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ARBEITERSTIMME/320: Türkei - Aufstand der Automobilarbeiter


Arbeiterstimme Nr. 190 - Winter 2015
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Aufstand der Automobilarbeiter


Im Frühjahr und Sommer 2015 kam es in der Automobil- und Metallindustrie zu einer Reihe von Streiks und Betriebsbesetzungen, mit mehreren zehntausend Beteiligten. Sowohl die Gewerkschaften wie auch die Unternehmer wurden von dieser Streikbewegung überrascht.

Es fing damit an, dass nach gescheiterten Tarifverhandlungen in der Metallindustrie mit der Gewerkschaft Birlesik Metal-Is und dem Unternehmerverband MESS die Gewerkschaftsmitglieder beschlossen zu streiken. Die Unternehmer setzten vor Gericht durch, dass die Urabstimmung auch unter Einbeziehung unorganisierten Arbeiterinnen und Arbeiter in allen betroffenen Betrieben durchgeführt werden muss. Solche Finessen verdankt die türkische Gewerkschaftsbewegung dem 1980er Militärputsch, nach dem die Organisationsfreiheit der Beschäftigten faktisch abgeschafft wurde.

Das Ergebnis der Urabstimmung war eindeutig und entsprach dem, was zuvor die Gewerkschaftsmitglieder beschlossen hatten: eine satte Mehrheit für den Streik. Schon am ersten Tag wurde der Streik von der Regierung wegen "Gefährdung der nationalen Sicherheit" verboten.

Die Mehrzahl der Beschäftigten in der Türkei arbeitet zum Mindestlohn von zur Zeit ca. 400 Euro. Unter den 1,4 Millionen Metallbeschäftigten sind nur 233.000 in drei Gewerkschaften organisiert. Auch viele Autofabriken sind gewerkschaftsfrei, so z.B. die der japanischen Unternehmen. Der durchschnittliche (Tarif-) Stundenlohn der AutomobilarbeiterInnen beträgt neun Lira, das sind etwa drei Euro. Mit diversen Leistungsprämien und Zuschlägen kommen die Beschäftigten in großen Werken auf 1000 - 1500 Euro. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit beträgt 47,7 Stunden, in der Metallindustrie 45 Stunden.

Angesichts dieser miserablen Löhne wurde die Tarifbewegung der Gewerkschaft Birlesik Metal-Is von allen Beschäftigten der Metallindustrie aufmerksam beobachtet. Zuvor hatte in der Automobilindustrie eine andere, die gelbe aber größte Gewerkschaft, Türk-Metall eine Lohnerhöhung unter der Inflationsrate mit dreijähriger Laufzeit beschlossen. In dieser angespannten Situation konnten die ArbeiterInnen bei Bosch in einem Haustarifvertrag eine weit kräftigere Lohnerhöhung mit "nur" zweijähriger Laufzeit durchsetzen.

Das war das Signal. Mitte Mai stellte die Spätschicht bei Renault die Arbeit ein und besetzte die Fabrik, die Nachtschicht kam dazu und schloss sich den Kollegen an. Ihre Forderung: ein neuer Lohntarifvertrag und keine Entlassungen wegen des Streiks. Die Unternehmer lehnten dies ab mit der Begründung, dass der gerade mit der Gewerkschaft Türk Metall beschlossene Vertrag bis 2018 gültig sei. Auch die Frühschicht schloss sich den Streikenden an, die Arbeiter beschlossen aus der Gewerkschaft Türk Metal auszutreten.

"'Das hat uns überrascht', sagt Ege Seckin, Analyst bei der Beratungsfirma IHS Consulting. 'Wir haben lange gedacht, dass angesichts der Schwäche der Gewerkschaften die Wahrscheinlichkeit für Arbeitsniederlegungen gering wäre.'"
AUTOMOBIL PRODUKTION, 5/2015

In den nächsten Tagen schlossen sich den Renault-Arbeitern immer mehr Beschäftigte aus der Automobil- und Metallindustrie an. Innerhalb von wenigen Tagen waren tausende Metallarbeiterinnen und -arbeiter im Ausstand, treibende Belegschaft blieben dabei die Arbeiter von Renault. In kürzester Zeit traten tausende Arbeiterinnen und Arbeiter aus der gelben Gewerkschaft Türk Metal aus, organisierten sich aber erstmal nicht in einer anderen Gewerkschaft. Es müsse erstmal gründlich in den Betrieben diskutiert werden, ob und welche Gewerkschaft in Frage käme, oder sogar die Gründung einer eigenen Gewerkschaft.

