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ARBEITERSTIMME/393: Die soziale Expolsion in Chile


Arbeiterstimme Nr. 206 - Winter 2019
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Die soziale Explosion in Chile
Eine moderne Hungerrevolte oder der Beginn einer Revolution in neoliberalen Zeiten?

von Emil Berger, 28.11.2019


Wie konnte das geschehen? Da verordnet die Regierung der chilenischen Hauptstadt eine Erhöhung des Fahrpreises um nur 30 Pesos. Das entspricht etwa vier Eurocent und ist deutlich weniger als dort die billigste Zigarette kostet. Doch kurze Zeit später sind in Santiago mehr als eine Million Menschen auf der Straße und fordern ein Ende des Neoliberalismus. Die unterschiedlichsten Forderungen vereinheitlichten sich schnell zum Ruf nach dem Rücktritt des rechten Präsidenten und einer neuen Verfassung. Die von der Militärdiktatur geschaffene Konstitution ist heute noch in wesentlichen Teilen gültig und schreibt der Gesellschaft die Wirtschaftsordnung vor. Alle grundsätzlichen Änderungen blockiert die Rechte das sie im Besitz der Sperrminorität ist.

Die Dimension der sozialen Explosion zeigen folgende Zahlen. Der Großraum Santiago hat etwas über 6,2 Millionen Einwohner. An diesem Tag war also jeder 6. Santiagino auf den Beinen! Gleichzeitig erlebten die Provinzhauptstädte von Arica im hohen Norden bis Puntas Arenas im tiefsten Süden ebenfalls Massenversammlungen. Diese nahmen für den jeweiligen Ort auch historische Ausmaße an. Offensichtlich war hier ein Nichts der berühmte Tropfen der das Glas zum Überlaufen bringt.

Das es sich um eine soziale Explosion handelt sieht man auch bei einem Vergleich der Zahlen mit der bisher größten Demonstration Chiles. Damals versammelten sich an einem Sonntag Menschen aus dem ganzen Land in Santiago. Nur so konnte die Zahl von fast einer Million Teilnehmern erreicht werden. Das gelang nur da den protestierenden Studenten Organisationen zur Seite standen, die sie mit Geld und Organisationskraft unterstützten.

Diesmal muss man den Menschenauflauf, der außerdem an einem Montag stattfand, als eine spontane Aktion bewerten. Natürlich gab es Aufrufe von linken Parteien, sozialen Bewegungen und Gewerkschaften. Aber es kamen nicht nur die üblichen Verdächtigen sondern ein nicht unerheblicher Teil des Landes war auf den Beinen. Die Mobilisierung erreichte sogar Viertel der besser Gestellten wie Las Condes oder La Dehesa. Es ist zu fragen ob die Aufrufe der traditionellen Organisationen überhaupt eine Rolle gespielt haben. Viel eher waren sie so etwas wie ein Signal dieser Organisationen an die Massen, dass sie an ihrer Seite stehen.

Die politische Situation vor der Revolte

Wie bekannt war und ist Chile das neoliberale Versuchslabor. Während der Militärdiktatur konnten Wirtschaft und Gesellschaft fast vollständig nach den Dogmen dieser Ideologie umgestaltet werden. Durch die Prägekraft dieser gesellschaftlichen Realität und den linken Niederlagen, der von 1973 im eigenen Land und dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in den Jahren nach 1989, löste sich das sozialistische Bewusstsein so gut wie in Luft auf. Die sich vormals als marxistisch verstehende Sozialistische Partei wechselte zu neoliberalen Positionen. Nach der Rückkehr zu einer beschränkten Demokratie verwaltete und optimierte sie mit den Christdemokraten und kleineren Parteien das von der Diktatur geschaffene System. Nur die KP und einige Splittergruppen haben da nicht mitgemacht. Bei den letzten Wahlen konnte die KP ca. vier bis fünf Prozent der Stimmen erzielen. Das heißt, da nur jeder Zweite wählen gegangen ist, dass ihr gesellschaftlicher Rückhalt nur halb so groß ist. Kein Vergleich zu den über 12%[1] bei den Parlamentswahlen von 1965.

