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ARBEITERSTIMME/313: Griechenland vor einem neuen "Hilfspaket"


Arbeiterstimme Nr. 189 - Herbst 2015
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Griechenland vor einem neuen "Hilfspaket"

Um den Euro (und das Kapital) zu retten, wird die griechische Bevölkerung geopfert


Nach der großen Mehrheit für das "Nein" beim Referendum am 4. Juli und der danach trotzdem erfolgten Kapitulation der griechischen Regierung wird jetzt ein neues "Hilfspaket" geschnürt, das es Griechenland ermöglichen soll seine Gläubiger weiterhin zu bedienen. Einher geht dieses Hilfspaket mit drastisch verschärften Sparauflagen (siehe den "Die Troika ist zurück in Athen - mit mehr Vollmachten als je zuvor" Arbeiterpolitik Nr. 3/4, 25. August 2015, www.arbeiterpolitik.de). Kann damit das "Problem Griechenland" gelöst werden?

Das zunächst ins Auge springende Problem sind die griechischen Staatsschulden. "Dass Griechenland seine Kredite nicht bedienen kann, war allen klar - außer natürlich den 'Euro-Rettern', die aus politischen Gründen an dem Märchen festhalten, alles würde bezahlt. Dass das eine Illusion ist, stellte gerade der Internationale Währungsfonds fest." (H. Steltzner, FAZ, 7.7.2015) Aus diesem Grund bestand die griechische Regierung auf einem Schuldenschnitt als Vorbedingung für eine Vereinbarung mit den Gläubigern (Eurogruppe, EZB, IWF). Und genau diesen Schuldenschnitt wollten diese nicht akzeptieren. Warum stemmen sich alle Euroländer außer Griechenland so vehement gegen diesen anscheinend unvermeidbaren Schritt?

Woher kommen die griechischen Staatsschulden?

Die gängige Aussage dazu formulierte z.B. Schäuble: "Das Problem ist, (...) dass Griechenland seit Langem über seine Verhältnisse gelebt hat (...)" (Interview des Deutschlandfunks am 16.2.15). Damit will er wie viele andere auch ausdrücken, dass Griechenland vor 2008 Schulden gemacht habe, um Ausgaben zu finanzieren, die es sich eigentlich nicht leisten konnte. Häufig werden dabei aufgezählt: aufgeblähter öffentlicher Sektor, Lohnsteigerungen, großer Rüstungshaushalt usw. Dazu komme noch, dass die wohlhabenden Griechen keine Steuern bezahlten, es keine ordentliche Steuerverwaltung gebe etc. Das stimmt auch alles. Und trotzdem ist es bestenfalls nur die halbe Wahrheit. Denn die griechischen Ausgaben "über ihre Verhältnisse" waren die Einnahmen der anderen. Das heißt vor allem: deutsche, französische und andere EU-Konzerne lieferten die Waren, die mit den Krediten bezahlt wurden. Ein bekanntes Beispiel sind die Rüstungsimporte Griechenlands. "Deutschland liefert zirka 15 Prozent seiner Rüstungsexporte nach Griechenland, Frankreich rund zehn Prozent." (http://www.heise.de/tp/artikel/45/45039/2.html; entnommen 7.7.15) Anders gesagt: Der Exportüberschuss z.B. Deutschlands spiegelte sich im griechischen Importüberschuss. Dieser Importüberschuss musste natürlich finanziert werden, wobei vor allem französische und deutsche Banken als Kreditgeber auftraten.

Dieser "Defizitkreislauf" (z.B. deutsche Unternehmen exportieren Waren, deren Kauf von deutschen Banken mit Krediten finanziert wird) war kennzeichnend nicht nur für Griechenland, sondern für ganz Südeuropa bis zum Ausbruch der Krise 2008. Griechenland ist nur das Land, das als erstes bei diesem Kreislauf bankrott ging.

Natürlich kann man sagen, "die Griechen" bzw. die anderen Länder mit Importüberschüssen hätten sich nicht verschulden müssen. Dann hätte es aber auch keine deutschen Exportüberschüsse und kein deutsches Wirtschaftswachstum gegeben.

Griechenland kann man in gewisser Hinsicht mit denjenigen US-amerikanischen Hauskäufern bis 2008 vergleichen, die eigentlich gar kein ausreichendes Einkommen hatten, von den Banken aber die Kredite förmlich nachgeworfen bekamen, damit sie sich doch ein Haus kauften. Als dieser "Defizitkreislauf" zusammenbrach, weitete sich das zur sogenannten Weltfinanzkrise 2008/09 aus. Die hochverschuldeten Hausbesitzer konnten ihre Hypotheken nicht mehr bedienen, und die Kreditgeber gingen reihenweise pleite bzw. mussten vom Staat gerettet werden.

