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ARBEITERSTIMME/355: Staat, Nation - Lenins Erbe bewahren und fortführen


Arbeiterstimme Nr. 196 - Sommer 2017
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Zur Diskussion
Staat, Nation - Lenins Erbe bewahren und fortführen


Eine der Säulen bolschewistischer Politik unmittelbar nach der Machtergreifung im Oktober 1917 war eine radikal andere Außenpolitik. In den zwei, unmittelbar nach der Machtergreifung verkündeten Dekreten "Über den Frieden" und "Über die Rechte der Völker Russlands" waren neben dem Aufruf zu einem sofortigen Waffenstillstand und Frieden die Ankündigung der Veröffentlichung und Verurteilung der Geheimdiplomatie die Umsetzung der Leninschen Konzeptionen des Selbstbestimmungsrechts der Nationen Kernpunkte. So heißt es im "Dekret über den Frieden" z.B.:

"Wenn irgendeine Nation mit Gewalt in den Grenzen eines gegebenen Staates festgehalten wird, wenn dieser Nation entgegen ihrem zum Ausdruck gebrachten Wunsch - gleichwohl, ob dieser Wunsch in der Presse oder in Volksversammlungen, in Beschlüssen der Parteien oder in Empörungen und Aufständen gegen die nationale Unterdrückung geäußert wurde - das Recht vorenthalten wird, nach vollständiger Zurückziehung der Truppen der annektierenden oder überhaupt der stärkeren Nation in freier Abstimmung über die Formen ihrer staatlichen Existenz ohne den mindesten Zwang selbst zu entscheiden, so ist eine solche Angliederung eine Annexion, d. h. eine Eroberung und Vergewaltigung."

Und im Beschluss vom 2. November 1917 "Über die Rechte der Völker Russlands" wird erklärt: "... hat der Rat der Volkskommissare beschlossen, folgende Prinzipien zur Grundlage seiner Tätigkeit hinsichtlich der Nationalitäten Rußlands zu machen:

1. Gleichheit und Souveränität der Völker Rußlands.

2. Recht der Völker Rußlands auf freie Selbstbestimmung, bis hin zu einer Loslösung und Bildung eines selbständigen Staates.

3. Aufhebung aller und jeglicher nationaler und nationalreligiöser Privilegien und Einschränkungen.

4. Freie Entfaltung nationaler Minderheiten und ethnographischer Gruppen, die das Gebiet Rußlands bewohnen.

Die daraus resultierenden konkreten Dekrete werden unmittelbar nach der Bildung einer Kommission für Angelegenheiten der Nationalitäten ausgearbeitet."

Unterzeichner des Auftrages war neben Lenin der Volkskommissar für nationale Angelegenheiten - Josef Stalin. Wie Letzterer diese Aufgabe anging kann und muss hier nicht vertieft werden. Für Lenin jedenfalls zeigte sich gegen Ende seines politisch aktiven Lebens (Oktober 1922 - März 1923), dass Stalin die in diesen Dekreten vorgegebene strategische Orientierung nicht umsetzen würde und eine Gefahr für den Sozialismus in der UdSSR war.

Der Konflikt Lenins mit Stalin ist vielen Linken und Kommunisten nicht völlig unbekannt, aber nur Wenige kennen das konkrete Ausmaß und den zentralen Kern und die Tiefe dieses Widerspruchs und Kampfes, den Lenin letztlich verlor. Das mag sicherlich auch daran liegen, dass darüber unter Stalins Führung Mäntel des Schweigens gelegt wurden - selbst das sogenannte "Testament" Lenins galt nach dem 13. Parteitag im Mai 1924 als "geheim zu halten". Und nach Stalins Tod wurden zwar viele aufklärende Dokumente zu diesem Kampf Lenins gegen Stalin veröffentlicht, nicht jedoch unter Chruschtschow und noch weniger unter Breschnew mit einer Korrektur eben derjenigen politischen Linie verbunden, der Lenin Anfang Oktober 1922 "den Kampf auf Leben und Tod" ansagte.

Dieser Kampf, von dem Lenin in einer Notiz für das Politbüro der KPR am 6. Oktober 1922 schrieb, auf der die Gründung der UdSSR zur Entscheidung stand, galt dem "Russischen Großmachtchauvinismus". Für Lenin ergab sich die Haltung gegenüber den an der Gründung der UdSSR beteiligten Nationen und Staaten aus seiner Grundhaltung zum Recht auf Selbstbestimmung der Nationen und deren völlig gleichberechtigtem und demokratischem Umgang miteinander. Ende September 1922 formulierte er das zentrale Anliegen in einem Schreiben an Kamenew dementsprechend: "Wir betrachten uns und die Ukrainische SSR u.a. als gleichberechtigt, und wir werden zusammen und auf gleichem Fuße mit ihnen der neuen Union, der neuen Föderation, der 'Union der Sowjetrepubliken Europas und Asiens' beitreten."

Stalin hatte dazu im August 1922 einer Vorbereitungskommission einen Völlig entgegengesetzten "Autonomisierungsplan" vorgelegt. "Stalin wollte die staatlich selbständigen Sowjetrepubliken zu autonomen Sowjetrepubliken degradieren. Er machte praktisch keinen Unterschied zwischen einer staatlich selbständigen und einer autonomen Republik. Stalins 'Autonomisierungsplan' war ein ungeschminkter großrussischer Plan der Einverleibung der schwächeren, nichtrussischen Randrepubliken in die Zentralmacht Russische Sowjetrepublik. Nicht von ungefähr sah sein Entwurf nur den 'Eintritt', aber nicht das Recht auf Austritt vor. In Paragraph 2 schlug Stalin offen die Ausdehnung der Kompetenzen der Regierungsorgane der RSFSR auf die nationalen Republiken vor. Motto: Wir befehlen und ihr müsst gehorchen." (M. Clemens - Dershimorda(1) - München 1990). Lenins Konzeption war für Stalin nur "nationaler Liberalismus", wie er in einer Vorlage für die ZK-Sitzung am 6.10.1922 schrieb - ein offenkundiger Fehdehandschuh in dieser Frage.

Lenin gelang es in wichtigen Punkten, seine Vorstellungen im Statut und bei der Gründung der UdSSR durchzusetzen. Aber Stalins Einfluss in der praktischen Umsetzung und seine öffentlich bekundete Haltung "mit glühendem Eisen die nationalistische Stimmungen ausbrennen" (was Lenin nach Aussage seiner Sekretärin als Erscheinung großrussischen Chauvinismus in Empörung versetzte) waren dadurch nicht wirklich behindert. Eines der ersten Beispiele dafür war die Unterdrückung der georgischen KP-Führung um Mdiwane, als und weil diese die Forderung stellte, dass Georgien als selbständige Republik der UdSSR beitreten solle und nicht lediglich als Teil der Anfang 1922 zusammen mit Armenien und Aserbaidschan gebildeten Transkaukasischen Sowjetrepublik.

Dieser Forderung standen vor allem Stalin und Ordshonikidse entgegen, die den Kurs des "Ausbrennens" fuhren. Im Oktober und November 1922 kam es deshalb zu heftigen Beschwerden der georgischen Bolschewiken, die noch zunahmen, als Stalin und Ordshonikidse Ende Oktober 1922 eine günstige Gelegenheit ergriffen und das ganze ZK der KP Georgiens auswechselten. Es gab hitzige Diskussionen und "Im Verlauf einer dieser Auseinandersetzungen verlor Ordshonikidse die Nerven. Er gab einem Parteigänger von Mdiwani, dem Parteimitglied Kabanidse, eine Ohrfeige. Das passierte um den 20. November 1922 herum, in Ordshonikidses Wohnung, bei Anwesenheit von Rykow, Mitglied des Politbüros der KPR( B) und einer der Stellvertreter Lenins." (M. Clemens - Dershimorda) Da dies alles Lenin trotz seiner Krankheit nicht verborgen blieb, ließ er sich Anfang Dezember 1922 von Rykow und Dzierzynski (beide waren u. a. mit einer Untersuchung der Vorgänge und der georgischen Beschwerden beauftragt) mündlich informieren. Was er wahrnahm, erfüllte ihn mit großer Sorge (LW EBII - Tagebuch).