Die Organisierung, vor allem der Renault-Arbeiter war vorbildlich: sie bildeten sofort einen Streikrat, der aus Sprechern der einzelnen Abteilungen bestand, die von den Arbeitern in Vollversammlungen gewählt wurden. Nach jeder Verhandlung mit den Unternehmern kehrten die Sprecher zu ihren Abteilungen zurück, berichteten ihren Kollegen und nahmen deren Vorschläge für das weitere Vorgehen mit, das wiederum im Streikrat gemeinsam diskutiert und beschlossen wurde. Von Anfang an war klar, es gibt mit den Unternehmern nur Vereinbarungen, die in der gesamten Belegschaft diskutiert wurden und denen sie zugestimmt hat.

Auch während der Besetzung war die Organisation des Streiks sehr genau ausgearbeitet: neben der notwendigen Organisierung von Lebensmitteln und dem Kontakt mit anderen im Ausstand befindlichen Betrieben wurde jeder, der in den Betrieb wollte, kontrolliert. So konnte einerseits jegliche Provokation unterbunden und außerdem der Beschluss umgesetzt werden, dass über die Fortführung der Kampfmaßnahmen nur die Belegschaftsmitglieder mitreden dürfen. Betriebsfremde, egal 0b sie der gelben Gewerkschaft oder solidarischen Organisationen angehörten, mussten draußen bleiben.

Nach einigen Wochen endeten die Streiks mit Zugeständnissen der Unternehmer in unterschiedlicher Höhe, je nach Entschlossenheit der Belegschaft. Druck wurde von allen Seiten ausgeübt: die Funktionäre der Gewerkschaft Türk Metal versuchten mit Drohungen, Versprechen aber auch mit Gewalt den Streik zu unterdrücken. Die Unternehmer waren in der Regel schlauer und machten schon nach wenigen Tagen, als sie erkennen mussten, dass der Streik nicht zu brechen ist, Angebote für höhere Löhne. Es gab aber auch Konzerne, die versuchten mit Entlassung des Sprecherrates und dessen Verhaftung den Widerstand zu brechen. Die Kolleginnen und Kollegen reagierten darauf mit der Ankündigung, den Streik so lange fortzusetzen, bis die Entlassenen wieder eingestellt werden.

Der Streik war aus verschiedenen Gründen bemerkenswert:

• Zum einen war dies ein Streik, den tausende von Beschäftigten selbstständig organisiert und durchgeführt haben - nicht nur gegen ihre Unternehmen sondern auch gegen ihre eigene Gewerkschaft.

• Der Ausstand war gut vorbereitet, sowohl die Unternehmen, wie auch die Gewerkschaften und die Repressionsorgane waren vollkommen überrascht.

• Die Streikenden haben sich in allen Betrieben in Räten organisiert.

• Und vielleicht das wichtigste: die Streikbewegung fand in einem Industrierevier statt (vor allem in Bursa und Kocaeli), wo die Beschäftigten eher als konservativ und nationalistisch gelten.

20.12.2015


In der Metall Branche organisierte Gewerkschaften

- Türk Metal-ls, Mitgliederzahl: 177.000; Mitglied im Dachverband Türk-Is. Es gibt Meinungsverschiedenheiten darüber, ob diese Organisation eine Mafia- oder nationalistische Bande oder nur eine gelbe Gewerkschaft ist. Im Logo dieser Organisation befindet sich ein Wolf im türkischen Halbmond.

- Celik-Is, Mitgliederzahl 29.000; Mitglied im Dachverband Hak-Is, AKP-nahe gelbe Gewerkschaft.

- Birlesik Metal-Is, Mitgliederzahl 27.000, Mitglied im Dachverband DISK, hat den Anspruch eine "demokratische, klassenkämpferische Gewerkschaft" zu sein.

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 190 - Winter 2015, Seite 13 bis 14
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Februar 2016

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