Eigentlich kann man es nachvollziehen das sich die Menschen nicht mehr an Wahlen beteiligen. Welcher Linke in Deutschland hätte noch Lust sein Kreuz bei DIE LINKE zu machen wenn sie nur aus Bodo Ramelows bestehen würde? In Chile muss man seit dem Ende der Diktatur auch bereit sein, Konservative zu wählen, um aktiv an der Diktatur Beteiligte zu verhindern. So war nach der Studentenbewegung von 2011 ein Wahlbündnis von den Christdemokraten bis zur KP nötig, um das undemokratische Wahlrecht zu entschärfen. Jetzt kann auch die KP wieder im Rahmen von kleineren Bündnissen Mandate erringen. Solche minimalen Ergebnisse als den Fortschritt zu erkennen, der sie sind setzt aber ein entsprechendes Bewusstsein voraus.

Doch selbst solch kleine Erfolge führen zu neuen Schwierigkeiten. Die Änderung des Wahlrechts führte zum Ausscheiden der Christdemokraten aus dem Bündnis. Dazu gründete sich die Wahlallianz Frente Amplio (FA, Breite Front). Hier taten sich bisher nur außerparlamentarisch tätige Gruppen mit Kräften zusammen die bis zum Entstehen dieses Zusammenschlusses Teil des Regierungsapparates der Sozialistin Michele Bachelet waren. Die FA gilt vielen als linke Kraft und ist das im chilenischen Rahmen auch. Ihre inhaltliche Ausrichtung muss man aber als linksliberal charakterisieren. Daher findet man in ihren Reihen auch die chilenische Bruderpartei der deutschen FDP.

Man könnte meinen das die Rechte mit dem Wahlsieg von Piñera die Früchte der linken Arbeit geerntet hat. Aber so einfach ist es nicht. Zum einen war auch die Politik der Regierung Bachelet neoliberal. Zum anderen sind die Abgeordneten der KP jetzt regelmäßig in den Medien präsent wo sie die aktuellen Ungeheuerlichkeiten anprangern können.

Die neoliberale Linie der Regierungen Bachelets sieht man an der Umsetzung der Forderung der Studentenbewegung nach "Guter Bildung ohne Gewinnerzielungsabsicht". Das legt eigentlich die Stärkung des staatlichen Bildungssystems nahe. Doch weit gefehlt! Viele Studenten erhalten jetzt einen Gutschein den sie bei der Universität ihrer Wahl einlösen können, sei sie privat oder staatlich. Damit wurde das Verschuldungsrisiko durch die Ausbildung abgemildert. Das Bildungssystem ist aber der Markt geblieben gegen den die Studenten Sturm gelaufen sind. Die Probleme wie schlechte Qualität, überteuerte Angebote und das Risiko der Insolvenz "seiner" Uni sind geblieben. Man sieht, eine Forderung die das neoliberale Korsett sprengt, wurde von "sozialistischen" Politikern in das System eingepasst.

Diese Linie wurde aber immer durch soziale Maßnahmen abgesichert. Im Jahr 2008[2] hat Bachelet die staatlich finanzierte soziale Mindestrente eingeführt. Aus neoliberaler Sicht ist das eine System widrige Subventionierung der unteren Schichten. Sie wird aber zur Aufrechterhaltung der sozialen Stabilität des Landes benötigt. Das sieht man an einer der ersten Maßnahmen Piñeras nach dem Beginn der Revolte. Er will diese Mindestrente um 20%[3] erhöhen, auch wenn er diese Pension nie eingeführt hätte.

