionen Menschen erhalten deshalb inzwischen nur noch Niedrig- und Hungerlöhne. Rund drei Millionen verdienen so wenig, dass sie Anspruch auf zusätzliches Arbeitslosengeld haben. 1,3 Millionen, davon eine halbe Million in Vollzeitarbeit, machen davon Gebrauch.

Aber auch diejenigen, die ein tariflich abgesichertes Arbeitsverhältnis haben, müssen sich strecken. Über viele Jahre sind die Einkommen nominal und noch stärker natürlich real gesunken. Das gilt auch für das zurückliegende Jahr. Trotz Konjunktur setzt sich das Trauerspiel der letzten Jahre fort. Zum ersten Mal sinken die realen Löhne in einer Hochkonjunkturphase! Und auch hier trifft es das untere Viertel der Einkommenspyramide am Brutalsten. Nach Berechnungen der Wirtschaftsabteilung von ver.di sanken hier die realen Stundenlöhne in den zurückliegenden sechs Jahren um 13 Prozent!

Dabei hatte Merkel im Bundestag noch im Dezember stolz verkündet: "Der Aufschwung kommt bei den Menschen an". Dem kann man schon zustimmen. Allerdings nicht so, wie das sie das gemeint hat. Die Feststellung gilt nur für die dünne Schicht der Bourgeoisie - für die Reichen und Superreichen. Der Rest des Volkes hat davon bis jetzt nichts gemerkt.

Im Jahr 2007 ist das Volkseinkommen um runde 74 Milliarden Euro oder 4,2 Prozent gestiegen. Es hätte also einiges verteilt werden können. Und Verteilung fand statt. Nämlich so wie schon in den vergangenen Jahren auch. 43 Milliarden nahmen sich die Kapitalisten und 30 Milliarden bekam auf die breite Masse des Volkes. Die Folge davon ist, dass die Lohnquote weiter abstürzte. Im Jahr 2007 forderten die Gewerkschaften einen "kräftigen Schluck aus der Pulle". Und verglichen mit den Vorjahren waren die Abschlüsse auch höher als in den zurückliegenden Jahren. Im Durchschnitt lagen die Einkommenserhöhungen bei knapp drei Prozent. Aber von einer Trendwende in der Einkommensentwicklung, die manche Gewerkschaften schon verkündeten, kann beim besten Willen nicht gesprochen werden.

Inzwischen frisst die Preisentwicklung die Löhne auf. Besonders teuer sind die täglichen Ausgaben geworden. Die Fahrt zur Arbeit, Heizung und Lebensmittel werden teuerer und teuerer. Die Schuld daran tragen nicht irgendwelche anonymen Ölscheichs oder gar die Chinesen, die jetzt plötzlich soviel Milch trinken, sondern Finanzspekulanten, internationale Ölkonzerne und große Energieunternehmen. Zurzeit sieht es nicht so aus, als würde sich diese Entwicklung umkehren. Und selbst wenn sich die Preisentwicklung verlangsamen würde, würde die Durchsetzung höherer Löhne schwerer. Der Grund ist in dem sich abzeichnenden Konjunkturabschwung zu suchen, der sich durch die jüngsten Ereignisse zur Depression entwickeln kann. In solchen Phasen sind die Gewerkschaften objektiv nicht in der Lage, hohe Abschlüsse durchzusetzen. Schon jetzt predigt Gesamtmetall (und zwar vor der Finanzkrise), im Hinblick auf die Tarifrunde im Herbst in der Metall und Elektro-Industrie, Lohnzurückhaltung. Das ist ein kleiner Vorgeschmack auf die zukünftige Entwicklung, die weiter gegen die Lohnquote laufen wird und zur Senkung des Lebensstandards großer Teile der abhängig Beschäftigten führt. Die Armutsbedrohung wird also nicht verschwinden, sondern sie wird sich verallgemeinern.


Armut im Alter droht

Aber das dicke Ende kommt erst noch. "In 25 Jahren wird jeder zweite Rentner eine Rente in Höhe von Hartz IV bekommen", prognostiziert der selbsternannte "Rentenexperte" Meinhard Miegel vom Bonner Institut für Wirtschaft und Gesellschaft. Die Absicht Miegels ist klar: Er will mit der Horrorvision den Versicherungskonzernen Anleger für eine private Altersversorgung zutreiben. Eine Änderung der neoliberalen Bonner Politik will er natürlich nicht. Deshalb ist die Armutsbedrohung der abhängig Beschäftigten durchaus real. Die Verlängerung des Renteneintrittalters auf 67 Jahre bedeutet nichts anderes als eine weitere Rentenkürzung. Die meisten Arbeiter und Angestellten halten den Arbeitsstress bereits heute gesundheitlich schon nicht bis zum 65ten Lebensjahr durch. Auch gibt es kaum noch Arbeitsplätze für Ältere. Die Unternehmer wollen "olympiareife" Belegschaften und drücken ältere Beschäftigte - oftmals mit Mobbing-Methoden - systematisch aus den Betrieben. Das führt dazu, dass zwei Drittel vor 65 in die Rente gehen. Und das heißt: Sie gehen mit Rentenabschlägen. Wer deshalb in Zukunft mit 63 Jahren geht, hat eine Rentenkürzung für den Rest seines Lebens in Höhe von 14,4 Prozent hinzunehmen. Aber das ist noch nicht alles. Die Bundesregierung plant darüber hinaus, dass es in den nächsten Jahrzehnten keine oder nur minimale Rentenerhöhungen geben soll. Bei optimistisch angenommenen zwei Prozent Inflation bedeutet das für die nächsten zehn Jahre, eine weitere reale Rentenkürzung von 20 Prozent.