Wegen erneuter Schlaganfälle und weil die Bereitstellung der Unterlagen der Untersuchungskommission in dieser Sache bis in die zweite Hälfte des Januars 1923 dauerte, griff Lenin das Thema der "georgischen Frage" erst wieder am 24. Januar auf. Er veranlasste, dass ihm die Untersuchungsunterlagen ausgehändigt wurden und beauftragte seine SekretärInnen Anfang Februar mit einer eigenen Überprüfung. Den offiziell Beauftragten traute er schon nicht mehr, bezeichnete seinen eigenen Untersuchungsauftrag als "konspirative Sache". Insbesondere traute er Stalin nicht mehr. Deshalb versuchte er, Trotzki auf dem anstehenden Parteitag Ende März 1923 als Unterstützer im Kampf gegen die Dershimorda Stalin, Ordshonikidse und Dzierzynski zu gewinnen. Er schrieb im Brief vom 5.3.1923:

"Werter Gen. Trotzki! Streng vertraulich. Persönlich.

Ich möchte Sie bitten, die Verteidigung der georgischen Angelegenheit vor dem ZK zu übernehmen. Diese Sache wird gegenwärtig von Stalin und Dzierzynski 'verfolgt', und ich kann mich auf deren Unvoreingenommenheit nicht verlassen. Sogar ganz im Gegenteil. Wenn Sie einverstanden wären, die Verteidigung zu übernehmen, dann könnte ich ruhig sein. Sollten Sie aus irgendeinem Grund nicht einverstanden sein, dann schicken Sie mir das ganze Material zurück. Ich werde das als Zeichen Ihrer Ablehnung betrachten.

Mit bestem kameradschaftlichem Gruß, Lenin"

Lenins Zielsetzung wird ganz deutlich, wenn man weiß, dass zu dem "Material" sein bisher von ihm geheim gehaltenes Diktat vom 23./24. Dezember "ZUR FRAGE DER NATIONALITÄTEN ODER DER 'AUTONOMISIERUNG'" gehörte, das er für eben den Parteitag vorbereitet hatte, und das eine einzige Anklage gegen die oben genannten drei Dershimorda darstellt. Wie Trotzki später andeutete, zielte Lenin dabei nicht nur gegen deren großrussisch chauvinistische politische Linie, sondern auf deren Absetzung (Ordshonikidse müsse man sogar mindestens für zwei Jahre aus der Partei ausschließen).

Allein - Trotzki versagte auf dem 13. Parteitag der KPR völlig vor dieser ihm aufgetragenen Verantwortung, Lenin war nach einem neuen heftigen Schlaganfall am 8. März und bis zu seinem Tode nicht mehr politisch handlungsfähig. Stalin siegte danach auf dem Parteitag über den "nationalen Liberalismus" Lenins und über die von Lenin noch in seinem überhaupt letzten politischen Schreiben unterstützte georgische ZK-Minderheit um Mdiwani:

"Streng vertraulich

An die Genossen Mdiwani, Macharadse und andere
Kopie an die Genossen Trotzki und Kamenew

Werte Genossen!

Von ganzem Herzen verfolge ich ihre Angelegenheit. Ich bin empört über die Grobheit Ordshonikidses und über die Nachsicht von Stalin und Dzierzynski. Ich bereite für Sie Briefe und eine Rede vor.

6. März 23 Hochachtungsvoll Lenin"

Stalin und seine Nachfolger haben bis zur Liquidierung der UdSSR durch Gorbatschow und Jelzin im Grundsatz an der von Lenin so tiefgehend und leidenschaftlich bekämpften Großmachtpolitik in der Frage der Behandlung von Nationalitäten und anderen Staaten in ihrem Einflussbereich festgehalten und für die kommunistische Weltbewegung dadurch Verheerendes bewirkt, was selbst durch unbestreitbare Erfolge in Summe nicht ausgeglichen wurde, wie die geschichtlichen Ergebnisse zeigen.

Es ist heute für die Kommunisten nicht nur historisch wichtig und notwendig, sich dieser Verwerfungen im Allgemeinen bewusst zu sein. Vielmehr noch gilt es den eigenen politischen Standpunkt in dem Verhältnis zwischen Staat und Nation auf der Basis des Kapitalismus und des kapitalistischen Imperialismus anknüpfend an Lenins Haltung und Weitsicht neu auszurichten und fortzuentwickeln.

Wie dringend dies ist, zeigt das Verhalten weiter Teile der Linken in Deutschland, in Europa - ja in aller Welt in ihren Stellungnahmen zur Ukraine-Krise, insbesondere hinsichtlich des Konfliktes der Ukraine mit der Russischen Föderation (RF) und des Kriegs in Syrien seit 2011. Forderungen nach Nichteinmischung aller Staaten in die inneren Angelegenheiten der Ukraine kommen fast nicht vor, ebenso wenig die nach Beendigung der Sanktionen, der militärischen Infiltration und der Anstrengungen ausländischer Staaten zur Durchsetzung eines "Machtwechsels" in Syrien. Haltungen, die dem Herangehen Lenins in der Frage der Beziehungen der Länder der Welt völlig entgegen stehen.

Im Jahre 1920, also in der Zeit der allmählichen Festigung der jungen Sowjetunion im Krieg gegen die Intervention und die Reste der zaristischen Militärgruppen, gab Lenin uns eine sehr komprimierte und die politische Seite betonende Definition dessen, was (kapitalistischer) Imperialismus ist. Er sagte: "Was ist eigentlich Imperialismus? Es ist Imperialismus, wenn einige der reichsten Staaten die ganze Welt unterdrücken, wenn sie wissen, dass sie anderthalb Milliarden Menschen in der ganzen Welt beherrschen, wenn sie sie unterdrücken, und wenn diese anderthalb Milliarden Menschen spüren, was englische Kultur, französische Kultur und amerikanische [also imperialistische] Zivilisation heißt, nämlich: rauben, jeder so gut er kann."(2) Rauben, sich auf Kosten anderer Staaten bereichern - das ist der Zweck. Beherrschen, unterdrücken, regionale oder weltweite Hegemonie - das ist die Politik zur Verwirklichung des Zwecks.

Derzeit bestehen auf der Erde 193 allgemein anerkannten Staaten, die zwar alle eine unterschiedliche Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte haben, jedoch in jedem Fall diese Gemeinsamkeiten haben:

1. ein (im Wesentlichen) zusammenhängendes Staatsterritorium mit möglichst genau definierten Grenzen

2. ein Staatsvolk

3. eine Staatsmacht, die in der Klassengesellschaft stets von einer Klasse bzw. einer ihrer Fraktionen dominiert wird, und die die innere Verwaltung aber auch die Außenbeziehungen mit Gesetzen, Verfassungen u.ä., sowie mit entsprechenden Strukturen und Organen organisiert

4. eine militärische Organisation zur Verteidigung, Absicherung der Klassenherrschaft oder zur Durchsetzung eigener Interessen gegenüber anderen Staaten.

Als geschichtliche und gesellschaftliche Realität muss heute mit einer großen Vielfalt von Staaten gelebt werden. Da gibt es große - USA, Russland, China, Indien - und ganz kleine - Schweiz, Haiti, Sri Lanka, Slowenien. Da gibt es lange schon bestehende - Frankreich, England, China, Russland - und ganz junge und erst vor kurzem gegründete - Kroatien, Eritrea, Israel, Angola, Südsudan. Es gibt Vielvölkerstaaten - China, Indien, Brasilien - und wenige Staaten mit relativ homogener ethnischer Bevölkerung - Deutschland, Italien, Polen. Und es gibt sehr große Unterschiede in der wirtschaftlichen Stärke. Gegenüber dem Stand von 1916 ist zu vermerken, dass vor allem aus der Auflösung der Kolonialreiche von England, Frankreich und Portugal neue Staaten entstanden sind, und dass sich der Kapitalismus weltweit sehr unterschiedlich in den jetzt etwa 190 Staaten entwickelt hat.