Der tiefere Grund ist in beiden Fällen, dass es immer mehr Kapital in den Händen von Anlegern gibt, das sich nicht mehr in der sogenannten "Realwirtschaft" (also der Industrie vor allem) gewinnbringend anlegen lässt. Deshalb suchte und sucht dieses Kapital verzweifelt Anlegemöglichkeiten und fand/findet sie in immer riskanteren Geschäften, seien es Hypotheken für arme Hauskäufer oder Kredite für Staaten mit eigentlich untragbaren Importüberschüssen.

Es handelt sich also um ein Systemproblem.

Die griechische Krise ist die Fortsetzung der Weltfinanzkrise von 2008/09

Als im Gefolge der amerikanischen Immobilienkrise sich die Finanzkrise weltweit ausbreitete und viele Banken akut vom Zusammenbruch bedroht waren bzw. zusammenbrachen (am bekanntesten: Lehman Brothers), drohte diese Krise in eine allgemeine Weltwirtschaftskrise überzugehen, in der den Bankzusammenbrüchen die Zusammenbrüche von Industrie- und anderen Unternehmen folgen würden, mit Massenarbeitslosigkeit und Massenelend als Begleiterscheinungen wie in der Weltwirtschaftskrise nach 1929. Um diese allgemeine Systemkrise zu verhindern, traten die Zentralbanken und die Regierungen aller Industrieländer auf den Plan, mit "Rettungspaketen" und Konjunkturprogrammen in Billionenhöhe. Praktisch nahmen sie die privaten Schulden, die "faul" geworden waren, in ihre eigenen - staatlichen - Bücher. Es ging darum, die für eine kapitalistische Krise typische massenhafte Vernichtung von Kapital (Abschreiben von Krediten, Kursabstürze, Unternehmensschließungen usw.) zu verhindern. Das gelang zwar, aber nur um den Preis einer nun gigantisch angewachsenen Staatsverschuldung.

Bei der ganzen "Rettungspolitik" - sei es die Rettung von Banken, Industrieunternehmen oder Staaten - geht es im Kern darum, die anstehende massenhafte Kapitalvernichtung im jeweiligen eigenen Land zu verhindern bzw. dafür zu sorgen, dass sie anderswo passiert. Das ist der eigentliche Grund dafür, dass der nötige Schuldenschnitt für Griechenland verweigert wird, denn dann wären die Kredite - die ja Kapital darstellen, solange sie sich verzinsen - vernichtet.

Mit Griechenland geschah 2010 im Grunde genau dasselbe wie 2008 mit den Hausbesitzern in den USA. Es war zahlungsunfähig und konnte seine Schulden an die privaten Banken nicht mehr bedienen. Auch jetzt wurde alles getan, um eine Kapitalvernichtung zu verhindern, d.h. zu verhindern, dass vor allem französische und deutsche Banken ihre Milliardenkredite abschreiben mussten. Sie hätten dadurch Schwierigkeiten bekommen, ihre Funktion für die kapitalistische Wirtschaft weiter auszuüben, nämlich Kredite zur Verfügung zu stellen. Also wurden die berühmten "Rettungspakete" geschnürt, mit denen die Kredite der privaten Banken an Griechenland zurückgezahlt wurden.

Aber anders als den amerikanischen Hausbesitzern, denen man das Haus wegnahm und es zwangsversteigerte, konnte man Griechenland schlecht verpfänden oder es versteigern, wenn auch die Bild das direkt forderte: "Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleitegriechen!" (27.10.2010).

Also wurden dem griechischen Staat die "Rettungspakete" für die Banken in Rechnung gestellt, er wurde seine Schulden also nicht los, sondern hatte sie jetzt einfach nur woanders: bei der EZB, dem IWF, dem ESM. Und obwohl der Staat eigentlich bankrott war, wurde er gezwungen, diese Kredite weiter zu bedienen. Begleitend dazu gab es dann die Spardiktate, mit denen u.a. die Löhne gesenkt, das Gesundheitswesen ruiniert, die Renten gekürzt wurden. Dadurch sanken natürlich die eh schon zu niedrigen Steuereinnahmen, die Wirtschaftsleistung ging um 25 Prozent zurück, so dass nicht nur die Schulden nicht sanken, sondern immer weiter stiegen. So konnten auch die Altschulden kaum getilgt, sondern lediglich durch neue Schulden abgelöst werden (die sogenannten "Hilfsprogramme"). Natürlich wurden die Vermögenden nicht angefasst, sind diese doch in der Gedankenwelt der bürgerlichen Ökonomen die "Leistungsträger", die den Wirtschaftsaufschwung bewerkstelligen sollen. Getroffen waren vor allem die Mittel- und Unterschichten. Die haben jetzt auch mit "Nein" gestimmt.