Auffangen kann man die Rentenkürzung nur durch eine private Altersversorgung. Eine solche können sich aber heute schon Millionen von Lohn- und Gehaltsempfänger nicht leisten. Sie bekommen zu wenig Lohn. Ihre Hungerlöhne reichen nicht aus, einen Teil davon auch noch an die Versicherungskonzerne abzudrücken.

Gelingt es deshalb in den nächsten Jahren den oppositionellen Kräften in der Gesellschaft nicht, der Politik eine andere Richtung zu geben, dann wird die Miegelsche Horrorvision wahr. Dann gibt es in Deutschland eine verbreitete Altersarmut.


Das Märchen von der demographischen Notwendigkeit

Die Neoliberalen sagen: Die Einschnitte bei den Renten sind erforderlich, weil die Menschen immer länger leben und immer weniger Kinder geboren werden; also wegen der demographischen Entwicklung. Dabei spielen sie sehr bewusst mit der Naivität der Bevölkerung, die sich dann auch für die neoliberale Argumentation offen zeigt, solange der Einzelne nicht selbst direkt betroffen ist. Das Argument ist: "Heute kommen vier Erwerbstätige auf einen über 65-Jährigen. In 30 Jahren sind es nur noch zwei Erwerbstätige. Damit ist der Generationenvertrag endgültig gesprengt. Wir müssen wegen dieses Sachzwanges das Rentensystem, ja sogar den ganzen Sozialstaat umbauen!"

So reden sie, die Neoliberalen in Regierung und Parteien. Bereits im Jahr 2006 knüpfte der damalige Bundesarbeitsminister Müntefering an diese "Argumentation des gesunden Menschenverstandes" an. Er meinte damals: "Da muss man kein Mathematiker sein, da reicht Volksschule Sauerland, um zu wissen: Wir müssen irgendetwas machen". Dieses Geschwätz eines Arbeitsministers lässt tiefe Einblicke in das Volksschulwesen des Sauerlandes zu, das Müntefering wohl im Überfluss genossen haben muss.

Die günstigste Annahme die man in dem Zusammenhang machen kann ist: Müntefering ist einfach zu blöd, die Probleme, die sich aus der Rentenentwicklung ergeben, zu durchschauen. Die weniger günstige, jedoch wahrscheinlichere ist, dass er die Zusammenhänge sehr wohl durchschaut, aber mit dieser infamen Argumentation die Bevölkerung zu manipulieren versucht.

In der Folge wurde die Regierung aus ihrer "sozialen Verantwortung" heraus auch aktiv. Sie hat nämlich, wie es Merkel ausdrückte, eine wirkliche Reform gemacht, die nach Merkel eine "ehrliche Politik" charakterisiere, "weil nämlich heute schon gesagt wird, wie es im Jahr 2012 bis zum Jahr 2029 gehen wird."

Mit dieser "ehrlichen Politik" stürzt die neoliberale Koalition die die heutigen Rentner - und noch mehr die zukünftigen - in die Altersarmut.

Untersuchen wir einmal die Notwendigkeit einer solchen "ehrlichen Politik" genauer: Schauen wir in die jüngere Geschichte zurück, dann werden wir feststellen, dass die Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung nichts Neues ist. Am Anfang des letzten Jahrhunderts kamen auf einen Rentner noch zwölf Beschäftigte. Das änderte sich in den Folgejahren drastisch. 1950 hatte sich dieses Verhältnis fast halbiert. Auf einen Rentner kamen nur noch sieben Erwerbstätige. Wenn das keine Verschiebungen in der Demographie sind! Und trotz dieser demographischen Belastungen war in der Nachkriegszeit der Ausbau des Sozialstaates mit seinen sozialen Sicherungssystemen, inklusive der Rentenversicherung, in vorher nicht gekannter Qualität möglich! Das hat Müntefering in seiner "Volksschule Sauerland" offensichtlich nicht gelernt.

Der "gesunde Menschenverstand" sagt, und daran knüpfte Müntefering ja an: "so etwas geht nicht". Aber die 50er- und 60er-Jahre haben gezeigt, dass so etwas sehr wohl geht. Und der Grund dafür liegt in der steigenden Produktivität der menschlichen Arbeit. Von jedem Werktätigen wurden und werden von Jahr zu Jahr mehr Produkte und Werte geschaffen. Allein in den 60er-Jahren war eine Steigerung von 50 Prozent zu verzeichnen (Michael Schlecht, FR, 27. Jan. 2007). Dadurch fiel die veränderte gesellschaftliche Altersstruktur nicht mehr ins Gewicht. Die steigende Produktivität hat also den demographischen Wandel mehr als ausgeglichen, wobei noch anzumerken ist, dass in jener Zeit auch massiv die wöchentliche Arbeitszeiten verkürzt wurden.

