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ARBEITERSTIMME/307: USA-Kuba-Venezuela - Unterschiedliche Signale, wohin geht die Reise?


Arbeiterstimme Nr. 188 - Sommer 2015
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

USA-Kuba-Venezuela:
Unterschiedliche Signale - Wohin geht die Reise?


"Jedes erdenkliche Mittel sollte genutzt werden, um das Wirtschaftsleben Kubas zu schwächen (...), um Hunger, Verzweiflung und den Umsturz der Regierung hervorzubringen." (aus einem Geheimpapier des US-Außenministeriums vom 6. April 1960)


Die Überraschung hätte nicht größer sein können. Nach mehr als 55 Jahren, nach Jahrzehnten, die geprägt waren von einer Strategie der US-Regierungen, die Wirtschaftssabotage, Staatsterrorismus und Mord beinhaltete, trat am 17. Dezember 2014 der US-Präsident Barack Obama vor die Öffentlichkeit und kündigte die Kehrtwende in der Politik seines Landes gegenüber Kuba an. Er begründete diesen Schritt mit dem Eingeständnis des Scheiterns der bisherigen Blockadepolitik: "Wir können nicht das Gleiche machen, was wir in den vergangenen fünf Jahrzehnten getan haben, und ein anderes Ergebnis erwarten." Hillary Clinton, ehemalige Außenministerin unter Obama und aussichtsreiche Kandidatin bei den Präsidentschaftswahlen 2017, schlug schon einige Zeit vorher in dieselbe Kerbe: "Am Ende meiner Amtszeit habe ich Präsident Obama gebeten, dass er unser Embargo gegenüber Kuba noch einmal überdenkt. Es macht keinen Sinn und behindert unsere Pläne in ganz Lateinamerika." Sich vorzustellen, was die US-Lady unter "unsere Pläne" versteht, erfordert wenig Phantasie. Einen Hinweis lieferte der US-Präsident am 9. März 2015, als er Venezuela zu einem Sicherheitsrisiko für die USA erklärte, venezolanische Gelder in den USA einfrieren ließ und ein Einreiseverbot für bestimmte Funktionsträger der chavistischen Bewegung verhängte. Also einerseits Deeskalation Kuba betreffend, andererseits eine "diplomatische Kriegserklärung" (Heinz Bierbaum) gegenüber Kubas engstem Verbündeten. Dazu später mehr. Zeitgleich mit Obamas Rede kündigte Raul Castro am 17. Dezember die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen an und begrüßte die Freilassung der letzten drei Mitglieder der "Cuban Five", der kubanischen Aufklärer, die seit 16 Jahren in US-Haft waren, als Zeichen des guten Willens seitens der US-Regierung. Es sollte dann noch fast ein halbes Jahr dauern, bis nach intensiven Verhandlungen konkrete Ergebnisse auf dem Weg zur Normalisierung der Beziehungen erreicht wurden. Dazu gehören die Eröffnung eines Kontos bei der Stonegate-Bank in Florida und die Streichung aus dem Verzeichnis der "Schurkenstaaten", in das Kuba 1982 wegen angeblicher "Verbindungen zum internationalen Terrorismus" von den USA aufgenommen worden war. Steht noch die Beendigung der 1962 von den USA verhängten Wirtschafts-, Handels-und Finanzblockade aus. Nicht zu vergessen, die Rückgabe des seit 1903 besetzten Gebietes in der Bucht von Guantanamo.

Die überraschende Wende im US-kubanischen Verhältnis war der krönende Abschluss des Jahres 2014. Es hatte im Januar mit einem Gipfeltreffen der Lateinamerikanischen und Karibischen Staatengemeinschaft (CELAC) in Havanna begonnen. Im April setzten Verhandlungen mit der EU ein. Auch das eine neue Entwicklung: Die Außenminister der Niederlande, Frankreichs, Großbritanniens und Spaniens gaben sich in der kubanischen Hauptstadt die Klinke in die Hand. Im März dieses Jahres kam schließlich die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini zu zweitätigen Gesprächen nach Havanna. Im Mittelpunkt ihres Besuches stand das Bemühen, bis zum Ende des Jahres den Rahmen für ein neues Abkommen mit Kuba zu skizzieren. Dieses Abkommen soll den "Gemeinsame(n) Standpunkt" von 1996, der 2003 noch einmal verschärft worden ist, ablösen. Er war von der rechtskonservativen Regierung Spaniens durchgesetzt worden und hat seither die Beziehungen zwischen Kuba und den EU-Staaten vergiftet. Kuba ist der einzige lateinamerikanische Staat, mit dem die EU bislang kein bilaterales Abkommen erarbeitet hat. Bevor jedoch die EU hinsichtlich Kuba neue Fakten schaffen konnte, ging der französische Präsident Hollande in die Offensive. Im Mai 2015 stattete er Kuba als erster westlicher Staatschef einen Besuch ab. Im Tross hatte er Wirtschaftsvertreter. Und so war es nicht überraschend, dass der französische Ölkonzern Total die Erlaubnis erhielt, vor der kubanischen Küste nach Öl zu bohren. Hollande plädierte für ein Ende des US-Embargos und versprach seinen Gesprächspartnern, sich aktiv dafür einzusetzen. Woher aber das plötzliche Interesse an Kuba? Sicher ist es den EU-Mächtigen wie der US-Administration nicht entgangen, dass der Karibikstaat seit längerem intensive Kontakte zu den BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika unterhält und diese systematisch ausbaut.