Es ist offensichtlich, dass diese "Internationale Gemeinschaft" von Staaten ein gewaltiges Potenzial für Konflikte zwischen den Staaten besitzt. Und das "Rauben, Unterdrücken und das regionale oder globale Beherrschen" im Sinne der zitierten Aussage Lenins ist ganz entsprechend vielfältig:

  • Streit und Kampf um die Ausnutzung von Naturressourcen
  • Annektionen von Territorium der Nachbarn (Golan, Elsass-Lothringen, Finnland 1939/40)
  • Zerstörungs- und Vernichtungskriege (2. Weltkrieg Deutschlands und Japans)
  • Kriege für Regime-Wechsel (Irak 2003, Libyen 2011, Korea 1950)
  • Ungleiche Wirtschaftsverträge (mit Kolonien, mit Kleinstaaten)
  • Ausnutzung in ungleichen Bündnissen (EU, TTIP)
  • Infiltration zur Destabilisierung (Laos 1963, Syrien und Ukraine derzeit)
  • Zerschlagung und Teilung (Jugoslawien 1998, Polen 1939)
  • Einsatz von 5. Kolonnen (div. NGOs, USAID)
  • Vertreibungen (Israel)

Und diese Liste ist sicher erweiterbar und könnte in beliebigem Umfang mit Einzelheiten anschaulich gemacht werden.

Wir Kommunisten sind der Ansicht - und alle Fakten stützen dies - dass erst mit der Überwindung des kapitalistischen Imperialismus und mit dem Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab die skizzierten Konflikte ihre Grundlage verlieren können. Dennoch bedeutet das nicht, dass es aussichtslos ist, bereits vorher diese Konflikte einzudämmen, zu verhindern und zumindest zu begrenzen. Umso mehr, als es durchaus Staaten gibt, die aus Eigeninteresse an einem friedlichen und freundschaftlichen Umgang der Staaten miteinander interessiert sind.

Ein erstes - sehr eindrucksvolles - praktisches Beispiel einer anderen, nicht imperialistischen Außenpolitik setzte das noch ganz junge Sowjetrussland. Lenin beschrieb diese von ihm persönlich am heftigsten vertretene Politik so: [Man versuchte], "alle diese kleinen Staaten zum Kampf gegen die Bolschewiki zu treiben. Aber das scheiterte zweimal, denn die Friedenspolitik der Bolschewiki erwies sich als ernst gemeint und wurde von ihren Feinden für aufrichtiger gehalten als die Friedenspolitik aller übrigen Länder; und eine ganze Reihe von Ländern sagte sich: Wie sehr wir auch jenes Großrussland, das uns unterdrückt hat, hassen, so wissen wir doch, dass es Judenitsch, Koltschak und Denikin waren, die uns unterdrückt haben, und nicht die Bolschewiki. Das frühere Oberhaupt der weißgardistischen finnischen Regierung hat nicht vergessen, dass es im November 1917 persönlich aus meinen Händen das Dokument entgegennahm, in dem wir ohne den geringsten Vorbehalt erklärten, dass wir die Unabhängigkeit Finnlands bedingungslos anerkennen. Damals schien das eine bloße Geste zu sein. Man glaubte, der Aufstand der Arbeiter Finnlands werde das vergessen machen. Nein, solche Dinge geraten nicht in Vergessenheit, wenn sie durch die ganze Politik einer bestimmten Partei bestätigt werden. Und sogar die finnische bürgerliche Regierung erklärte: 'Überlegen wir einmal: Wir haben in den 150 Jahren der Unterdrückung durch die russischen Zaren immerhin manches gelernt. Wenn wir gegen die Bolschewiki kämpfen, so helfen wir damit Judenitsch, Koltschak und Denikin in den Sattel. Wer aber sind diese Herrschaften? Kennen wir sie etwa nicht? Sind das nicht dieselben zaristischen Generale, die Finnland, Lettland, Polen und eine ganze Reihe anderer Völker unterdrückt haben? Und wir sollen diesen unseren Feinden gegen die Bolschewiki beistehen? Nein, warten wir ab.'

Sie wagten es nicht, direkt abzulehnen: denn sie sind abhängig von der Entente. Sie unterstützten uns nicht direkt, sie warteten ab, schoben die Sache hinaus, schrieben Noten, schickten Delegationen, setzten Kommissionen ein, nahmen teil an Konferenzen und - konferierten so lange, bis Judenitsch, Koltschak und Denikin geschlagen waren und die Entente auch die zweite Kampagne verloren hatte. Wir waren die Sieger geblieben.

Wenn alle diese kleinen Staaten gegen uns marschiert wären - und man hatte ihnen Hunderte Millionen Dollar, die besten Kanonen und Waffen gegeben, sie verfügten über englische Instrukteure mit Kriegserfahrungen -, wenn sie gegen uns marschiert wären, so hätten wir zweifelsohne eine Niederlage erlitten. Das ist jedem vollkommen klar. Aber sie marschierten nicht, weil sie zugeben mussten, dass die Bolschewiki ehrlicher waren als die anderen. Wenn die Bolschewiki erklären, dass sie die Unabhängigkeit eines jeden Volkes anerkennen, dass das zaristische Russland auf der Unterdrückung anderer Völker aufgebaut war und dass die Bolschewiki niemals für diese Politik eingetreten sind, eintreten oder jemals eintreten werden, dass sie niemals einen Krieg zur Unterdrückung eines Volkes führen werden - wenn sie das sagen, schenkt man ihnen Glauben. Das haben wir nicht von den lettischen oder polnischen Bolschewiki, sondern von der polnischen, lettischen, ukrainischen usw. Bourgeoisie erfahren." (3)

Lenin befand sich mit der von ihm betriebenen Außenpolitik ganz auf der bereits von Karl Marx 1864 in der Inauguraladresse zu Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation formulierten strategischen Grundlinie: "Wenn die Emanzipation der Arbeiterklassen das Zusammenwirken verschiedener Nationen erheischt, wie [kann man dann] jenes große Ziel erreichen mit einer auswärtigen Politik, die frevelhafte Zwecke verfolgt, mit Nationalvorurteilen ihr Spiel treibt und in piratischen Kriegen des Volkes Blut und Gut vergeudet? Nicht die Weisheit der herrschenden Klassen, sondern der heroische Widerstand der englischen Arbeiterklasse gegen ihre verbrecherische Torheit bewahrte den Westen Europas vor einer transatlantischen Kreuzfahrt für die Verewigung und Propaganda der Sklaverei. Der schamlose Beifall, die Scheinsympathie oder idiotische Gleichgültigkeit, womit die höheren Klassen Europas dem Meuchelmord des heroischen Polen und der Erbeutung der Bergfeste des Kaukasus durch Rußland zusahen; die ungeheueren und ohne Widerstand erlaubten Übergriffe dieser barbarischen Macht, deren Kopf zu St. Petersburg und deren Hand in jedem Kabinett von Europa, haben den Arbeiterklassen die Pflicht gelehrt, in die Geheimnisse der internationalen Politik einzudringen, die diplomatischen Akte ihrer respektiven Regierungen zu überwachen, ihnen wenn nötig entgegenzuwirken; wenn unfähig zuvorzukommen, sich zu vereinen in gleichzeitigen Denunziationen und die einfachen Gesetze der Moral und des Rechts, welche die Beziehungen von Privatpersonen regeln sollten, als die obersten Gesetze des Verkehrs von Nationen geltend zu machen. Der Kampf für solch eine auswärtige Politik ist eingeschlossen im allgemeinen Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse."