Auch in Zukunft wird die Produktivität steigen und somit der demographische Wandel auffangbar sein. Michael Schlecht von der Wirtschaftsabteilung der Gewerkschaft ver.di machte in der FR 2007 folgend Rechnung auf: "2006 wurde im Durchschnitt je Einwohner fast 28.000 Euro Reichtum produziert. Selbst bei einem jährlichen Produktivitätsfortschritt von nur einem Prozent und anhaltend hoher Arbeitslosigkeit würde das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung bis 2030 auf 31.500 Euro steigen. Ein Plus von 13 Prozent. Der oberste Rentenkürzer der Republik - Professor Rürup - geht von einer Produktivitätssteigerung von 1,8 Prozent je Jahr in der Zukunft aus. Das würde bedeuten, würde der erarbeitete Reichtum, auf alle, vom Baby bis zum ältesten Rentner, gleichmäßig verteilt, dass im Jahr 2030 für jeden 38.000 Euro entfallen würde. Etwa 35 Prozent mehr als 2006. Trotz Demographie! Wo ist da eigentlich das Problem?"

Ja, wo ist da eigentlich das Problem? Es liegt nicht im demographischen Wandel und auch nicht in der Ökonomie. Das Problem liegt allein an der einseitigen Verteilung des erarbeiteten Reichtums zu Gunsten der Kapitalisten. Eine höhere Produktivität heißt für das Kapital ganz klar die Steigerung der Profite. Setzt die Arbeiterklasse mit ihren Gewerkschaften nur ungenügende Lohnabschlüsse durch, dann fließen diese Profite unverhältnismäßig stark den Kapitalisten zu. Es findet eine Umverteilung von unten nach oben statt, die noch zusätzlichen Schub erhält durch die neoliberale Politik des Sozialabbaus und durch Steuergeschenke an die Kapitalisten. Das genau ist in den letzten zehn Jahren im Übermaß geschehen. Bei einer wirklich aktiven Lohnpolitik sähe das Bild anders aus. Dazu nochmals Michael Schlecht: "Gelingt es, Lohnsteigerungen mindestens in Höhe des verteilungsneutralen Rahmens durchzusetzen (verteilungsneutral ist eine Lohnsteigerung in Höhe des Produktivitätszuwachses plus der Inflationsrate), könnten die Beitragssätze über die bis 2030 geplante Marke von 22 Prozent steigen. Mit höheren Löhnen und höheren Beiträgen könnten Beschäftigte und Rentner an der wachsenden Leistungsfähigkeit der Arbeit teilhaben. Genau wie in den 50er-, 60er- und auch noch 70er-Jahren. Von 1957 bis heute stiegen die Beiträge von 14 auf knapp 20 Prozent an. Der Verzicht auf die Rente mit 67 würde bis 2030 gerade einmal zu einem um 0,5 Prozentpunkte höheren Beitrag führen."


Die Reichen werden reicher

Entscheidend für eine Veränderung der derzeitigen Zustände ist die Frage, welche Kraft die Werktätigen in der Lage sind aufzubringen, um eine Umverteilung von oben nach unten zu erzwingen. Diese Kraft war in den zurückliegenden Jahren nicht vorhanden. Die Folge davon ist nicht nur in der manifestierten Armut sichtbar, sondern auch an der Kehrseite der Armuts-Medaille, dem Reichtum in den Händen von Wenigen. So spricht der Armutsbericht der Bundesregierung von inzwischen 800.000 Einkommensmillionären (andere Einschätzungen gehen von eine Million Millionären aus), wobei die Vermögensmillionäre nicht ausgewiesen werden. Es gibt also immer mehr Reiche, die immer reicher werden. Dabei handelt es sich nicht alleine um die Manager, die im Brennpunkt einer öffentlichen Ablenkungsdiskussion stehen. Nach Berechnungen des ver.di-Vorstandes wurden allein in diesem Jahr von deutschen Aktiengesellschaften 27,2 Milliarden Euro an Dividenden an die Aktionäre ausgeschüttet. Soviel, wie noch nie! Eine Diskussion darüber findet öffentlich natürlich nicht statt, denn diese würde für die Bourgeoisie die Gefahr beinhalten, dass über die Vermögensverteilung in Deutschland grundsätzlich diskutiert werden könnte.

Aus diesem Grunde werden stellvertretend die Manager vorgeschoben, eine Schicht innerhalb der Kapitalistenklasse, die sich genauso hemmungslos an der Klasse der abhängig Beschäftigten bedient, wie die Bourgeoisie in ihrer Gesamtheit. Nur, bei dieser Spezies ist die Profitgier sichtbar. 5,1 Millionen Euro kassierte im Jahr 2007 im Durchschnitt jeder Vorstandsvorsitzende eines DAX-Konzerns. Alle 30 DAX-Bosse bekommen soviel, wie 4.500 ihrer Arbeiter und Angestellten. An der Spitze liegt bekanntlich Josef Ackermann von der Deutschen Bank mit 14,3 Millionen Euro.