Warum ist für Kuba die Orientierung an den BRICS-Staaten von Vorteil?

Für diese Staaten ist bereits jetzt Kuba der wichtigste Standort der Karibik. Um das zu erreichen, hat Kuba einige Vorleistungen erbracht. So wurde ein Containerhafen gebaut, an den eine Sonderwirtschaftszone angegliedert ist, die zum Teil mit brasilianischen Krediten finanziert wird. Auf über 450 Quadratkilometern entstehen Industrieparks für Hochtechnologie und internationale Logistik-, Handels- und Serviceunternehmen. Noch ist nicht viel passiert, aber man bemüht sich vor allem um Investitionen aus den Bereichen Biotechnologie, Pharmaproduktion, erneuerbare Energien, Agrarindustrie etc. Ein entsprechendes Auslandsinvestitionsgesetz ist verabschiedet. Nach Angaben des Wirtschaftsministers benötigt Kuba jährlich 2 bis 2,5 Milliarden US-Dollar an ausländischen Direktinvestitionen, um sich entwickeln zu können. Erfolgversprechende Ansätze sind vorhanden. Mit Brasilien wird die Kooperation auf dem Gebiet der Biotechnologie ausgebaut. Beim Besuch von Präsident Wladimir Putin im vergangenen Sommer wurde die frühere kubanisch-sowjetische Freundschaft reaktiviert. 90 Prozent der Altschulden gegenüber der verblichenen Sowjetunion durfte die kubanische Regierung abschreiben.

Russland wird sich in den kommenden Jahren mit wichtigen Industrieprojekten wie etwa einem Kraftwerk in der Sonderwirtschaftszone einbringen. Hans Modrow: "Kuba ist heute mehr denn je die Pforte zu Lateinamerika. Das hat Putin sehr wohl verstanden," (Hermsdorf, 259). Auch China verfolgt weitreichende Interessen in der Region. Über 200 Milliarden Dollar will man in den kommenden 10 Jahren in Lateinamerika investieren. Der Schwerpunkt der Investitionen liegt auf dem Energiesektor. Aber auch Projekte in der Landwirtschaft, der Industrie und im Bereich der Zukunftstechnologien sollen geplant sein. Dabei spielen der neue Tiefseehafen in Kuba und der in der Planung befindliche Kanal durch Nicaragua eine wichtige Rolle. Der von chinesischen Investoren projektierte Kanal mag unter ökologischen Gesichtspunkten umstritten sein, China sieht das Vorhaben unter geostrategischen Gesichtspunkten. Man möchte im Konfliktfall nicht mit einem durch die USA gesperrten Panamakanal konfrontiert sein. Wenn sich Anfang Juni die Staatschefs der G7-Staaten (USA, Japan, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien und Kanada) im bayerischen Elmau unter strengster Abschirmung treffen, repräsentieren sie nicht mehr die sieben größten Volkswirtschaften der Welt. Denn zwischenzeitlich sind auch die BRICS-Staaten zu einem Machtfaktor herangewachsen, der zumindest in ökonomischer Hinsicht dem G7 Block ebenbürtig ist. Waren im Jahr 2000 die G7-Staaten noch mit 45,7 % am Welt-BIP beteiligt und die BRICS-Staaten - damals noch nicht in einem organisierten Verbund - erst mit 15,8 %, kann man 14 Jahre später schon fast von einer Parität sprechen. Der Anteil der G7 hat sich auf 32,9 % verringert, während die BRICS-Staaten auf 30,9 % aufgeholt haben. (Die Berechnung bezieht sich auf Kaufkraftparitäten.) Obwohl BRICS erst sechs Jahre als organisierter Akteur besteht, werden die gemeinsamen Handlungsinstrumente der - ansonsten recht unterschiedlichen Gesellschaftssysteme - rasch entwickelt. Deutlich erkennbar will man sich vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank abnabeln. Am 1. Januar 2016 soll die eigene Entwicklungsbank New Development Bank (NDP) und der BRICS-Währungsfonds starten. Während der IWF die Kreditvergabe u. a. von neoliberalen Strukturreformen abhängig macht, soll es bei den BRICS-Finanzinstitutionen keine politischen Bedingungen geben. Konsequenterweise will man sich auch der Willkür der drei US-Ratingagenturen entziehen. Auf dem BRICS-Gipfel im Juli in Russland soll eine eigene Ratingagentur beschlossen werden. Auch China hat vor kurzem eine gegründet. Die BRICS-Staaten wollen, das ist klar ersichtlich, "den Übergang zu einem polyzentrischen System einleiten. Das ist der gemeinsame Nenner, der sie über alle Unterschiede hinweg verbindet. Die BRICS sind ein antihegemoniales Projekt." (Peter Wahl, Sozialismus 5/15, S.14) Im neuesten isw-Report wird BRICS wie folgt bewertet: "Der gesellschaftliche Stellenwert von BRICS dürfte gegenwärtig vor allem darin bestehen, dass es durch seine Existenz und ökonomischen Potenzen Spielräume eröffnet für Länder und Staatengemeinschaften, die das Ziel haben, den Kapitalismus zu überwinden, derzeit vor allem in Lateinamerika." (Fred Schmid, isw-Report Nr.100/101, S. 58) Sich da anzudocken, bietet für Kuba die Chance, sich nicht alternativlos den Gesetzmäßigkeiten eines neoliberalen, kapitalistisch Weltmarktes unterwerfen zu müssen.