Ein anderes Beispiel für die Außenpolitik Lenins nach der Oktoberrevolution im Sinne dieser Ausführungen von Karl Marx ist in einem kurzen Bericht der Prawda über den Besuch des afghanischen Außerordentlichen Gesandten Mohammed Wali Khan am 14.10.1919 in Moskau dokumentiert: "Gen. Lenin empfing den Gesandten in seinem Arbeitszimmer mit den Worten: 'Ich freue mich sehr, einen Vertreter des uns freundschaftlich gesinnten afghanischen Volkes, das Schweres zu ertragen hat und gegen das imperialistische Joch kämpft, in der roten Metropole der Arbeiter-und-Bauern-Regierung zu begrüßen.' Der Gesandte erwiderte hierauf: 'Ich reiche ihnen die Freundeshand und hoffe, daß Sie dem gesamten Osten helfen werden, sich vom Joch des europäischen Imperialismus zu befreien.' In der sich daran anschließenden Unterhaltung sagte Gen. Lenin, die Sowjetmacht, die Macht der Werktätigen und Unterdrückten, erstrebe gerade das, wovon der afghanische Außerordentliche Gesandte gesprochen habe, es sei aber notwendig, daß der mohammedanische Osten dies versteht und Sowjetrußland in dem großen Befreiungskrieg hilft. Der Gesandte entgegnete darauf, er könne versichern, daß der mohammedanische Osten dies verstanden habe und die Stunde nicht mehr fern sei, da die ganze Welt sehen wird, daß für den europäischen Imperialismus im Osten kein Platz ist. Der Gesandte erhob sich sodann und übergab Genossen Lenin ein Schreiben des Emirs mit den Worten: 'Ich habe die Ehre, dem Oberhaupt der freien russischen proletarischen Regierung ein Schreiben meines Gebieters zu überreichen, und hoffe, daß das, was die afghanische Regierung mitzuteilen hat, die Aufmerksamkeit der Sowjetmacht auf sich ziehen wird.' Gen. Lenin antwortete, daß er das Schreiben mit tiefer Befriedigung entgegennehme und verspreche, alle Afghanistan interessierenden Fragen bald zu beantworten."

Die damals von Lenin noch nicht als System, sondern als konkrete Handlung beschriebene und den Frieden sichernde Politik des jungen sozialistischen Russlands fand ihre erste internationale Verbreitung, als der Begriff Friedliche Koexistenz am 10. April 1922 auf der Konferenz von Genua vom Leiter der sowjetischen Delegation, dem Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin, propagiert wurde. "Auf dem Standpunkt der Grundsätze des Kommunismus beharrend" vertrat Tschitscherin, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Staaten für den allgemeinen Wiederaufbau notwendig sei. Dazu biete die gegenwärtige geschichtliche Epoche "die Möglichkeit einer parallelen Koexistenz zwischen der alten und der entstehenden neuen Ordnung."

Diese Politik hielt die Sowjetunion bis Anfang 1939 bei und brach mit ihr deutlich erkennbar erst im September 1939. Was ihr bis dahin viel Achtung und eben ein friedliches Umfeld sicherte, wurde dann durch die Hegemonial- und Großmachtpolitik Stalins - die Teilung Polens mit den deutschen Faschisten, der Winterkrieg gegen Finnland, die Eingliederung der baltischen Staaten in die SU - in kürzester Zeit liquidiert und wirft seine negative Ausstrahlung wegen ihrer grundsätzlichen Fortsetzung unter Chruschtschow und Breschnew bis in unsere Tage.

In den 1950er Jahren gab es dann einen wirklich neuen Ansatz für die Sicherung eines friedvollen und achtenden Umgangs der Staaten auf der Erde miteinander. Nicht zufällig waren es primär ehemalige Kolonialländer - Indien und ein rückständiges sozialistisches China - von deren Führungen die Prinzipien der friedlichen Koexistenz vereinbart wurden. Mit dem indisch-chinesischen Vertrag über Tibet 1954 legten beide Staaten die fünf Prinzipien (der Vorschlag dazu ging von Nehru aus) fest, die ihre Beziehungen regeln sollten und im Laufe der Zeit weltweit als Richtlinie anerkannt wurden.

Auf der kurz danach in Bandung auf Westjava durchgeführten ersten Konferenz blockfreier Staaten wurden eben diese Prinzipien verabschiedet und als Richtschnur angenommen. In Bandung hatten sich vom 18.-24. April 1955 auf Einladung des Staatsgründers Indonesiens, Sukarno, Staatschefs vor allem afrikanischer und asiatischer Staaten versammelt, darunter Tschou Enlai (China), Jawaharlal Nehru (Indien), Jossip Tito (Jugoslawien), Gamal Abdel Nasser (Ägypten), Kwame Nkrumah (Ghana) und Ho Chi Minh (Vietnam). Die Teilnehmer verabschiedeten eine 10-Punkte "Erklärung zur Förderung des Weltfriedens und der Zusammenarbeit". Darin waren die "fünf Säulen" der chinesisch-indischen Beziehungen enthalten:

  1. Gegenseitige Achtung anderer Staaten und ihrer territorialen Integrität und Souveränität,
  2. gegenseitiger Gewaltverzicht und Nichtangriff,
  3. Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten,(4)
  4. Gleichberechtigung und gemeinsamer Nutzen,
  5. friedliche Koexistenz.

Hier kann nicht die weitere Verbreitung der Bandung-Erklärung und speziell der fünf Prinzipien friedlicher Koexistenz - etwa im Rahmen der UN - ausführlich behandelt werden. Aber es dürfte klar sein, dass ihre Missachtung vor allem durch die Großmächte des kapitalistischen Imperialismus, aber auch immer wieder durch die UdSSR und selbst durch kleinere Staaten (z.B. Indien-Pakistan, Irak-Kuweit) zu globalen, großen und regionalen Konflikten und Kriegen geführt hat und führen wird. Das Einfordern dieser Prinzipien muss daher zentrale und kompromisslose Aufgabe und Politik aller Kommunisten - ganz und nur so im Sinne Lenins - sein. Das Ringen um ihre Einhaltung und Beachtung (nicht in Worten, sondern in Taten), um wirkliche demokratischen Umgang der Staaten miteinander ist wesentlicher anti-imperialistischer Kampf auf zwischenstaatlicher Ebene und entscheidender Teil jeglicher Friedenspolitik. Alle heutigen und früheren Krisen, Kämpfe und Kriege zwischen Staaten sind die "lebendigen" Beweise.

Ein Teil der deutschen Linken nimmt allerdings diesbezüglich eine prinzipienlose Haltung ein. Das zeigt die immer noch weit verbreitete Haltung, den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 zu verharmlosen und zu rechtfertigen. Es zeigt sich aber auch im Fall des aktuellen Ukraine-Konfliktes, wenn zwar völlig zu Recht und zwingend die Einmischungen dort von EU und USA verurteilt und bekämpft wird, die Einmischungen der Russischen Föderation jedoch (fast) schweigend übergangen werden. Sogar die Erklärung von Ministerpräsident Medwedew Ende Mai 2014, dass man der Ukraine keine Zusicherung ihrer territorialen Integrität gebe - womit er den Vertrag von 1994 mit der Ukraine zur dortigen Atomwaffenvernichtung de facto zerriss, in dem genau diese Integrität seitens der Atommächte garantiert wurde - führte nirgendwo zu besonderen Protesterklärungen (die jW etwa tat damals die Meldung mit einem kommentarlosen fünfzeiligen Hinweis ab).

Die Entwicklung der Staatenbildung der menschlichen Gesellschaft auf der Erde ist natürlich nicht von der Entwicklung der Klassengesellschaft und des feudalen, sowie des kapitalistischen Imperialismus zu trennen. Aber ein zweites strukturell wirkendes Element bei der Herausbildung der modernen Staaten ist gleichfalls untrennbar damit verbunden: die Nationalitäten, Nationen. Es ist offensichtlich, dass dieses Element zwar im Kapitalismus eine besondere Gestaltung erfahren hat, seine Grundlage aber unabhängig davon genetisch, kulturell und gemeinschaftlich existenziell gebildet wird.