Ein Ende der Fettlebe ist nicht abzusehen, denn die Mangergehälter sind im vergangen Jahr drastisch gestiegen und werden das wohl in der Tendenz auch in den nächsten Jahren tun. Zwölf Prozent waren es im Durchschnitt im vergangenen Jahr. Bei Infineon, Daimler, BMW, Merck und TUI waren es sogar fast 50 Prozent. In der Tat sind das schamlose Größenordnungen, vor allem, wenn man gleichzeitig die soziale Lage der Bevölkerungsmehrheit betrachtet.

Hier müsse die Politik steuernd eingreifen, fordern die Gewerkschaften. Die Politik reagierte darauf und griff mit vielen Appellen an Anstand und Moral in das Geschehen ein. Angefangen beim Bundespräsidenten, der Merkel und den Spitzen (fast) aller Parteien. Und sie überboten sich mit Vorschlägen, wie dem Problem beizukommen sei, die bei den betroffenen Managern allerdings nicht einmal ein müdes Lächeln hervorgerufen haben dürften. So zum Beispiel der Vorschlag, die Gehälter gesetzlich ab einer bestimmten Höhe zu deckeln. Ein Vorschlag, der im Widerspruch zur kapitalistischen Verfasstheit der Bundesrepublik steht und deshalb nicht ernst gewesen ist und gewesen sein kann. Geradezu lustig wirken deshalb im Moment die Schelten der Bankmanager und anderer Gierschlunde des Kapitals durch die Offiziellen der Politik.

Offensichtlich spüren sie aber die möglichen Gefahren für die Stabilität des kapitalistischen Systems durch die zunehmende Kluft zwischen unten und oben. Es müssen Nebelkerzen gesetzt werden. Nicht die kapitalistische Struktur der Gesellschaft soll als Verursacher der unsozialen Entwicklung im Brennpunkt stehen, sondern die wenigen raffgierigen Manager. Diese tragen ihre Rolle als Sündenbock mit Gelassenheit, was ihnen bei der herausragenden Bezahlung nicht schwer fallen dürfte. Das Ganze ist also nichts weiter als ein groß angelegtes Ablenkungsmanöver.

Wollte man tatsächlich etwas tun, könnte man die Spitzensteuersätze ab einem bestimmten Jahreseinkommen beispielsweise drastisch erhöhen. Eine Anhebung auf 80 Prozent hat beispielsweise "Die Linke" gefordert. Aber das ginge wohl zu weit - schließlich soll es ja so bleiben wie es ist. Deshalb ist davon selbstverständlich nicht die Rede.


Die Rolle der Gewerkschaften

Die Gewerkschaften haben in den zurückliegenden Jahren immer wieder versucht, den Sozialabbau und die Umverteilung von unten nach oben zu bekämpfen. Erfolgreich waren sie dabei leider nicht. Auch auf ihrem Hauptbetätigungsfeld, der Tarifpolitik, sind die Erfolge dürftig. Nichts zeigt das deutlicher als die Einkommensentwicklung der letzten zehn Jahre. Diese ist, wie schon dargestellt, geprägt von Lohnstagnation und Reallohnabbau. Hinzu kommen interne Probleme, wie Mitgliederrückgang, schwindender Einfluss, selbst in großen Betrieben und die schwindende Bindekraft der Tarifverträge. Darauf wurde in den Jahreskonferenzen der zurückliegenden Jahre mehrmals eingegangen.

Die Gewerkschaften befinden sich seit Jahren in einem Erosionsprozess, der ihre Schwäche begründet und der sich beschleunigt. Aufzuhalten wäre er nur, wenn ohne politische Rücksichtnahme auf die Sozialdemokratie und bei Aufgabe ihres staatstragenden Selbstverständnisses die Interessen der Arbeiterklasse offensiv vertreten würden. Doch darauf werden wir wohl vergeblich warten. Hatte es noch während der Schröder-Regierung und in der Anfangszeit der großen Koalition zwischen den Gewerkschaften und der SPD "atmosphärische Störungen" gegeben, die bei den Gewerkschaften zu der Tendenz geführt hat, sich von der Sozialdemokratie zu emanzipieren, so befinden sich DGB und Einzelgewerkschaften inzwischen wieder auf Schmusekurs. Das gilt besonders für die IG Metall. Das Führungsduo Huber/Wetzel betreibt eine solche Politik ganz offensichtlich. Doch dazu noch später. Erleichtert wird eine Wiederannäherung an die SPD natürlich durch deren Politik. Nachdem man sich dort, um der "Linken" den Wind aus den Segeln zu nehmen, wieder "sozial" gibt und die gewerkschaftliche Forderung nach der Einführung eines Mindestlohns übernommen hat, scheint für nicht wenige Führungsleute in den Gewerkschaftsvorständen, die Welt wieder im Lot zu sein.