Die Lebensbedingungen im neoliberalen Musterstaat

Insgesamt fragt man sich wovon die Leute in Chile eigentlich leben. In Santiago bekommt man zuweilen zur Antwort, dass eine alleinstehende Person ohne Auto bei bescheidener Lebensführung eine Summe zwischen 1.100 und 1.300 Euro benötigt. In lokaler Währung sind das zwischen 870.000 und 1.000.000 Pesos. Der Mindestlohn liegt dagegen bei nur 301.000 Pesos. Das ist weniger als die Hälfte dessen was in diesem urbanen Zentrum notwendig wäre! Die offiziellen Zahlen machen einen noch fassungsloser. Nach der Umfrage CASEM von 2017, sie wird von der Regierung alle zwei Jahre durchgeführt, lag das Pro Kopf Arbeitseinkommen pro Haushalt des untersten Zehntel bei nur 71.980 Pesos. Der landesweite Durchschnitt dieses Wertes liegt bei 776.999 Pesos. Laut CASEM haben 70% der chilenischen Haushalte weniger als diesen Durchnittswert zur Verfügung. Dagegen verfügt das oberste Zehntel mit 2.810.689 Pesos mehr als doppelt so viel wie das gleich nach ihm kommende.

Sprach man vor einem Jahr mit politisch interessierten Menschen aus der Basis der Concertación über diese Lage, und gehörten sie nicht zu den ökonomischen Nutznießern des Systems, konnte man eine gewisse Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit spüren. Laut ihren Erklärungen können viele Menschen ihren Lebensstandard nur mit Schulden aufrecht erhalten. Da sie diese nicht wirklich zurückzahlen können werden sie bei Fälligkeit von einer Kreditkarte zur nächsten verschoben. Zu ihrer persönlichen Lage wollten sie sich nicht Äußern. Das erklärt sich vielleicht durch die Zahlen die ein chilenisches Online-Medium zur Verschuldung der Menschen veröffentlichte.

In einem Interview mit EL MOSTRADOR[4] erklärt Lorena Pérez, sie hat die Verschuldung in Chile untersucht, dass "Personen mit kleinen und mittleren Einkommen - anders gesagt, die Mehrheit der Chilenen - ungefähr 27% ihrer Gehälter für ihre Konsumentenkredite ausgeben". Bei den niedrigen Gehältern geraten viele in Verzug und so befindet sich jeder vierte volljährige Chilene auf einer Liste säumiger Schuldner. Aufgrund der niedrigen Löhne wird der von der Kreditkarte eingeräumte Überziehungskredit von den Menschen als Teil des verfügbaren Einkommens angesehen. Ohne ihn würden sie nicht über die Runden kommen. Im Laufe der Zeit hat sich das zugespitzt. "Die Generation die ich untersuche, die sich für die Ausbildung verschuldet hat, leidet heute unter den ökonomischen Kosten die dadurch hervorgerufen werden, das ihre Eltern im System der privaten Rentenversicherungen in den Ruhestand gehen. Diese Generation muss ökonomisch ihre eigenen Schulden tragen, die Kosten der miserablen Renten ihrer Eltern und ihrer eigenen familiären Projekte." Zur Lösung dieser Probleme hält sie strukturelle Änderungen für notwendig. Eine Erhöhung des Mindestlohns um 50.000 Pesos, wie jetzt von der Regierung angekündigt, reicht da nicht aus.

Wie Massiv das Problem der Verschuldung in Chile ist zeigt ein Vergleich des argentinischen Soziologen Atilio Borón: "Die chilenischen Haus- halte sind die am meisten verschuldeten der Welt, ihre Schulden entsprechen 43% des BIP während es in Argentinien 12% sind."[5]

Die schon erwähnten Menschen aus der Basis der Concertación wussten auch politisch nicht mehr weiter. Aus ihrer Sicht hatten sie in diesem Bündnis und ihrer jeweiligen Partei eigentlich alles versucht. Wesentliche Änderungen konnten aber nicht erreicht werden. Der institutionelle Rahmen den die Militärs den zukünftigen demokratischen Regierungen vorgegeben hatten ließ sich nicht sprengen. So gesehen ist es kein Wunder, dass jetzt die zentrale Forderung die nach einer neuen Verfassung ist.

Für die Rechte und damit für das Kapital lief alles bestens. Die menschlichen Ressourcen des Landes konnten problemlos ausgebeutet werden. Und zeigte sich Widerstand wurde er relativ einfach neutralisiert. Piñera hat mit der Kennzeichnung Chiles als "Oase des Friedens" die Sichtweise der herrschenden Klasse auf den Punkt gebracht.