Als Nation und Nationalität bezeichnet man menschliche Gemeinschaften, deren wichtigstes verbindendes Merkmal eine gemeinsame Verkehrssprache bildet, die ein gemeinsam organisiertes Wirtschaftsleben, eine gemeinsame Kultur, Traditionen und Gebräuche in einem zusammenhängenden Lebensraum über längere Zeit verbunden hat. Als Vorformen kann man sicher auch die Stämme (etwa der Indianer in Amerika, oder der Ureinwohner Afrikas) betrachten. Es sei nicht verschwiegen, dass sich diese begriffliche Festlegung eng an der Stalins von 1913 orientiert, die von Lenin geschätzt wurde.

Wichtig für unser Thema ist, dass sich die geschichtliche Bildung und Veränderung der Nationen und Nationalitäten - wie die gesamte Entwicklung der Klassengesellschaften - ungleichmäßig und fast ausnahmslos nicht in Übereinstimmung mit der Staatenbildung vollzog.

Mit der Entwicklung des Kapitalismus in Europa, vor allem im 19. Jahrhundert, entstand die Notwendigkeit, einen möglichst großen Warenmarkt aufzubauen, in dem die Kapitalisten sowohl hinreichend Kapital, als auch - und in diesem Zusammenhang besonders wichtig - hinreichend bewegliche Arbeitskräfte einsetzen, organisieren und ausnutzen konnten. Wenn auch die feudalen Reiche jeweils die Grundlage dieser Entwicklung waren, war doch die sprachliche Gemeinschaft ein dabei alles entscheidendes Element für Geschwindigkeit und territoriale Ausdehnung dieser Bildung von Nationalstaaten - also der Staaten, in denen eine Nation oder Nationalität die Führung und damit die Klassenherrschaft an sich riss. England, Frankreich waren die Ersten, Deutschland, Italien, das Russische Reich u.a. folgten.

In anderen Teilen der Erde waren die Ausgangspunkte der Staatenbildung und die Rolle der vorhandenen Nationalitäten dabei davon sehr verschieden. Und in nicht wenigen Staaten der Welt sind die Prozesse der Bildung von ganzstaatlichen Nationen kaum oder immer noch nicht abgeschlossen oder gar nicht abzusehen: denken wir an die Bildung der USA und Kanadas, an China mit 56 verschiedenen Nationalitäten, an Indien und seine Volksgruppen mit über 40 Sprachen, an die lateinamerikanischen Staaten - etwa Brasilien oder Bolivien - wo die indianische Urbevölkerung immer noch um einen gleichberechtigten Platz im Staat kämpft oder an die noch gar nicht abzusehende Verschmelzung der afrikanischen Nation mit der Nation der weißen früheren Kolonisten, ganz zu schweigen von Palästina.

Es gab und gibt bis heute praktisch nirgendwo auf der Erde einen Staat, in dem ausschließlich nur eine einzige Nation oder Nationalität existiert, auch wenn neben der herrschenden manchmal nur kleine oder kleinste Nationalitäten vorhanden sind (Deutschland: Sorben und Dänen). Selbst in den USA gibt es noch die marginalisierten und unterdrückten Reste der Indianer, in Australien die gleichfalls an den Rand gedrückten Ureinwohner, und in fast allen Staaten Mittel- und Lateinamerikas sieht es nicht anders aus.

Daraus ergab sich von Anfang an der Widerspruch innerhalb der kapitalistischen Staaten zwischen der herrschenden und der/den beherrschten Nation(en) bzw. Nationalitäten, und mit der imperialistischen Phase des Kapitalismus dann zusätzlich der zwischenstaatliche Konflikt mit den Nationen und Nationalitäten in anderen Staaten - besonders in den beiden Weltkriegen und in den Kolonialkriegen der europäischen kapitalistischen Staaten in aller Welt. Der Kapitalismus war nicht in der Lage, solche Widersprüche anders, als durch Gewalt und die Macht des Stärkeren zu lösen. Die sozialistische und kommunistische Bewegung stellte sich dem stets entgegen, formulierte aber erstmals 1896 als ihre Gegenstrategie das "Selbstbestimmungsrecht der Nationen".

In der betreffenden Resolution des Internationalen Sozialistischen Arbeiter- und Gewerkschafts-Kongresses zu London vom 27. Juli bis 1. August 1896 heißt es: "Der Kongress erklärt, dass er für volles Selbstbestimmungsrecht aller Nationen eintritt und mit den Arbeitern jedes Landes sympathisiert, das gegenwärtig unter dem Joch des militärischen, nationalen oder anderen Despotismus leidet, er fordert die Arbeiter aller dieser Länder auf, in die Reihen der klassenbewussten Arbeiter der ganzen Welt zu treten, am mit ihnen gemeinsam für die Überwindung des internationalen Kapitalismus und die Durchsetzung der Ziele der internationalen Sozialdemokratie zu kämpfen."(5)

In den Debatten um diese Resolution ging es ganz konkret um die Frage des Selbstbestimmungsrechts der polnischen Nation einschließlich des Rechtes auf Bildung eines unabhängigen Staates. Seit jener Zeit haben besonders die russischen Sozialdemokraten und Lenin sich vehement für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen eingesetzt. Die Auseinandersetzung wurde bis kurz vor Beginn des ersten Weltkrieges immer wieder mit den polnischen Sozialdemokraten um Rosa Luxemburg geführt, dann jedoch zentral gegen die Sozialchauvinisten, die sich auf die Seite ihrer imperialistischen Kriegsführungen schlugen.

Im Jahre 1914 formuliert Lenin in 'Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen': "Jeder bürgerliche Nationalismus einer unterdrückten Nation hat einen allgemein demokratischen Inhalt, der sich gegen die Unterdrückung richtet, und diesen Inhalt unterstützen wir unbedingt, wobei wir das Streben nach eigener nationaler Exklusivität streng ausschalten, das Bestreben des polnischen Bourgeois, den Juden zu unterdrücken usw. usf., bekämpfen. Das ist 'unpraktisch' vom Gesichtspunkt des Bourgeois und des Kleinbürgers aus. Das ist aber die einzig praktische und prinzipielle, die Demokratie, die Freiheit und den proletarischen Zusammenschluß tatsächlich fördernde Politik in der nationalen Frage. Anerkennung des Rechts auf Lostrennung für alle; Bewertung jeder konkreten Frage einer Lostrennung unter einem Gesichtspunkt, der jede Rechtsungleichheit, jedes Privileg, jede Exklusivität ausschließt."(6)

Für Lenin war die Frage des Umgangs der Nationen und Nationalitäten nicht nur ein Aspekt der Entwicklung bürgerlich beherrschter Staaten, sondern eine Kernfrage der Demokratie: eine Nation, die unterdrückt wird, kann sich nicht sozial befreien; eine Nation, die andere Nationen (Nationalitäten) unterdrückt, kann sicherlich keine sozialistische Emanzipation erfahren und für sich verwirklichen. Und er erklärte ergänzend in der zuvor zitierten Schrift: "Es wäre grundfalsch zu denken, daß der Kampf um die Demokratie das Proletariat von der sozialistischen Revolution ablenken kann. Umgekehrt, so wie der siegreiche Sozialismus, der nicht die volle Demokratie verwirklicht, unmöglich ist, so kann sich auch das Proletariat, das nicht einen allseitigen, konsequenten, revolutionären Kampf um die Demokratie führt, nicht zum Sieg über die Bourgeoisie vorbereiten."