Man weiß dabei nicht, ob die dort so dumm sind oder nur so dumm tun. Wahrscheinlich trifft beides zu. An der SPD-Spitze auf jeden Fall ist man nicht bereit, sich grundsätzlich von der Agenda 2010 zu distanzieren. Das gilt umso mehr jetzt, nachdem Kurt Beck aus dem Parteivorsitz gedrängt worden ist. Auch eine Abkehr vom rigorosen staatlichen Sparkurs ist nicht in Sicht und die Forderung nach einem Mindestlohn vertritt man nur deshalb, weil man mit der "Die Linke" konkurriert, die mit dieser Forderung schon lange vor der SPD in die Offensive gegangen ist. Im Grundsatz soll sich nichts ändern. Die einstige Klientel der Sozialdemokratie wird weiter in die Verarmung getrieben. Damit ist aber auch der weitere Niedergang der Sozialdemokratie vorprogrammiert. Da wird ihr auch die halbherzige Unterstützung der Forderung nach einem Mindestlohn nichts nützen. Die Gewerkschaften aber werden, wenn sie wieder die alte Verbundenheit mit der SPD aufnehmen sollten, in diesen Niedergangsstrudel hineingezogen. Als hätten sie nicht schon für sich allein genug Probleme.

Da ist beispielsweise die Mitgliederentwicklung. In allen Gewerkschaften gehen in den nächsten Jahren die mitgliederstarken Jahrgänge in die Rente. Allein bei der IG Metall sind das bis zum Jahr 2012 rund 300.000 Mitglieder. Wenn es den betrieblichen Funktionären nicht gelingt, diesen Aderlass mit der Werbung neuer Mitglieder auszugleichen, kommt das einer organisationspolitischen Katastrophe gleich.

Von daher hat Huber schon Recht, wenn er davon spricht, dass die Mitgliederwerbung und die Verbesserung des Organisationsgrades die politischste Aufgabe der IG Metall sei. Es stellt sich dann allerdings die Frage nach dem "Wie"? Wie soll die politischste aller Aufgaben angegangen werden?

Darauf hat der IG Metall-Vize Detlef Wetzel eine Antwort. Man will den neoliberalen Profitsteigerungsmethoden der Kapitalisten ein neues Leitbild entgegensetzen: "Besser statt billiger" lautet das Motto, das laut Wetzel die Betriebsräte bundesweit in die Betriebe tragen sollen. Im Tagesspiegel hat er im Mai d. J. die Vorstellungen, die sein Zuständigkeitsbereich entwickelt hat, dargestellt. "'Wir erleben eine grundsätzliche Auseinandersetzung industrieller Strategien', sagt Wetzel. Auf der einen Seite arbeiteten Unternehmen hochprofitabel und schafften neue Arbeitsplätze, indem sie auf Innovationen, auf Beteiligung der Belegschaften und Kreativität setzten. Auf der anderen Seite operierten viele Unternehmen selbst in Boom-Zeiten an der Verlustgrenze und glaubten, sich nur durch harte Kostenreduzierungen oder Verlagerungen über Wasser halten zu können. Nach Wetzel sollen dann Betriebsräte 'bei drohenden Werksschließungen' durch 'faire' Kostenvergleiche befähigt werden, der Chefetage Alternativen zu präsentieren. Dort, wo das bereits funktioniert, sei die Resonanz in der Mitgliedschaft 'riesig'."

Eigentlich fällt einem dazu nicht mehr viel ein. Wetzel will natürlich mitnichten die Arbeiterklasse auf die revolutionäre Betriebsübernahme vorbereiten. Wetzel will das Gegenteil. Er will das Co-Management der Betriebsräte in absolut verschärfter Form. Wetzel sagt, dass die IG Metall in NRW sehr gute Erfahrungen damit gemacht habe. Die hat man allerdings auch anderswo gemacht. In ganz herausragender Weise hat dieses Co-Management beispielsweise im VW-Konzern funktioniert. Und mit Sicherheit war auch die Resonanz bei der VW-Belegschaft "riesig", als sie von den Lustreisen ihres BR-Vorsitzenden Volkerts erfuhr. Nun muss die Kungelei von Betriebsräten mit Unternehmensvorständen nicht die Ausmaße der Wolfsburger Ereignisse annehmen. Aber sicher ist, dass Betriebsräte und Gewerkschafter, die Hand in Hand mit Unternehmensleitungen Strategien gegen konkurrierende Unternehmen entwickeln, objektiv gegen die Interessen der in diesen Unternehmen beschäftigten Arbeiter und Angestellten handeln. Und zwar gleichgültig, ob im Inland oder Ausland. Auch ist mehr als zweifelhaft, dass eine solche BR-Politik den eigenen Kollegen nutzt. Ein Betriebsrat und eine Gewerkschaft, der und die in die Unternehmenspolitik der Kapitalisten eingebunden ist, wird sehr viel Verständnis für die betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten der Kapitalseite aufbringen und sich bei Personaleinschnitten sicherlich nicht verweigern - solange sie sozialverträglich abgefedert sind, natürlich!