In dieser komfortablen Lage wollte man die Sozialpolitik Bachelets abräumen und die von der alten Regierung durchgeführte Erhöhung der Unternehmenssteuern zurück nehmen. Zu diesen Maßnahmen gehörte die Erhöhung der Fahrpreise während der Stoßzeit. Erste Kritik an der Preiserhöhung konterte der Wirtschaftsminister mit dem Hinweis "wer früher Aufsteht dem ist mit niedrigeren Tarifen geholfen".[6] Diesen Rat hat er Leuten gegeben die häufig eh schon rund um die Uhr arbeiten!

An diesem Ausspruch zeigt sich ein Problem rechter Regierungen in Chile. Die Ministerbank wird mit den Vertretern wichtiger Kapitalgruppen besetzt. Sie sind gewohnt Firmen zu Leiten und verhalten sich in ihren neuen Ämtern entsprechend. Nach einiger Zeit haben sich diese Personen holt. Piñera hat nach dem Beginn der sozialen Erschütterungen die Hälfte seiner Minister entlassen.

Der Zündfunke waren die Studenten

Aufgrund ihrer Aussichten und den Erfahrungen ihrer Vorgänger ist es kein Zufall das die soziale Explosion von den Studenten ausgelöst worden ist. Als Protest gegen die Fahrpreiserhöhung beschlossen sie kollektiv Schwarz zu fahren und übersprangen in größeren Gruppen die Sperren. Das ging mehrere Tage so während von Seiten der Regierung nur Drohungen zu hören waren. Die Proteste wurden nur als Sicherheitsproblem behandelt. Daher versuchte die Obrigkeit das Schwarzfahren mit massiven Polizeieinsätzen zu verhindern. Das führte zu Auseinandersetzungen in den Stationen der Metro in deren Folge zahlreiche[7] Bahnhöfe mehr oder weniger zerstört worden sind.

Jetzt trat etwas ein was man in sehr kleinem Maßstab in Chile ab und zu beobachten kann. Die Menschen solidarisierten sich mit denen, die gerade den geregelten Ablauf ihres Lebens stören. In diesem entpolitisierten Land begannen die Menschen über ihre Lage zu sprechen. Am Ende der Woche startete die oben beschriebene Mobilisierung. Nun ging es nicht mehr um 30 Pesos sondern um 30 Jahre! Die 30 Jahre Demokratie in denen das Volk schon unter dem neoliberalen Joch leidet. Doch diese Parole greift zu kurz. Eigentlich müsste es um die Zeit seit dem Militärputsch gehen. Mit ihm begann die Zerstörung des Sozialstaates und die Orientierung an den wirtschaftsliberalen Dogmen. Doch der Schlachtruf mit den 30 Jahren drückt das aktuelle Bewusstsein der meisten Chilenen aus. Die Zeit davor wird am liebsten verdrängt.

Es ist hier nicht der Platz um die einzelnen Schritte der Regierung und der Bewegung nachzuzeichnen. Doch so viel: Es kam zu einer Repression wie man sie zuletzt während der Militärdiktatur gesehen hat. In den ersten vier Tagen wurden mehr als 5.400 Menschen verhaftet. Die peruanische Tageszeitung DIARIO UNO[8] hat das mit den Zahlen aus Hong Kong verglichen. Danach sind das mehr als doppelt so viele Festnahmen wie in der chinesischen Sonderverwaltungszone seit dem Beginn der dortigen Proteste vor etwa einem halben Jahr. Die Zeitung kommentiert, dass wir die Bilder der Aufstandsbekämpfung in den westlichen Medien in Endlossschleife zu sehen bekämen wenn Piñera nicht ein so treuer Alliierter Washingtons wäre.

Differenzen zwischen politischer und militärischer Führung?