Wo steht Kuba heute?

Kuba ist das einzige Land in Amerika, das nach einer Revolution die Grundlage für die Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung geschaffen hat und Sozialismus als Ziel weiterhin verfolgt. Unter Führung von Fidel Castro, der elf US-Präsidenten und zahllose Attentatsversuch der CIA überlebt hat, und dem Venezolaner Hugo Chavez, wurden erfolgreiche Integrationsprozesse initiiert und entwickelt. Die hegemoniale Rolle der USA ist geschwächt. In vielen Ländern der Welt ist medizinisches Personal aus Kuba im Einsatz, so z. B. in den von Ebola betroffenen Ländern Westafrikas. Tausende Medizinstudent*innen aus allen Kontinenten werden für den Dienst in den Heimatländern ausgebildet. In Kuba wurde ein Alphabetisierungsprogramm entwickelt, durch das Millionen Menschen in Lateinamerika lesen und schreiben lernen. Die kubanische Regierung trägt entscheidend dazu bei, den letzten bewaffneten Konflikt auf dem Kontinent durch Verhandlungen in Havanna zu lösen. Trotz dieser hervorragenden Bilanz kann sich die kubanische Staats- und Parteiführung nicht selbstgefällig zurücklehnen. Das Problem ist ein Wirtschaftssystem, das den aktuellen Anforderungen nicht mehr gerecht wird.

Was unternimmt Kuba, um ein effizienteres Wirtschaftssystem zu entwickeln?

Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme in Europa war Kuba in einer Falle, aus der kaum ein Entrinnen möglich war. Innerhalb weniger Tage war das Bruttosozialprodukt um 35 Prozent eingebrochen. Niemand hätte nach dem Ende der Sowjetunion für "das Überleben der kubanischen Revolution auch nur einen Pfifferling gegeben", sagte Fidel Castro selbst seinem Biografen Ignacio Ramonet. Die ökonomische Situation verschärfte sich dermaßen, dass 80 Prozent der Industrieanlagen stillstanden. Die Zuckerproduktion brach um die Hälfte ein. Die Importe fielen innerhalb von drei Jahren von 8,1 Milliarden Dollar auf 2,2 Milliarden.

Für die folgenden Jahre standen Probleme des Überlebenskampfes im Vordergrund. Schnelle Maßnahmen waren gefragt. Strukturelle Disparitäten konnten deswegen nicht angegangen werden. Subjektive Schwächen und Fehler kamen erschwerend hinzu. Es war die kubanische Führung selbst, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf schonungslose Analyse drängte. "Entweder wir ändern uns, oder wir gehen unter." (Raul Castro). Inzwischen war die dunkelste Phase der Spezialperiode überwunden, und die Linksentwicklung in Ländern wie Venezuela, Bolivien und Ecuador verschaffte Kuba einen größeren Spielraum.