Wursteln ohne Klassenstandpunkt

Wie mit einer solchen Strategie, die den Begriff "Solidarität" nicht kennt, neue Mitglieder gewonnen werden sollen, bleibt dem Außenstehenden verborgen. Auf die Idee, dass Menschen vielleicht schneller über eine konfliktorientierte Strategie den Weg zur Gewerkschaft finden könnten, kommt Wetzel erst gar nicht. Tröstlich ist immerhin, dass er sich laut Tagesspiegel "im Übrigen an der Seite von Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht, die kürzlich auch betont habe, 'dass die deutsche Volkswirtschaft über eine Besser-Strategie funktioniert und nicht mit billig'".

Aber die Kampagne "Besser statt billiger" ist bei Leibe kein Alleingang Wetzels. Hinter ihr steht in gleichem Maße auch der Vorsitzende Huber. Auf der Bezirkskonferenz des größten IG Metall-Bezirks NRW, hat er im August dieses Jahres in einem Grundsatzreferat sein politisches Credo abgelegt. Im Hinblick auf die alte Arbeiterbewegung führte Huber aus, "dass viele alte Gewissheiten heute nicht mehr tragen". Damit meinte er das sozialistische Endziel. Er erklärte dann seine Erkenntnis folgendermaßen: "Die Versuche zur Errichtung nichtkapitalistischer Gesellschaften sind gescheitert." Er schränkte dann immerhin etwas ein und meinte: "Ich sage nicht, dass der Kapitalismus das letzte Wort der Geschichte ist. Aber: Heute geht es um etwas anderes". Nach Huber geht es um zwei Entwicklungswege. Der erste ist der neoliberale und marktradikale Kapitalismus, der den "alten Grundkonsens der Bundesrepublik in Frage stellt". Und der zweite Weg ist der des "Ausgleichs, der Verteilungsgerechtigkeit, der Bildung, der Innovation und der Nachhaltigkeit sowie der akzeptierten Mitbestimmung und lebendigen Demokratie." Nach Huber sind "beide Wege kapitalistisch. Wirtschaftlicher Erfolg ist auf beide Weisen möglich. Heute geht es darum: Welcher Weg setzt sich durch!?"

Damit ist der Weg eindeutig beschrieben, den die neue Führungsriege mit der IG Metall gehen will. Mehr als den Kapitalismus mitgestalten und von den Kapitalisten als Partner akzeptiert werden, will man nicht. Neu ist dieser Weg nicht. Auch in den 60er- und 70er-Jahren stand der Mitgestaltungsanspruch in den Programmen der Gewerkschaften. Aber immerhin verstand man sich damals als Gegenmacht zur realen Unternehmermacht. Huber und Wetzel rücken dafür heute das "Co-Managment-sein-wollen" an die Stelle des "Gegenmacht-sein-wollen". Der Weg ist verhängnisvoll und auch illusorisch und wird der IG Metall schaden. Es ist der Weg der IGBCE, bei der die Kooperation mit dem Klassengegner die Gewerkschaft fast bis zur Unkenntlichkeit verkommen lassen hat. Wenn Ausgleich und Kooperation mit dem Gegner im Vordergrund stehen, meidet man möglichst die Konfrontation. Dann hofft man auf die Vernunft des "Sozialpartners" und dann glaubt man daran, mit Argumenten mehr zu erreichen als mit gewerkschaftlicher Aktion, sowohl bei den Gegnern in den Verbänden und Betrieben, als auch in Parteien und Regierung.

Zwar schließt die IG Metall-Spitze den gewerkschaftlichen Kampf nicht grundsätzlich aus. Aber wer von "akzeptierter Mitbestimmung" und "lebendiger Demokratie" faselt, wer Appelle an die Kapitalisten richtet, doch bitte "die Arbeitnehmer besser zu behandeln und wertzuschätzen", wie das Wetzel getan hat, der wurstelt ohne Klassenstandpunkt vor sich hin und fährt die Karre in den Dreck.

Auch wenn Huber meint, dass "viele alte Gewissheiten heute nicht mehr tragen", so besteht doch heute weiterhin, genauso wie gestern, der Grundwiderspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten Aneignung deren Ergebnisse. Daraus leiten sich alle anderen Widersprüche, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, ab - auch die Massenarbeitslosigkeit und die neue Armut. Huber und Wetzel negieren diese wissenschaftlichen marxistischen Erkenntnisse und werden deshalb Schiffbruch erleiden.

Es geht nicht darum, den Weg der kapitalistischen Entwicklung zu beeinflussen und die zivilisiertere der beiden Möglichkeiten kritisch zu begleiten. Es geht vielmehr darum, gegen die kapitalistischen Angriffe Widerstand zu organisieren, damit sich bei den abhängig Beschäftigten Klassenbewusstsein entwickeln kann, das schließlich die Möglichkeit eröffnet, den kapitalistischen Grundwiderspruch zu überwinden.