Für ein volles Verständnis der Haltung Lenins in dieser Frage gehört, dass seine Ausarbeitung von 1914 (und ebenso die spätere von 1916) den Schwerpunkt auf die Begründung der Politik der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (der Bolschewiki) hinsichtlich des Selbstbestimmungsrechts der Nationen legt. Damals galt das Zarenreich unter allen Demokraten und Linken als "Völkergefängnis", das sich vor allem in den Randgebieten des Zarenreichs befand - von Finnland über das Baltikum, Polen, die Ukraine und die kaukasischen Gebiete bis hin zu den Territorien der Usbeken, Tadschiken, Mongolen. Alles Nationalitäten, die gewaltsam erobert und ins Zarenreich eingegliedert worden waren. Für die damalige russische Sozialdemokratie sah Lenin die Beseitigung dieser nationalen Unterdrückung und den Kampf gegen die russischen Herrschaftsansprüche gegenüber den anderen Nationalitäten - "dem Kampf auf Leben und Tod gegen den großrussischen Chauvinismus" - als Kernfrage demokratischer (s.o.) und sozialistischer Politik an:

"Rußland ist ein Staat mit einem nationalen Zentrum: dem großrussischen. Die Großrussen bewohnen ein riesiges zusammenhängendes Territorium, und ihre Zahl erreicht ungefähr 70 Millionen. Die Besonderheit dieses nationalen Staates ist: 1. daß die 'Fremdstämmigen' (die in ihrer Gesamtheit die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen: 57%) gerade in den Randgebieten leben; 2. daß die Unterdrückung dieser Fremdstämmigen bei weitem stärker ist als in den Nachbarstaaten (und dabei nicht nur in den europäischen); 3. daß in einer ganzen Reihe von Fällen die in den Randgebieten lebenden unterdrückten Nationalitäten jenseits der Grenze ihre Stammesbrüder haben, die eine größere nationale Unabhängigkeit genießen (es genügt, allein an die West- und Südgrenzen des Landes zu erinnern: an die Finnen, Schweden, Polen, Ukrainer, Rumänen); 4. daß die Entwicklung des Kapitalismus und das allgemeine Kulturniveau in den 'fremdstämmigen' Randgebieten häufig höher ist als im Zentrum des Landes. Schließlich sehen wir, daß gerade in den asiatischen Nachbarstaaten die Periode der bürgerlichen Revolutionen und nationalen Bewegungen begonnen hat, die teilweise auf die stammverwandten Nationalitäten in den Grenzen Rußlands übergreifen. Somit sind es gerade die historischen konkreten Besonderheiten der nationalen Frage in Rußland, die bei uns die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen in der gegenwärtigen Epoche zu einem besonders dringenden Erfordernis machen."(7)

Und ernst gemeint konnte das für die russischen Sozialdemokraten aus Lenins Sicht nur sein, wenn es die Anerkennung des Rechts auf Lostrennung der Nationen vom "zaristischen Völkergefängnis" ohne "Wenn und Aber" beinhaltete. Für Lenin ergab sich aus der Anerkennung des Selbstbestimmungsrecht der Nationen jedoch nicht, dass es unbedingt gleichermaßen eine Forderung in den Programmen der betroffenen "Gefängnisinsassen" sein oder ohne Berücksichtigung der jeweiligen besonderen Bedingungen mit einer Spaltung oder Teilung eines Staates verbunden werden musste. Das Recht auf Selbstbestimmung verglich er mit dem Recht auf Scheidung einer Ehe, die auch nicht immer notwendig oder die beste Lösung bestehender Konflikte sei. War eine Scheidung jedoch von einer Seite gewünscht, so sollte sie in jedem Fall demokratisch und friedlich erfolgen und niemals mit einer Frontstellung der Arbeiterklassen und Werktätigen der betroffenen Parteien oder ihrer Aufhetzung gegeneinander verbunden sein.

"Für das Proletariat aber ist das Erstarken seiner Klasse gegenüber der Bourgeoisie, die Erziehung der Massen im Geiste der konsequenten Demokratie und des Sozialismus wichtig. ... Bei Anerkennung der Gleichberechtigung und des gleichen Rechts auf einen Nationalstaat schätzt und stellt es [das Proletariat] die Vereinigung der Proletarier aller Nationen über alles andere, wobei es jede nationale Forderung, jede nationale Lostrennung unter dem Gesichtspunkt des Klassenkampfes der Arbeiter wertet." Dementsprechend hob Lenin die friedliche Abspaltung Norwegens vom Königreich Schweden im Jahre 1905 als Vorbild hervor. Es ist offensichtlich, dass separatistische Kriege (es geht hier nicht um anti-imperialistische Befreiungskriege z. B. in den früheren Kolonialreichen!) unter diesen Maßstäben die schlechteste und deswegen grundsätzlich abzulehnende Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen darstellen.

Ebenso wenig war für Lenin die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts einer Nation als "Teil einer imperialistischen Intrige" oder im Rahmen eines imperialistischen Machtkampfes der Unterstützung würdig. So war er etwa vehement und grundsätzlich (und gegen Rosa Luxemburg) für das Recht der Polen auf Lostrennung aus dem Zarenreich, befürwortete seine Umsetzung aber nicht in der Anfangsphase des Ersten Weltkriegs, weil Polen da nur ein Spielball und Opfer der beiden Imperien Deutschland und Russland sein konnte. Eingangs wies ich schon darauf hin, dass er nach der Oktoberrevolution jedoch ganz konsequent und konkret und "ohne Wenn und Aber" Finnland und den baltischen Staaten die Eigenstaatlichkeit zugestand. Gleiches galt wenig später für Polen. Die Anerkennung deren Rechts auf Selbstbestimmung und Eigenstaatlichkeit hing für Lenin dabei überhaupt nicht davon ab, ob diese Nationen bürgerlich beherrscht oder von Kommunisten geführt würden.

Selbst nach den militärischen Niederlagen von 1919/20 gegen Polens bürgerlich geführte Kräfte betonte er: "Wir aber sagen den Genossen in Polen, dass wir Polens Freiheit ebenso wie die jedes anderen Volkes achten. Und der russische Arbeiter und Bauer, der unter dem Joch des Zarismus geschmachtet hat, weiß sehr wohl, was für ein Joch das war. Wir wissen, dass es das größte Verbrechen war, Polen unter das deutsche, österreichische und russische Kapital aufzuteilen, dass diese Teilung das polnische Volk zu langjähriger Knechtschaft verurteilte. Damals galt der Gebrauch der Muttersprache als Verbrechen, und das ganze polnische Volk wurde in dem einen Gedanken erzogen - sich von diesem dreifachen Joch zu befreien. Deshalb verstehen wir den Hass, der die Seele des Polen erfüllt. Und wir sagen ihnen, dass wir die Grenze, an der unsere Truppen jetzt stehen - und sie stehen weit entfernt von den Gebieten mit polnischer Bevölkerung - niemals überschreiten werden. Wir schlagen einen Frieden auf dieser Grundlage vor, weil wir wissen, dass das für Polen eine große Errungenschaft wäre. Wir wollen keinen Krieg wegen territorialer Grenzen, weil wir die verfluchte Vergangenheit, wo jeder Großrusse als Unterdrücker galt, auslöschen wollen."(8)

Natürlich war dies nicht nur eine Garantie an die polnischen Arbeiter und Werktätigen, sondern für die ganze polnische Nation und ihren neuen bürgerlich beherrschten Staat. Stalin war es vorbehalten, dieses Versprechen Lenins im September 1939 zu brechen.