Die notwendigen Veränderungen wurden im Rahmen der vom 6. Parteitag der kubanischen KP 2011 verabschiedeten 313 Leitlinien in Angriff genommen. Seither wird experimentiert, ausgewertet, gegeneinander abgewogen. In Kuba wird dieser Prozess mit dem Begriff Aktualisierung bezeichnet. Er impliziert nicht zuletzt weniger Gängelung und Einengung, mehr Eigeninitiative. Ein Schwerpunkt ist die Landwirtschaft. Wenn 60 Prozent oder mehr der Nahrungsmittel importiert werden müssen und gleichzeitig ein Drittel der nutzbaren Fläche brachliegt, liegt der Fehler im System. Um die Lebensmittelproduktion anzukurbeln hat Kuba seit dem Jahr 2008 mehr als 1,7 Millionen Hektar Ackerland an über 200.000 Kleinbauern übergeben. Diese bewirtschaften inzwischen gut 27 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche und stellen mehr als die Hälfte der Mitgliedschaft in der Kleinbauernvereinigung ANAP, die heute 378.000 kubanische Landwirte und Angehörige von Agrargenossenschaften vereinigt. Stark gefördert wird auch die urbane und suburbane Landwirtschaft, die ökologisch betrieben wird. In dieser Sparte sind bisher 300.000 Arbeitsplätze geschaffen worden. Unterstützt wird sie von 4000 Arbeitsgruppen in den Schulen.

Da die staatlichen Betriebe in der Regel personell stark überbesetzt sind, sieht die Aktualisierung vor, ca. eine Million Staatsangestellte in den nichtstaatlichen Bereich auszugliedern. Bis 2016 sollen es insgesamt 40 Prozent der Arbeitsplätze sein. Da es 2013 erst 9 Prozent waren, wird das Ziel nicht erreicht werden. Für diesen neugeschaffenen Privatsektor wurden über 200 Berufe zugelassen. Lizenzen für Cuentapropistas (Beschäftigte auf eigene Rechnung) betreffen hauptsächlich den Dienstleistungsbereich. "In Havanna vermehren sich die neuen Gastronomiebetriebe (paladares) explosionsartig, so dass die Habaneros den alten Revolutionsspruch 'in jedem Häuserblock ein Komitee' kurzum in 'in jedem Block drei Cafeterien' abwandelten." (Sarah Ganter, 94) Im Herbst 2014 sollen bereits etwa 480.000 Cuentapropistas registriert gewesen sein. Die Freisetzungsaktion wird von manchen - vorwiegend ausländischen - Kubanologen mit Argwohn betrachtet. Findet da etwa eine Abkehr vom Sozialismus statt? Die Beantwortung der Frage muss die ersten Jahre nach der Revolution mit einbeziehen. Damals gab es Teile des Kleinbürgertums, die der Revolution wenig abgewinnen konnten und in Zusammenarbeit mit Exilkubanern konterrevolutionäre Aktivitäten unterstützten. Mit der Verstaatlichung der Kleinbetriebe wollte man diesen Kräften die materielle Grundlage entziehen. Im Laufe der Jahre musste der Staat immer mehr Subventionen für diese nunmehr staatlichen, zumeist Dienstleistungsbetriebe, aufwenden. Im Vorfeld des 6. Parteitages wurde an der Basis breit diskutiert, ob es nicht sinnvoller wäre, einen Teil des Dienstleistungssektors aus der staatlichen Obhut herauszunehmen. Aber wäre das nicht ein Rückschritt? Tobias Kriele begründet es so: "Es hat in Kuba nie einen vollendeten Sozialismus gegeben, Kuba befindet sich vielmehr seit Jahrzehnten in einem Übergangszustand. Das hat die kubanische KP schon vor der Sonderperiode festgestellt, und jetzt, nach 20 Jahren Sonderperiode und nach dem Aktualisierungsprozess, kann man noch viel weniger von einem Sozialismus in Reinform sprechen." In den westlichen Medien haben Maßnahmen wie die Ermöglichung des Kaufs von Neu- und Gebrauchtwagen und Erleichterungen beim Bau, Kauf und Verkauf von Immobilien für Schlagzeilen gesorgt. Allein die beiden letztgenannten Maßnahmen sind ambivalent. Eigentlich will man ja keine überbordende Automobilität, und auch Immobilienhandel ist dem kubanischen Sozialismus wesensfremd. Aber wie unter den gegebenen Umständen die Probleme anders lösen? Das Motto lautet: Suchend schreiten wir voran. Nicht angetastet werden soll das gesellschaftliche Eigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln. In manchen Bereichen verschärft sich die Situation trotz oder wegen der Aktualisierung. Im Bildungsbereich verlassen zu viele Beschäftigte ihre bisherige Arbeitsstätte, um als Cuentapropistas einen deutlich höheren Lebensstandard zu erreichen. Die Lücken, die sie hinterlassen, können kurzfristig nicht geschlossen werden, schaffen damit neue Probleme. Es sind also nicht nur überzählige Beschäftigte, die in den privaten Bereich abwandern.