Aber vielleicht werden schon in der kommenden Tarifrunde im Herbst die beiden auf den Boden der kapitalistischen Realität zurückgeholt. In der Beziehung ist auf die Kapitalisten meistens Verlass. In einem Interview hat Huber angekündigt, dass ein Abschluss über vier Prozent (was wiederum Reallohnverlust bedeuten würde) liegen müsse. Gesamtmetallchef Kannegießer dagegen sieht aufgrund der konjunkturellen Entwicklung kaum Spielräume. Das Handelsblatt sah deshalb schon vor dem Zusammenbruch der Finanzsysteme eine harte Tarifrunde auf die Republik zukommen. Und deshalb ist es durchaus möglich, dass die IG Metall in einen Arbeitskampf gezwungen werden könnte, was auf der einen Seite nicht die schlechteste aller Möglichkeiten, auf der anderen Seite aufgrund der heraufziehenden Krise auch nicht unproblematisch wäre.


Verwirrung auf der ganzen Linie

Die Führungen der richtungsangebenden Gewerkschaften meinen heute ihre Traditionen, ökonomische Erkenntnisse und Klassenkampfstandpunkte über Bord werfen zu müssen. Waren diese schon in früheren Jahren wenig ausgeprägt, so sind sie heute für die Gewerkschaftsspitzen obsolet.

Eine mögliche sozialistische Umgestaltung der BRD ist für einen Huber, Wetzel, Schmoldt, und wie sie alle heißen, ein unvorstellbarer Weg. Wer solcher Auffassung ist, sucht nach Alternativen. Und diese können nur noch in den Grenzen des kapitalistischen Systems liegen. Deshalb ist es für sie kein Widerspruch, wenn sie sich den Politikvorgaben der Kapitalisten anpassen und meinen, mit einem zweifelhaften "Modernismus" und mit Co-Mangement, deren Akzeptanz zu gewinnen und wieder zu mehr Einfluss und zu mehr Mitgliedern zu gelangen.

Die Verwirrung besteht auf der ganzen Linie, denn politische Illusionen und indifferenten Standpunkte sind nicht nur auf Gewerkschaftskreise beschränkt. Sie findet man auch bei Gruppen, die sich selbst der politischen Linken zurechnen, in noch umfangreicherem Maße. Das ist auch kein Wunder, denn wenn man die marxistische Gesellschaftswissenschafte für tot erklärt hat, muss man notgedrungen die Welt neu erfinden.

Auch hier sucht man nach Ansätzen, die gesellschaftlichen Deformationen auf dem Boden und innerhalb einer kapitalistisch strukturierten Gesellschaft zu beseitigen.

Als Stichwort sei hier das bedingungslose Grundeinkommen (bGE) genannt, das sich einer breiten Diskussion erfreut. Die Linksfraktion im Bundestag teilt zwar das Ziel der Einführung eines bGE nicht, sie verfolgt das Modell der bedarfsorientierten Grundsicherung. Einzelne Abgeordnete halten aber weiter an dem bGE fest, wie zum Beispiel die stellvertretende Parteivorsitzende Katja Kipping, was zu einer regen Diskussion in der Partei "Die Linke" führt. An der Auseinandersetzung sind führend die Strömungen "Emanzipatorische Linke", die "Sozialistische Linke" sowie Bundes- und Landesarbeitsgemeinschaften "Grundeinkommen" beteiligt.

Ronald Blaschke, Philosoph und Zuarbeiter Kippings, sieht in dem bGE neben der Armutsbeseitigung vor allem das emanzipatorische Element. In einem Papier aus dem Jahre 2006 schreibt Blaschke: "Unter Emanzipation verstehe ich die fortschreitende freie (also selbst bestimmte) Verfügung aller Menschen über das eigene Leben. Ein bGE ermöglicht die weitgehende freie Verfügung aller Menschen über das eigene Leben". Und Blaschke definiert dann auch, was er unter einem Grundeinkommen versteht, nämlich, "ein allen Menschen individuell zustehendes und garantiertes, in die Existenz sichernder Höhe (Armut verhindernd, gesellschaftliche Teilnahme ermöglichend), ohne Bedürftigkeitsprüfung (Einkommens-/Vermögensprüfung), ohne Arbeitszwang und -verpflichtung bzw. Tätigkeitszwang und -verpflichtung vom politischen Gemeinwesen ausgezahltes Grundeinkommen". Blaschke verfolgt mit seinen Überlegungen also das Ziel, unter Fortbestand der kapitalistischen Eigentums- und Machtverhältnissen, so etwas ähnliches wie den Kommunismus einzuführen. Auf die Finanzierung des bGE geht Blaschke nicht ein. Vielleicht deshalb, weil es in der Diskussion eine Menge von Finanzierungsbeispielen gibt, die beweisen, dass ein bGE möglich ist. Zur Durchsetzung der Forderung meint er immerhin, "die praktische Einführung des bGE (wird) nicht vom Himmel fallen. Der Diskurs muss offensiv und gemeinsam mit den Menschen in unterschiedlichen Interessenlagen geführt, die Einführung des bGE politisch erkämpft werden". Über die Frage, wie der politische Kampf dafür aussehen muss, lässt sich Blaschke in dem Papier nicht aus. Doch aus der Betrachtung des gesamten Kontextes, kann er nur meinen mit außerparlamentarischen Aktionen und parlamentarischen Mehrheiten.