Rosa Luxemburg fand bis zu ihrer Ermordung keine Übereinstimmung mit Lenins Auffassung und Politik in der Frage des Selbstbestimmungsrechts der Nationen. 80 erklärte sie noch nach der Oktoberrevolution: "... bei den demokratischen Formen des politischen Lebens in jedem Lande [handelt es sich] ... tatsächlich um höchst wertvolle, ja unentbehrliche Grundlagen der sozialistischen Politik, während das famose 'Selbstbestimmungsrecht' der Nationen nichts als kleinbürgerliche Phraseologie und Humbug ist." (RL: Die Russische Revolution)

Und ebenda formulierte sie: "Umgekehrt als die Bolschewiki es erwarteten, ... benutzte eine nach der anderen der [befreiten] 'Nationen' die frisch geschenkte Freiheit dazu, sich als Todfeindin der russischen Revolution gegen sie mit dem deutschen Imperialismus zu verbinden und unter seinem Schutze die Fahne der Konterrevolution nach Rußland selbst zu tragen. ... Freilich sind es nicht die 'Nationen', die jene reaktionäre Politik betätigen, sondern nur die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Klassen. ... die das nationale Selbstbestimmungsrecht zu einem Werkzeug ihrer konterrevolutionären Klassenpolitik verkehrten. Aber ... darin liegt eben der utopisch-kleinbürgerliche Charakter dieser nationalistischen Phrase, daß sie in der rauhen Wirklichkeit der Klassengesellschaft ... sich einfach in ein Mittel der bürgerlichen Klassengesellschaft verwandelt ­... Den Bolschewiken war es beschieden, mit der Phrase von der 'Selbstbestimmung der Nationen' Wasser auf die Mühlen der Konterrevolution zu liefern und damit eine Ideologie nicht nur für die Erdrosselung der russischen Revolution selbst, sondern für die geplante konterrevolutionäre Liquidierung des ganzen Weltkrieges zu liefern."

In der Junius-Broschüre (1915 im Gefängnis geschrieben) schrieb sie: "Solange kapitalistische Staaten bestehen, namentlich solange die imperialistische Weltpolitik das innere und äußere Leben der Staaten bestimmt und gestaltet, hat das nationale Selbstbestimmungsrecht mit ihrer Praxis im Kriege wie im Frieden nicht das geringste gemein. (...) In der Ära dieses entfesselten Imperialismus kann es keine nationalen Kriege mehr geben. Die nationalen Interessen dienen nur als Täuschungsmittel, um die arbeitenden Volksmassen ihrem Todfeind, dem Imperialismus, dienstbar zu machen. (...) In dem heutigen imperialistischen Milieu kann es überhaupt keine nationalen Verteidigungskriege mehr geben, und jede sozialistische Politik, die von diesem bestimmten historischen Niveau absieht, die sich mitten im Weltstrudel nur von den isolierten Gesichtspunkten eines Landes leiten läßt, ist von vornherein auf Sand gebaut."(9)

Für Luxemburg war die "Nationale Frage" im Grunde mit der Herausbildung der europäischen Nationalstaaten beendet. Lenin wies dagegen darauf hin, dass nicht nur der Kampf gegen den Imperialismus in den Kolonien und versklavten Ländern der Dritten Welt ganz wesentlich und unlösbar mit dem Kampf für das demokratische Recht der Selbstbestimmung verbunden sei: "Nationale Kriege der Kolonien und Halbkolonien sind in der Epoche des Imperialismus nicht nur wahrscheinlich, sondern unvermeidlich. ... Jeder Krieg ist eine Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln. Die Fortsetzung der Politik der nationalen Befreiung in den Kolonien werden zwangsläufig nationale Kriege der Kolonien gegen den Imperialismus sein."(10) Wer denkt dabei nicht heute sofort an den Koreakrieg, an den Vietnamkrieg, an die Kriege in Portugals Kolonien Angola und Mozambique, an Palästina usw.

Lenin wies ferner in der gleichen Antwort auf Rosa Luxemburg nach, dass es selbst im imperialistischen Europa noch nationale Befreiungskriege geben könne: "Ein nationaler Krieg kann in einen imperialistischen umschlagen und umgekehrt man kann ein solches Umschlagen nicht für unmöglich erklären: wenn das Proletariat Europas auf 20 Jahre hinaus ohnmächtig bliebe; wenn dieser Krieg mit Siegen in der Art der Siege Napoleons und mit der Versklavung einer Reihe lebensfähiger Nationalstaaten endete; wenn der außereuropäische Imperialismus (der japanische und der amerikanische in erster Linie) sich ebenfalls noch 20 Jahre halten könnte, ohne, z.B. infolge eines japanisch-amerikanischen Krieges, in den Sozialismus überzugehen, dann wäre ein großer nationaler Krieg in Europa möglich. Das wäre eine Rückentwicklung Europas um einige Jahrzehnte." Ein beeindruckender Weitblick, der die Größe Lenins widerspiegelt. Waren nicht genau die anti-faschistischen Kriege gegen Hitler-Deutschland solche nationalen Befreiungskriege? In der SU hieß der Abwehrkrieg ja - völlig zu Recht - "Großer Vaterländischer Krieg". Und das gilt natürlich ebenso für alle anderen Staaten in Europa bis auf Deutschland, Italien, Spanien und die Schweiz.

Ein Verbleiben bei diesem historischen Beispiel und dem Leninschen Hinweis auf das dialektische "Umschlagen" von Prozessen gibt uns Gelegenheit, die europäische Entwicklung nach 1945 unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, dass die beiden größten Siegermächte - die USA und die SU - danach eine Politik der Hegemonie über ihre jeweilig befreiten und besetzten Gebiete - sprich: über die dortigen Nationalstaaten - betrieben.

Die USA nutzten ihren Besatzungsbereich umgehend nach 1945 aus, um dort unter anti-kommunistischem Vorzeichen Politik und Wirtschaft zu kontrollieren und eine Militärallianz unter ihrer Führung auf- und auszubauen. Nur Frankreich setzte sich dem unter De Gaulle zeitweise und partiell entgegen. Das alles ist gut bekannt. Die SU nutzte ihre militärischen Erfolge und die heißen Wünschen großer Teile der Bevölkerungen nach tiefem Bruch mit der früheren faschistischen Herrschaft aus, um - Ausnahme Österreich - in den besetzten Gebieten den Aufbau der sozialistischen Systeme nach dem eigenen Muster und mit ausschließlich ihr ergebenen Kräften (ganz besonders dominant in Polen) aufzubauen und die Staaten an ihrer Westgrenze hegemonial in allen grundlegenden Fragestellungen (nicht nur den sicherheitspolitischen) zu kontrollieren.

Dabei blieben die großrussisch-nationalistischen Verbrechen Stalins - Teilung Polens,(11) Krieg gegen Finnland, Annektion der baltischen Staaten, Vertreibungs- und Umsiedlungsmaßnahmen in diesem Bereich, aber auch die brutale Politik der Requirierungen Anfang der 1930er Jahre in der Ukraine, der 2 bis 3 Millionen Ukraine zum Opfer fielen - in den Köpfen und Herzen der Betroffenen und ihrer Kinder bewahrt und wurden nach 1990 wieder aktiv im politischen Leben dieser Länder. Schlimmer - wenn auch aus gleicher Quelle kommend - dass in den Jahren zwischen 1945 und 1990 alle wichtigeren Eigenentscheidungen der in diesem Machtbereich liegenden Länder und Nationen von Moskau aus hegemonial kontrolliert und überwacht wurden und der dortigen Genehmigung bedurften. Die Besetzung der Tschechoslowakei 1968 und die Einsetzung eines moskaufreundlichen Regimes waren die extreme Zuspitzung dieser Politik. Nur Jugoslawien und später Rumänien haben sich dem widersetzt und entziehen können.

Noch einmal zurück zum Recht auf Selbstbestimmung und zur Lostrennung aus einem bestehenden Staat. Wie schon ausgeführt, sind nach Lenins Sicht die Kommunisten durchaus nicht dafür, dieses Recht stets und ohne Berücksichtigung auf die jeweiligen Bedingungen einzufordern, sondern nur, wenn es tatsächlicher nationaler Befreiung, einem Vorankommen der sozialen Befreiung in den betroffenen Staaten, dem demokratischen Umgang der Nationen und Nationalitäten dient, nicht aber, wenn es z. B. "im Rahmen einer imperialistischen Intrige" eingefordert und betrieben wird, wie er einmal anmerkte. Bei diesem Hinweis könnte man an die jetzigen Ereignisse in der Ostukraine denken, aber das beste Beispiel dürfte wohl das der Zerschlagung Jugoslawiens durch NATO, EU und USA sein, von der Abspaltung Sloweniens bis hin zur Abtrennung des Kosowo. Auch die Bildung des Südsudans kann man als Beispiel ansehen.