Die Menschen ließen sich von der massiven Repression nicht einschüchtern, auch der Ausgangssperre widersetzten sie sich. Als letzter Schritt zur Niederschlagung der Proteste wäre nur noch das Kriegsrecht geblieben. Doch auf die Ausrufung des Kriegszustandes hat man verzichtet obwohl sich Piñera im "Krieg gegen einen mächtigen Gegner" sieht. Auf einer Pressekonferenz während des Ausnahmezustandes erklärte dagegen General Iturriaga: "Ich bin ein glücklicher Mann. Die Wahrheit ist, ich befinde mich nicht im Krieg, gegen Niemanden."[9] Noch am gleichen Tag war er gezwungen seine Worte zu Erklären. Er versicherte, dass seine Intention keine Gehorsamsverweigerung gegenüber dem Presidenten war. Auffallend ist aber doch wie schnell die Soldaten wieder von den Straßen verschwanden. Wenige Tage nach seiner Ausrufung wurde der Ausnahmezustand zurückgenommen. Die brutale Repression geht trotzdem weiter und wird nun von der paramilitärischen Polizei getragen.

Dabei haben die Carabineros von den europäischen Polizeibehörden gelernt. Es darf keine Toten geben! Die Menschen aber so zuzurichten, dass sie zu Krüppeln werden, das geht. Die Öffentlichkeit nimmt das nicht wirklich wahr. Dementsprechend ist die Mehrheit der Toten bisher nicht durch Polizei oder Militär gestorben. Sie sind bei Plünderungen verbrannt. Das wird von einigen Beobachtern als Ausdruck der neoliberalen Prägung der Akteure gesehen. Sie nehmen nicht mehr auf einander Rücksicht. Die Plünderungen richten sich nicht nur gegen die großen Ketten sondern auch gegen kleine Geschäftsleute. Sie leiden unter dem System wie alle anderen auch.

Die wahrscheinlich grausamste Waffe der Carabineros ist die Verwendung einer neuen Art Gummigeschoss. Sie hat bei mehr als 230[10] Menschen zum Verlusst eines Auges geführt, bei zwei von ihnen sogar zum kompletten Erblinden. Dieses "Gummigeschoss" ist eigentlich ein ganz normales Projektil das als Schrot verschossen wird. Es besteht im wesentlichen aus Metall. Es dringe in den menschlichen Körper ein und führt auch an anderen Körperteilen zu häßlichen Verletzungen. Doch über diese Fälle wird bei uns in den Medien so gut wie nicht berichtet.

Wer geht auf die Straße?

Auf Seiten der Demonstranten ist festzustellen, dass sie sich nicht als Linke verstehen. Bezeichnend ist dafür der Videoblog[11] einer in Chile lebenden Peruanerin. Sie erklärt ihren Landsleuten daheim was in ihrer neuen Heimat gerade passiert. Nach einer sehr emotionalen Darstellung der sozialen Realität betont sie ausdrücklich, dass sie und ihre Nachbarn weder Links noch Rechts sind. Auch weist sie empört die Vorwürfe zurück, dass die Proteste von Cuba und Venezuela angefacht worden sind.

Diese Grundeinstellung prägt auch die Demonstrationen. Man sieht viele Transparente mit Forderungen die sich gegen die Auswüchse des Neoliberalismus wenden. Doch Fahnen von linken Organisationen sah man am Anfang der Proteste nicht! Das hat sich mit der Zeit geändert aber wirklich viele sind es immer noch nicht.

Auffallend war die gleich große Zahl an chilenischen und Mapuchefahnen. Mit einer chilenischen Fahne bringt man zum Ausdruck, dass man ein Bürger des Landes ist. Man hat daher ein Recht gehört zu werden. Mit einer Mapuchefahne stellt man sich in einen Gegensatz zur chilenischen Gesellschaft.