Kein Brot ohne Libreta - Für einen gedeihlichen und nachhaltigen Sozialismus

Jose Luis Rodriguez war von 1995 bis 2009 kubanischer Wirtschaftsminister. Derzeit analysiert er den aktuellen Transformationsprozess der kubanischen Ökonomie als Berater des in Havanna ansässigen Zentrums für die Erforschung der Weltwirtschaft (Centro de Investigaciones de la Economia Mundial - CIEM). In einem Interview mit der mexikanischen Zeitung Jornada wies er auf die Schwierigkeiten bei der Umsetzung des ökonomischen Veränderungsprozesses hin: "Man darf nicht aus den Augen verlieren, dass nach vielen Jahren der Sonderperiode die Erwartungen der Bevölkerung zahlreich und in vielen Fällen sehr intensiv sind. Trotzdem ist das Ausmaß der Veränderungen, die für das Funktionieren der Wirtschaft erforderlich sind, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, von großem Umfang und großer Komplexität. Es geht außerdem darum, Maßnahmen einzuführen, bezüglich derer es in unserem Umfeld bisher keine Erfahrungen gibt, weshalb man Zeit braucht, um sie auszuprobieren und zu bewerten und dabei nicht nur ihre ökonomische sondern auch ihre soziopolitische Wirkung zu betrachten, und dies angesichts der großen Bedeutung der subjektiven Faktoren innerhalb dieses Prozesses."

Eine der größten Herausforderungen wird die Neuregelung des gesamten Finanzsystems mit der angekündigten Abschaffung der doppelten Währung bis etwa 2017. Ob der gesetzte Zeitrahmen realistisch ist, wird sich zeigen. Ziel ist wieder eine einheitliche Währung zu haben, die gegen andere Währungen getauscht werden kann. Unter den Bedingungen der Sonderperiode war 1994 neben dem kubanischen Peso (CUP) der konvertierbare Peso (CUC), dessen Wert an den US-Dollar gekoppelt ist, eingeführt worden. Durch die zwei Parallelwährungen verkomplizierten sich die Haushaltsführung und die Statistiken, sodass sich die reale wirtschaftliche Situation des Landes nur schwer beziffern lässt.

Eines der zentralen Probleme ist die niedrige Arbeitsproduktivität, die mit extrem niedrigen Löhnen einhergeht und die Arbeitsmoral entsprechend beeinträchtigt. 2010 lagen die Reallöhne immer noch 73 Prozent unter denen von 1989. Für uns kaum vorstellbar: Der Durchschnittslohn liegt bei umgerechnet 22 Dollar im Monat. Eine Lösung ist hier ohne erhebliche Produktivitätssteigerung nicht denkbar. Die ist aber auf die Schnelle nicht zu haben.

Wird's ein Marktsozialismus?

Der vorher zitierte ehemalige Wirtschaftsminister Rodriguez distanzierte sich von den Reformen, "die im Namen einer vergeblichen Perfektionierung des Sozialismus in Europa am Ende zu seinem Verschwinden geführt haben". Ziel sei gerade nicht ein Marktsozialismus, wie nicht wenige Beobachter des kubanischen Reformprozesses unterstellen. "Die Geschichte hat gezeigt, dass vom Marktsozialismus letztlich nur der Markt ohne Sozialismus geblieben ist."

Welche Dynamik der kubanische Prozess der Aktualisierung auslösen wird, und ob die Entwicklung letztlich so steuerbar ist, wie es der Absicht der kubanischen Führung entspricht, kann heute niemand voraussehen. Vor allem der US-Imperialismus wird auch in Zukunft mit allen Mitteln Versuchen, den Vorbildcharakter der kubanischen Revolution zu unterminieren. Eine neue Generation der Nachgeborenen, die die vorrevolutionären Verhältnisse auf Kuba nicht mehr erlebt haben, wird zeigen müssen, ob sie an den Prinzipien einer solidarischen Gesellschaft festhalten will.