Der Euro wackelt

Die griechische Krise ist eine Krise des Euro und der EU. Beide zusammen sind ein Ausdruck der fortdauernden Wirtschaftskrise seit 2008. Diese wurde "überwunden" durch die staatliche Übernahme der Bankschulden und die Politik der Zentralbanken in allen Industrieländern, die mit Aufkäufen von Staatsanleihen und mit Niedrigstzinskrediten die Finanzmärkte mit Geld überschwemmten. Zum einen hat sich damit das Verschuldungsproblem nur auf die öffentlichen Haushalte verlagert, zum anderen führt die Geldschwemme der Zentralbanken kaum dazu, dass die Industrieunternehmen Kredite aufnehmen um neue Investitionen zu tätigen, weil diese nicht profitabel sind. Beispielsweise liegen in der Region Europa/Nordafrika bei Großunternehmen 800 Milliarden Euro auf der hohen Kante. In den USA verfügt alleine Apple über Barreserven von 140 Milliarden Dollar. Darüber hinaus bilden sich Blasen an den Finanz- und Immobilienmärkten, weil das viele Geld ja irgendwo angelegt werden muss (Inflation der Sachwerte).

Die Reaktion auf die Staatsschuldenexplosion in der EU ist die sogenannte "Austeritätspolitik", also der Versuch, durch Einsparungen diese Schuldenlast zu verringern. Die Reaktion auf die zu geringen Profitmöglichkeiten im Unternehmenssektor sind u.a. die Steuererleichterungen für die Unternehmen. So werden die öffentlichen Haushalte von der Einnahmen- wie Ausgabenseite unter Druck gesetzt, was sich im immer weiter gehenden Abbau der Sozialleistungen (von Land zu Land unterschiedlich heftig), in Privatisierungen öffentlichen Eigentums usw. niederschlägt. Andererseits nehmen die prekären und Niedriglohnjobs im Privatsektor immer mehr zu.

Sowohl die EU wie die Eurozone sind aber nicht krisenfest. Deren Existenzgrundlage ist die, dass im Gegenzug gegen die Aufgabe von Teilen der Souveränität und Selbstständigkeit der einzelnen Nationalstaaten es den Unternehmen und der Bevölkerung immer besser geht. Vor allem ist dies das Versprechen des deutschen Kapitals, dessen Existenzgrundlage der Binnenmarkt in der EU und die gemeinsame Währung des Euros ist. Merkel hat dies begriffen und ausgesprochen: "Scheitert der Euro, scheitert Europa."

Aber sowohl der Euro wie die EU sind rückholbar, da es sich nicht um einen Bundesstaat wie die USA handelt, sondern um ein Staatenbündnis von immer noch mehr oder weniger souveränen Nationalstaaten. Können die EU bzw. die Eurozone und kann insbesondere Deutschland nicht ein weiteres Wachstum und Wohlergehen der Mitgliedsländer sichern, fliegt als erstes die Eurozone auseinander. Und da die Wirtschaftskrise nicht überwunden ist und in absehbarer Zeit nicht überwunden werden kann, kann genau diese Perspektive von Euro und EU nicht mehr garantiert werden.

Das griechische "Nein" am 5. Juli ist der erste deutliche Ausruf einer Bevölkerung, dass die Vertragsgrundlage für den Euro entfallen ist. Daran ändert auch die Kapitulation der griechischen Regierung nichts.

Griechische Staatsschulden: Wiedervorlage in drei Jahren

Die jetzt gefundene "Lösung", Griechenland weiter solvent zu halten, indem über 80 Milliarden Dollar über drei Jahre für die Bedienung der griechischen Schulden aufgebracht werden, ist nur der Versuch, Zeit zu gewinnen. Denn letztlich handelt es sich um nicht viel mehr als um einen Bilanztrick: Die EU-Institutionen stellen Euro zur Verfügung, damit die Schulden Griechenlands - die überwiegend von den EU-Institutionen gehalten werden - bezahlt werden können. In der Zwischenzeit wird Griechenland restlos zugrunde gespart und was an Staatsbetrieben einigermaßen profitabel ist, soll privatisiert werden. Wie der griechische Staat auf diese Weise die Sogenannte "Schuldentragfähigkeit" erreichen soll, weiß kein Mensch. Der einzige Effekt ist, dass die Schulden der EU-Institutionen jetzt noch nicht abgeschrieben, also noch nicht vernichtet sind.

Der Moment der Wahrheit kommt also spätestens in drei Jahren; vermutlich schon früher, denn dass die griechische Bevölkerung die Verelendungspolitik widerstandslos ertragen wird, ist nicht zu erwarten.

8. August 2015

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 189 - Herbst 2015, Seite 1 und 3 bis 4
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
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Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Oktober 2015

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