Die herrschende Klasse hat in den letzten Jahren die verschiedenen Strömungen der Mapuche-Bewegung als ihren größten Feind angesehen und sie auch so behandelt. Das reichte bis zum Mord an Angehörigen dieser Minderheit. Auf der anderen Seite gibt es in der Mapuche-Bewegung aber auch militante Segmente. Die bekämpften z.B. den Bau eines neuen Flughafens in Temuco mit Anschlägen auf Baumaschinen. Jemand der eine Opposition zur herrschenden Klasse sucht wird hier fündig. Er kann sich in den Gegensatz "Chilenischer Staat" - "Nation Mapuche" einordnen. Damit ist hier eine ethnische Frage an die Stelle der Klassenfrage getreten. Entsprechend jubelte im Fernsehen ein Hochschullehrer dieser Ethnie darüber, dass den Menschen jetzt die Kosmovision der Mapuches wichtig geworden ist, sprich die Esoterik der Mapuches.

Dafür sprechen auch statistische Daten. Laut der Umfrage CASEM ist der Anteil der Indigenen an der Bevölkerung Chiles von 2006 bis 2017 von 6,6 auf 9,5 Prozent gestiegen. In Zahlen gab es einen Zuwachs um 634.084 Personen, von 1.060.786 auf 1.694.870 Menschen. Das ist ein Wachstum um fast 60% in elf Jahren! Es lässt sich nicht mit der Geburtenrate erklären.

Die große Mehrheit der Chilenen sind Mestizen. Sie haben sowohl europäische als auch indigene Vorfahren. Sie können sich also aussuchen welche ihrer Ahnen ihnen gerade wichtiger sind. Offensichtlich geht da die Tendenz gerade in Richtung der indigenen Seite.

Es ist die Frage ob sie sich damit einen Gefallen tun. Eine Strömung der Mapuche-Bewegung fordert die Rückgabe des gesamten Territoriums zwischen dem Fluß Bio Bio und der Stadt Puerto Mont. Nur in den größeren Städten dürfen dann noch "Spanier" bleiben. Das ist ein Programm für eine ethnische Säuberung! Welcher Mestize dann die Aufnahme in den Kreis der Mapuches findet wird sich zeigen.

Das diese Frage viel Konfliktstoff birgt sieht man an der Zerstörung zahlreicher Statuen von Pedro de Valdivia. Er kommandierte die Expedition die Chile dem Spanischen Reich einverleibte. Man kann also Feststellen, dass Kräfte, die für alles mögliche stehen nur nicht für eine sozialistische Perspektive, wissen was sie wollen. Sie nutzen das Machtvakuum das durch die sozialen Proteste entstanden ist. Möglicherweise sind diese Zerstörungen Teil ihrer Strategie zur Machteroberung.

Eine Strategie fehlt aber den aus sozialen Gründen auf die Straße gehenden. Möglicherweise werden sich neue Strukturen herausbilden, aber das bleibt abzuwarten. Im Moment verhandeln die Oppositionsparteien, die Teil des Problems sind, mit der Regierung. Sie haben sich auf einen Weg zu einer neuen Verfassung verständigt. Diese Vereinbarung lässt der Rechten aber ihre Macht zur Blockade. Daher haben die Abgeordneten der KP dem nicht zugestimmt.

Was bleibt?

Kurzfristig die Rücknahme der Steuersenkung für Unternehmen wie auch der Preiserhöhung der Metro. Die Erhöhung des Mindestlohns, wenn auch auf neoliberale Art.[12] Die Gehaltserhöhung soll die Unternehmen nicht belasten, daher will ihnen der Staat die Kosten erstatten. Dazu kommt noch die Steigerung der Mindestrente, damit ist das Problem der miserablen Renten aber auch nicht gelöst.

Mittelfristig wird eine neue Verfassung kommen. Ihre Abfassung soll mit einem leeren Blatt Papier beginnen. Man wird sehen ob mit ihr dem Neoliberalismus Zügel angelegt werden können oder es auf eine Optimierung des bestehenden Systems hinausläuft.

Langfristig wird das neue Selbstbewusstsein der Bevölkerung seine Wirkung entfalten. Ob es zu einer allgemeinen Repolitisierung des Landes führt bleibt abzuwarten. Auf alle Fälle sind die gemachten Erfahrungen eine gute Basis für zukünftige soziale Kämpfe.