Kuba hat inzwischen trotz des Untergangs des sozialistischen Lagers wieder viele Freunde in der Welt. Sollte es jedoch den imperialistischen Kräften gelingen, sei es durch Wahlen oder durch einen Putsch, die gesellschaftliche Entwicklung in Venezuela abzuwürgen, wäre das auch für Kuba und die progressiven Bewegungen in Lateinamerika ein deutlicher Rückschlag.

In den bürgerlichen Medien kann man oft hören oder lesen, die kubanische Regierung sei gar nicht so unglücklich über die seit über 50 Jahren andauernde US-Wirtschaftsblockade, weil man dadurch gegenüber der eigenen Bevölkerung von hausgemachten Fehlern ablenken könne. Das ist nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Aber entscheidender ist ein anderer Aspekt. Zu sehr wurde und wird die kubanische Wirtschaft durch diese Blockade geknebelt und in ihrer Weiterentwicklung behindert. Juan Carlos Marsan, kubanischer Botschafter in Wien, konkretisierte einmal die Auswirkungen an folgendem Beispiel: "Die (kubanischen) Flugzeuge, die in Santo Domingo landen, können nicht mehr aufgetankt werden, weil Shell dort das Monopol hat und uns diesen Service nicht mehr geben darf. Das ist unsere Realität." (lateinamerika anders, 2/2014) Ob nach dem Treffen der Präsidenten Obama und Castro im April in Panama mit ersten Schritten der Aufweichung dieser Sanktionen begonnen wird, ist im Interesse Kubas zu hoffen. Es hängt auch von der weiteren politischen Entwicklung in den USA ab.

Tritt für die USA Venezuela an die Stelle Kubas?

Der engste Verbündete Kubas ist seit der Regierungsübernahme durch Hugo Chavez 1999, Venezuela. Diese Allianz zu zerbrechen, hat für den US-Imperialismus in Lateinamerika Priorität. Um dieses Ziel zeitnah zu erreichen, schließt die US-Regierung kein Mittel aus.

Dass die venezolanische Regierung immer auch mit einem Militärputsch rechnen muss, zeigte sich zuletzt im Februar dieses Jahres, als ein Dutzend Luftwaffenoffiziere festgenommen wurde. Regierungstreue junge Offiziere hatten von einem Umsturzplan erfahren und die Informationen weitergegeben. Was war geplant? Ein Flugzeug der Luftwaffe sollte das Regierungsgebäude im Zentrum von Caracas bombardieren. Ebenso sollten regierungsnahe Medien wie der Fernsehsender Telesur angegriffen und ausgeschaltet werden. Danach sollte ein Brigadegeneral über eine Videobotschaft bekanntgeben, die Streitkräfte hätten sich gegen Präsident Maduro erhoben. Was die Finanzierung des Putsches betrifft, konnten Spuren nach Miami nachgewiesen werden. Auch die US-Botschaft in Caracas hatte ihre Finger im Spiel. Dass an dem Komplott der Bürgermeister des Großraums Caracas, Antonio Ledezma, beteiligt war, kann nicht verwundern. Wo immer militant gegen die Regierung vorgegangen wird, ist Ledezma an führender Stelle beteiligt. (dazu auch: ARSTI Nr.184)

Venezuelas Trio Infernale: Lopez, Machado, Ledezma

Die Aufdeckung des Komplotts, die Verhaftung der Verantwortlichen durch die Sicherheitskräfte und die Vorwürfe von Präsident Maduro in Richtung USA, führten in den folgenden Wochen zu einer Kette von Reaktionen durch US-Präsident Obama, der am 9. März die Ereignisse in Venezuela zur "außergewöhnlichen Bedrohung der nationalen Sicherheit und Außenpolitik der Vereinigten Staaten" erklärte. Er stellte damit Venezuela in eine Reihe mit Staaten wie Iran, Nordkorea und Russland. Eines hatte jedoch Obama nicht bedacht: Lateinamerika 2015, das ist nicht mehr wie in den 70ern des letzten Jahrhunderts, als diverse Militärdiktaturen als verlängerter Arm der USA zu jeder Form von Unterwerfung bereit waren. Venezuela kann nicht nur mit der Solidarität der lateinamerikanischen Linken rechnen. Offiziell - diese Einschränkung ist erforderlich - unterstützt keine einzige Regierung südlich des Rio Grande das Vorgehen der USA gegen Venezuela. Die 2008 gegründete Union südamerikanischer Staaten (UNASUR) sprach sich gegen äußere Einmischung aus. Auch die seit 2011 existierende Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC) verwahrte sich gegen US-Sanktionen. Nicht einmal die ehedem US-dominierte Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) konnte sich für Obamas Vorgehensweise erwärmen: Ausdruck eines geänderten Kräfteverhältnisses auf dem Kontinent. In diesem Zusammenhang zeigt sich wieder einmal, wie weitsichtig das Bemühen von Fidel Castro und Hugo Chavez war, den Integrationsprozess auf dem Subkontinent voranzutreiben und ihn nicht nur auf die fortschrittlichsten Länder zu beschränken. Bei allem Optimismus darf aber nicht vergessen werden: Die USA verfügen immer noch über 19 Militärstützpunkte in zehn Ländern des Subkontinents, einer davon, Guantanamo, auf Kuba.