Blaschke und die Vertreter des bGE sind Illusionisten. Sie haben sich in die Einzelheiten ihrer Modelle eines bGE dermaßen verrannt und geradezu verliebt, dass sie die Klassenstruktur der Gesellschaft und den Klassencharakter des Staates völlig vernachlässigen. In dem Punkt ähneln sie den historischen Frühsozialisten, die ebenfalls mit phantastischen Gesellschaftsmodellen das Proletariat und die gesamte Menschheit aus dem Elend erlösen wollten. Was daraus wurde, wissen wir heute!

Die Vertreter des bGE, und insbesondere die "Emanzipatorische Linke", verstehen unter "bedingungslos", dass tatsächlich alle Menschen keinerlei Arbeitszwang unterliegen dürfen.

Eine solche Forderung findet natürlich durchaus eine Resonanz bei Arbeitslosen und Hartz IV-Empfängern, die staatlicherseits mit manchmal schikanösen Methoden zur Annahme jeglicher so genannter zumutbarer Arbeit gezwungen werden. Dass ein solcher Arbeitszwang insbesondere von der Linken nicht akzeptiert werden kann und politisch mit allen Mitteln bekämpft werden muss, bedarf keiner Diskussion. Er ist nicht nur für die davon Betroffenen eine Demütigung, sondern er hat die objektive Funktion, die Arbeiterklasse zu disziplinieren, die Konkurrenz innerhalb der Klasse zu verschärfen und sie damit zu spalten. Die Hartz-Gesetze entsprechen damit ganz klar der Interessenlage der Kapitalisten. Und insoweit ist die Forderung nach Beseitigung eines solchen Arbeitszwangs für Linke natürlich eine Selbstverständlichkeit.

Die Vertreter des bGE wollen aber darüber hinaus. Sie wollen jeglichen Zwang zur Arbeit abschaffen (unter Beibehaltung der kapitalistischen Produktionsweise). Abgesehen davon, dass es in jeder Gesellschaft, auch in einer kommunistischen, den Zwang gibt, die erforderlichen Mittel zum Leben und Überleben zu erarbeiten, ist die Forderung, innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft den Zwang zur Arbeit abzuschaffen, geradezu absurd. Der Kapitalismus kann nur durch den Arbeitszwang existieren. Im Kapitalismus besteht der Zwang zur Lohnarbeit für all diejenigen, die über kein Kapital, und damit über keine Produktionsmittel verfügen. Nur mit der erzwungenen Lohnarbeit sind sie in der Lage ihre Existenz zu sichern und sich zu reproduzieren.

Ein bGE, wie es sich Blaschke und Genossen vorstellen, würde den Lebensnerv des Kapitals treffen und ist deshalb innerhalb des kapitalistischen Systems nicht durchsetzbar. Schließlich war die Voraussetzung für die Entstehung des Kapitalismus die Enteignung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln und der daraus resultierende Zwang zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft an einen Kapitalisten. Das lässt sich innerhalb einer bürgerlichen Gesellschaft nicht ändern und schon gar nicht auf parlamentarischem Weg.

Die Forderung nach einem bGE ist nicht nur eine Illusion, sondern sie ist auch nicht förderlich für den gemeinsamen Kampf zur Abwehr der Angriffe des Kapitals. Von dieser Seite wird ständig gespalten. Man betrachte nur die regelmäßige Hetze der Kapitalistenpresse, allen voran die Bild-Zeitung. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht über die "faulen Arbeitslosen" und die "Hartz IV-Betrüger" geschrieben wird. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass diese Hetze bei den rückständigen Teil der Arbeiterklasse auf fruchtbaren Boden fällt. Nicht wenige übernehmen die Hetze, dass die Arbeitslosen sich auf ihre Kosten ein schönes Leben machen. Die Forderung nach einem bGE begünstigt das und natürlich auch die Möglichkeit der verschärften Hetze.

Natürlich haben die Vertreter des bGE dieses Modell aus anderen Motiven entwickelt. Aber objektiv trägt es mit zur Spaltung innerhalb der Klasse bei und schwächt diese, wenn auch nicht entscheidend.

Was nicht zu verstehen ist, ist die Ignoranz der Verfechter dieses Modells. Sie weigern sich schlichtweg zur Kenntnis zu nehmen, dass die tatsächliche Macht in der Gesellschaft die Kapitalisten haben, dass der Staat das Instrument eben dieser Klasse ist und dass die Demokratie im Land nur einen formalen Charakter hat. Sie werden wohl resistent gegenüber diesen Erkenntnissen bleiben.

Aber das ist unwichtig, denn es hat in der Zukunft keine große Bedeutung. Die heraufziehende Weltwirtschaftskrise wird die Modelle von bGE verdrängen. Die Krise wird gesellschaftspolitische Erschütterungen verursachen und Fragen aufwerfen, die für die Arbeiterklasse von existenzieller Bedeutung sind. Raum für solche Spielereien wie das bGE wird da ohnehin nicht vorhanden sein. Bleiben wird, wenn überhaupt, eine historische Randnotiz, die in wenigen Jahren vergessen sein wird.


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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 162, Winter 2009, Seite 18 bis 24
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
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Internet: www.arbeiterstimme.org

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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Februar 2009