International gesehen ist der Neoliberalismus entzaubert werden, auch wenn das in Deutschland wohl nicht so schnell ankommen wird. Man braucht dabei gar nicht so weit gehen wie DIARIO UNO. Sie jubelt in einer Überschrift: "Chile unterschreibt den Totenschein für den Neoliberalismus in Lateinamerika."[13] Grundsätzlich hat sie aber Recht! Wenn die Lebensbedingungen der Menschen im neoliberalen Musterstaat so unerträglich werden, dass Leute auch nach Wochen harter Repression weiter auf die Straßen gehen, dann ist dieses System an seinem Ende. Die Rechte hat mit ihrer "Stillen Revolution"[14] das Ziel verfolgt, dass solche kollektive Erhebungen nie mehr vorkommen. Damit ist sie grandios gescheitert.

Das wissen auch kluge Angehörige der herrschenden Klasse. DIARIO UNO ist dafür ein peruanisches Beispiel. In Chile ist Jeanette von Wolffersdorff von ihrem Amt im Vorstand der Börse von Santiago zurückgetreten.[15] Sie wirft den ökonomischen und politischen Eliten des Landes vor, die Schuld an der gegenwärtigen Krise zu tragen. Gleichzeitig fordert sie eine Umverteilung von oben nach unten. Auch wenn man es sich schwer vorstellen kann, die Revolte könnte der Auslöser eines grundsätzlichen Strategiewechsels der chilenischen Bourgeoisie werden. Vielleicht steht wieder eine Politik der Klassenzusammenarbeit auf der Tagesordnung. Das gab es in Chile schon einmal. Dafür stehen die Volksfrontregierungen die ab 1938 soziale Sicherungssysteme eingeführt haben. Diese Linie wurde mit der Orientierung auf den Militärputsch verlassen. Vielleicht erleben wir ja eine Wiedergeburt dieser Politik und das wäre für Chile eine revolutionäre Wende.


Anmerkungen:

[1] https://es.wikipedia.org/wiki/Elecciones_parlamentarias_de_Chile_de_1965

[2] https://es.wikipedia.org/wiki/Administradoras_de_fondos_de_pensiones_de_Chile

[3] https://es.wikipedia.org/wiki/Proyectos_de_ley_y_reformas_relacionudas_a_las_protestas_en_Chile_de_2019

[4] https://www.elmostrador.cl/destacado/2019/10/25/e1-endeudamiento-como-gimnasia-financiera-una-de-las-claves-de-la-revuelta-de-octubre/

[5] http://diariouno.pe/chile-firma-el-certificado-de-defuncion-del-neoliberalimso-para-america-latina/

[6] https://www.elmostrador.cl/noticias/pais/2019/10/18/fontaine-y-sus-dichos-por-rebajaen-en-horario-bajo-en-el-metro-hubo-un-mal-entendido-de-lo-que-quise-decir/

[7] https://www.railjournal.com/passenger/metros/santiago-metro-suffers-serious-damage-in-fares-hike-protest/

[8] http://diariouno.pe/chile-una-protesta-contra-el-neoliberalismo-que-los-medios-se-niegan-a-recanocer/

[9] Beide Zitate aus: https://www.youtube.com/watch?v=k3HMAX9bvd0

[10] https://www.elciudadano.com/especiales/chiledesperto/todos-con-parche-en-el-ojo-el-llamado-a-manifestarse-por-las-victimas-de-lesiones-oculares/11/29/

[11] https://www.youtube.com/watch?v=QO1FHHmo88M

[12] Süddeutsche Zeitung, 7.11.2019, Chiles Regierung lenkt ein

[13] http://diariouno.pe/chile-firma-el-certificado-de-defuncion-del-neoliberalimso-para-america-latina/

[14] Chile, Stille Revolution; Titel eines Buches des rechten Politikers Joaquin Lavin aus der Zeit der Militärdiktatur

[15] https://www.elmostrador.cl/mercados/2019/11/24/directora-del-observarorio-fiscal-la-redistribucion-del-capital-jamas-va-a-funcionar-si-la-elite-no-esta-de-acuerdo/

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 206 - Winter 2019, Seite 13 bis 17
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2020

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