Nun ist aber ein Militärputsch nur eine Variante, um eine fortschrittliche Regierung in die Knie zu zwingen. Etwas zeitaufwendiger, aber möglicherweise noch gefährlicher, ist ein Wirtschaftskrieg. Venezuela ist es bisher nicht gelungen, die Abhängigkeit vom Ölexport zu verringern. Ganz im Gegenteil. Seit 1999, dem Jahr der Regierungsübernahme durch Hugo Chavez, bis 2013 stieg der Anteil der aus dem Erdölexport verfügbaren Devisen von 70 auf 95 Prozent. Der Haushalt soll auf der Grundlage von 120 US-Dollar pro Barrel kalkuliert sein. Ende Juni 2014 war der Stand bei etwa 110 US-Dollar. Bis Ende November waren es noch 74 US-Dollar. Aktuell (April 2015) liegt er zwischen 40 und 60 US-Dollar. In früheren Zeiten war es die OPEC, die einen Preisverfall mit der Drosselung der Fördermengen beantwortete. Doch die OPEC ist inzwischen gespalten. Die reichen Golfstaaten, Saudi Arabien, Kuwait, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate verhindern die Drosselung. Im Bündnis mit den USA sehen sie die Möglichkeit, einen unliebsamen Gegner wie den Iran, aber auch Venezuela und Russland, mit der Ölpreiswaffe zu schwächen. Um dieses Ziel zu erreichen, nimmt die US-Administration sogar erhebliche Einbußen bei den eigenen Schieferölproduzenten in Kauf.

Gegen die Venezolanische Regierung wird auch ein Zermürbungskrieg geführt, hinter dem einflussreiche Teile der Bourgeoisie stehen. Zwar haben sich die Regierungen unter Chavez und Maduro bemüht, den staatlichen Sektor auszuweiten. Sie konnten jedoch nicht verhindern, dass der private Sektor sogar mehr als der staatliche profitiert hat. Die vorliegenden Zahlen sind zwar nicht mehr ganz aktuell, aber in der Tendenz dürfte sich der Trend nicht wesentlich geändert haben. Laut einer Studie ist "der private Finanzsektor 2004 um 37,9 Prozent, 2005 um 34,6 Prozent und 2006 um 39,2 Prozent gewachsen, während der öffentliche Sektor (alle Bereiche zusammen) 2004 nur um 12,5 Prozent, 2005 um 4,1 Prozent und 2006 um 2,9 Prozent zugenommen hat". (Eric Toussaint, 160). Worauf ist das zurückzuführen? Toussaint begründet es mit den sozialen Errungenschaften der chavistischen Regierungen. Durch den Rückgang der Armut, der Steigerung im Bildungsniveau und weitere Errungenschaften sei der Massenkonsum gewachsen, davon profitiere der kapitalistische Sektor, der den Bankensektor, den Handel und die Nahrungsmittelindustrie dominiert. "Das zusätzliche Geld, das bei der Bevölkerung ankommt und aus den Ausgaben des Staates stammt, landet schließlich im Portemonnaie der Kapitalisten, denn die Individuen (aber auch die Kooperativen, die kommunalen Räte, die Stadtverwaltungen und viele öffentliche Einheiten) legen ihr Geld bei den kapitalistischen Banken an." Den venezolanischen Markt beherrschen daneben nach wie vor die privaten Unternehmen der Nahrungsmittelindustrie, die Importunternehmen, die großen Supermarktketten und andere. Sie befinden darüber, ob genügend Produkte des täglichen Gebrauchs vorhanden sind. Sie können diese in die Regale stellen oder zurückhalten. Sie können sie aber auch nach Kolumbien verschieben, wo höhere Preise zu erzielen sind. Weitere Beispiele ließen sich anführen. Die Bevölkerung soll so mürbe gemacht werden. Es wird von den privaten Medienkonzernen die Botschaft ausgegeben, dass die Regierung unfähig sei, die Bevölkerung mit den Grundbedarfsartikeln zu versorgen.