Dagegen stützt sich der schwelende Versuch, Schottland aus Großbritannien auszugliedern, zwar immer noch auf Gefühle der nationalen Unterdrückung seit der Liquidierung der schottischen Clan-Herrschaft von etwa 200 Jahren durch die Engländer, aber eine wirkliche Notwendigkeit für schottische Eigenstaatlichkeit außer der Befriedigung von lokalen Kleinkönigsinteressen dürfte es im Sinne der Kriterien Lenins nicht geben, mir scheint die gleiche Aussage auch für das Baskenland (und Katalonien) zutreffend.

Das Beispiel Schottlands oder der "jugoslawischen Kleinstaaten" gibt zudem Anlass, daran festzuhalten, dass wir Kommunisten - mit Lenin solche Staatenbildung grundsätzlich ablehnen sollten. Denn unter heutigen Bedingungen werden sie nur zu Spielbällen der imperialistischen Großmächte. Deutlich zu sehen an dem Stimmengewicht der Kleinstaaten in der EU im EU-Ministerrat: Deutschland - 16 %, dagegen Litauen, Lettland, Slowenien, Luxemburg, Estland, Zypern, Malta - alle unter 1%.

Die derzeitigen Konflikte auf der Erde zeigen uns, dass die Frage des Umgangs der Nationen und Nationalitäten weiter aktuell ist und viel Geschehen dominiert. Warum ist das so? Eine gute komprimierte Begründung lieferte 2008 in den Marxistischen Blättern Walter Schmidt: "Nationen formieren sich in der Regel durch eine Verschmelzung von ethnischen und sozialen Komponenten in einem langen historischen Prozess [besonders] seit der Herausbildung des Kapitalismus mit der bürgerlichen Umwälzung der Gesellschaften. Die Gesamtheit der ethnischen Merkmale und Eigenschaften, was wir als Nationalität bezeichnet haben (Herkunft, Sprache, Sitten, Gebräuche und Lebensgewohnheiten), hat weit in vorkapitalistische Zeiten, oft bis in die Urgesellschaft zurückreichende Wurzeln und besitzt daher eine außerordentlich starke Traditionskraft. Die ethnischen Komponenten sind objektive, sicher modifizierbare, aber weithin unzerstörbare Faktoren für den Zusammenhalt von großen Menschengruppen. Einer bestimmten Nationalität anzugehören ist kein Verdienst, das ist einfach gegeben, da wird man hineingeboren und erzogen durch die unmittelbare Umwelt, in der man lebt. Und dieses Erbe, das man so mitbekommt, ist nicht einfach auszulöschen."

Und man muss hinzufügen: Jeder Angriff auf eine Nationalität als Gesamtheit ist daher ein existenzieller Angriff auf die betroffenen Menschen - bei rassistischen Angriffen ist das ganz offenbar - und erzeugt entsprechend heftige "nationalistische" Gegenwehr. Eine Gegenwehr, die vom Zusammenschluss der Arbeiterklassen und der werktätigen ausgebeuteten Schichten aller Nationen und Nationalitäten gegen Kapitalismus und Imperialismus - auch in seinem heutigen, neuesten Entwicklungsstadium - abhält und die Bildung und den Zusammenschluss von demokratischen Gegenkräften über die Grenzen von Nationen, Nationalitäten und Staaten hinweg verhindern wird.

Deswegen müssen die Kommunisten als Teil ihres Klassenkampfes jeder nationalen Unterdrückung entschieden entgegentreten. Im Umgang der Nationen gilt nämlich insbesondere, was Lenin in seinen letzten Tagen dazu formulierte: "Ich habe bereits in meinen Schriften über die nationale Frage geschrieben, dass es nicht angeht, abstrakt die Frage des Nationalismus im allgemeinen zu stellen. Man muss unterscheiden zwischen dem Nationalismus einer unterdrückenden Nation und dem Nationalismus einer unterdrückten Nation, zwischen dem Nationalismus einer großen Nation und dem Nationalismus einer kleinen Nation.

Was die zweite Art von Nationalismus betrifft, so haben wir Angehörigen einer großen Nation uns in der geschichtlichen Praxis fast immer einer Unzahl von Gewalttaten schuldig gemacht, ja mehr als das, unmerklich für uns selbst fügen wir den anderen eine Unzahl von Gewalttaten und Beleidigungen zu. (...) Deshalb muss der Internationalismus seitens der unterdrückenden oder sogenannten "großen" Nation (obzwar groß nur durch ihre Gewalttaten, groß nur in dem Sinne, wie ein Dershimorda(12) groß ist) darin bestehen, nicht nur die formale Gleichheit der Nationen zu beachten, sondern auch solch eine Ungleichheit anzuerkennen, die seitens der unterdrückenden Nation, der großen Nation, jene Ungleichheit aufwiegt, die sich faktisch im Leben ergibt."(13)

Manches wäre noch zu ergänzen und konnte hier nicht vertieft werden, was in den Zusammenhang gehört. Es mag in weiteren Analysen behandelt werden. In jedem Fall ist es unerlässlich, den entschlossenen und verzweifelten Kampf, den Lenin in seinen letzten beiden Lebensjahren gerade im Hinblick auf den Umgang mit anderen Nationen bei der Gründung der Sowjetunion - letztlich erfolglos - gegen Stalin focht, im Detail nachzuvollziehen und zu kennen. Nur wer dieses Geschehen in der Tiefe studiert hat, kann verstehen, wo der Prozess, der um 1990 mit der Zerstörung des osteuropäischen sozialistischen Systems endete, tatsächlich begann.

Mai 2017 - UVJT


Anmerkungen

(1) Diese historische Darstellung des Kampfes von Lenin gegen Stalin ist eine der genauesten und sorgfältigsten Analysen. 'Dershimorda' heisst auf Deutsch: 'Halt die Schnauze'; ein brüllender, schlägernder Polizist in Gogols 'Revisor' trägt diesen Namen. Lenin benutzte den Begriff selbst immer wieder als Symbol großrussischen chauvinistischen Auftretens.

(2) "Referat auf dem I. Gesamtrussischen Kongress der werktätigen Kosaken" am 1. März 1920; Lenin Werke Bd. 30

(3) "Referat auf dem I. Gesamtrussischen Kongress der werktätigen Kosaken" am 1. März 1920; Lenin Werke Bd. 30

(4) Schon im Jahre 1908 von Lenin als Richtlinie benannt

(5) nach Lenins "Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen", Lenin Werke Bd. 20

(6) "Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen", Lenin Werke Bd. 20

(7) "Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen ", Kapitel 3; Lenin Werke Bd. 20

(8) "Referat auf dem I. Gesamtrussischen Kongress der werktätigen Kosaken" am 1. März 1920; Lenin Werke Bd. 30

(9) "Die Krise der Sozialdemokratie - VII. Invasion und Klassenkampf"

(10) "Über die Junius-Broschüre", Juli 1916, Lenin Werke Bd. 22

(11) In diesen Zusammenhang gehört auch die widerrechtliche Liquidierung der KP Polens 1938 und die Liquidierung der polnischen Militärführung und Soldaten im April 1940 (Katyn u.a.)

(12) Auf Deutsch: "Halt die Schnauze? ein brüllender, schlägernder Polizist in Gogols Revisor

(13) "Zur Frage der Nationalitäten oder 'Autonomisierung'", 30./31. Dez. 1922, Lenin Werke Bd. 36

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 19 - Sommer 2017, Seite 21 bis 30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2017

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