Sorgen bereitet den Regierenden auch die inzwischen extrem hohe Inflationsquote von 68 Prozent (Ende 2014). Diese schmälert vor allem die Kaufkraft der unteren Schichten. In der PSUV (Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas) gibt es über Maßnahmen zur Verringerung der Inflation hitzige Debatten. Unter anderem verlangen Ökonomen eine deutliche Abwertung des Bolivar, um einen realistischen Wechselkurs zu erreichen. Aktuell existieren vier Wechselkurse: drei offizielle in einem Dollar/Bolivar-Verhältnis von 1:6, 1:12 und 1:etwa 185 und ein Schwarzmarktkurs, der noch deutlich höher ist. Ein ganz heißes Eisen ist die Forderung nach Abbau der Benzinsubventionen. Sie binden laut Regierungsangaben jährlich 12,5 Milliarden US-Dollar. Gelder, die anderswo sinnvoller eingesetzt werden könnten. In Venezuela soll der Liter Benzin nur zwei Eurocent kosten und damit billiger als Mineralwasser sein. Für Heinz Bierbaum, der Venezuela mit dem Rücken zur Wand sieht, ist das entscheidende Dilemma, dass es auch den bolivarischen Regierungen bisher nicht gelungen ist, "die Transformation einer auf Erdölrendite basierenden Wirtschaft, bei der nahezu alles importiert und wenig produziert wird", einen Schritt weiter zu bringen. (vgl. Sozialismus, 4-2015, S. 58ff.) Kostbare Zeit ist verstrichen. Es wird eng.

Maduro hatte bei bei seiner Wahl zum Präsidenten nur einen knappen Vorsprung. Wenn im Herbst Parlamentswahlen sind, könnte es für das Regierungslager schwierig werden. Allerdings profitiert es von einem Wahlsystem, das Ähnlichkeiten mit dem der USA aufweist. Es zählen nämlich die gewonnenen Bundesstaaten. Die Stärke der Chavisten liegt im ländlichen Bereich. Und so ist es nicht ausgeschlossen, dass die Opposition, die 30 Parteien der Mesa de la Unidad Democratica (MUD), die vor allem der Hass auf die Chavistas verbindet, die Mehrheit der Stimmen bekommt, die Regierungsparteien aber die Wahl gewinnen. Zu den schon bisher nicht gerade optimistisch stimmenden Meldungen aus Venezuela, kam zuletzt noch die Nachricht, die PSUV sehe sich mit der ersten Abspaltung seit der Gründung 2008 konfrontiert. Und zwar habe die Parteiströmung Marea Sozialista (Sozialistische Flut) angekündigt, mit eigenen Listen bei der Parlamentswahl anzutreten. Die Strömung kritisiert undemokratische Strukturen der PSUV, diverse Fehlentwicklungen und Korruption in größerem Ausmaß. Die Partei habe deshalb ein Glaubwürdigkeitsproblem, das bei den Wahlen als Risikofaktor nicht zu unterschätzen sei. Der linke chilenische Soziologe Tomas Moulian äußerte sich im Oktober 2014 zu Venezuelas Perspektiven pessimistisch: "Venezuela erinnert mich sehr an die Zeit der Unidad Popular in Chile, und das erschreckt mich. Der Klassenkampf ist hart, das Land extrem polarisiert, Maduro hat es mit einer brutalen Opposition zu tun. In Venezuela muss man das Schlimmste befürchten. Ich habe Angst, dass dort ein neues Chile entsteht." Auch wenn es nicht so schlimm kommen sollte, es steht nicht gut um das Erbe von Hugo Chavez. Das darf aber nicht das letzte Wort sein. Selbst wenn Venezuela einen politischen Rückschlag erleiden sollte. Der Funke aus Lateinamerika ist auf Europa übergesprungen. Die linke Regierung in Griechenland führt einen verzweifelten Kampf und versucht sich zu halten bis eventuell ein neuer Impuls aus Spanien unterstützend dazukommt. Die Regional- und Kommunalwahlen von Ende Mai geben Hoffnung. Im Herbst wird sich dann zeigen, ob neben Griechenland auch Spanien gegen neoliberale Austeritätspolitik Front macht. Mehr ist derzeit nicht möglich.

hd, 30. Mai 2015


Im Schattenblick nicht veröffentlichte Tabelle aus der Originalpublikation:

Wirtschaftsperformance Kubas seit 2011 mit Plan für 2015 (Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von ONE, AEC 2013) aus: Cuba heute

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 188 - Sommer 2015, Seite 19 bis 24
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2015

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