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AUFBAU/235: Aufschreiben, was später einmal schön wird


aufbau Nr. 58, September/Oktober 2009
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Aufschreiben, was später einmal schön wird

WERKKREIS LITERATUR DER ARBEITSWELT - Im Jahr 1968 entstand in Deutschland ein Bündnis von ArbeiterInnen, SchülerInnen, Lehrlingen, StudentInnen, LehrerInnen, Angestellten und WissenschaftlerInnen mit dem Ziel einer kollektiven Literaturproduktion; der Textproduktion von unten.


(az) Der Schriftsteller Walter Jens schrieb in einem vielbeachteten Aufsatz zum Thema des Arbeitsalltags in der damals vorherrschenden deutschen Literatur, dass man sich des Eindruckes nicht erwehren könne, der arbeitende Mensch lebe "im Zustand des ewigen Feiertages". Der Alltag der ArbeiterIn schien 1968 im deutschen Literaturkanon praktisch inexistent.

Nicht dass es in früheren Zeiten keine Literatur zum Arbeitsalltag gegeben hätte. Die mit den Begriffen "Arbeiterliteratur", "Arbeiterdichtung" verkürzte Literaturgattung war, zumal sie sich auch als Teil des Proletariats und als teilnehmende Beobachterin der revolutionären Erneuerung verstand, ständigen Angriffen der bürgerlichen Literaturkritik ausgesetzt. Denken wir z.B. an die Arbeiterkorrespondenten-Bewegung der KPD, oder an die kommunistischen Betriebsreportagen Willi Bredels in der "Linkskurve", dem Organ des aus der Korrespondentenbewegung hervorgegangenen Bundes Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller (BPRS) zu Zeiten der Weimarer Republik. Letzterem verdanken wir zahlreiche theoretische Beiträge zu einer marxistischen Literaturkonzeption. In der äusserst heftigen, von 1933-1939 geführten Diskussion (der Expressionismusdebatte[1]) ging es um die adäquate Form der literarischen Realitätsbeschreibung im Zeichen der faschistischen Bedrohung und der sich konstituierenden antifaschistischen Volksfront; im Speziellen ging es aber auch - unter heftiger Ablehnung der zeitgenössischen (expressionistischen) Werke Gottfried Benns und James Joyces - um den realistischen (proletarischen) Roman.


Die Dortmunder Gruppe 61

Dass eine realistische Literaturkonzeption in den Trümmerlandschaften nach Kriegsende kaum mehr zur Diskussion stand, lag sicher auch an der literarischen Faschismusbewältigung, welche sich zunehmend für einen humanistisch verorteten Wertediskurs im Lichte des sich anbahnenden Systemkonflikts des kalten Krieges engagierte. Unter der Führung der Gruppe 47, einem losen Zusammenschluss deutschsprachiger BerufsschriftstellerInnen, wurde der jungen BRD ein literarisches Aufbauprogramm verpasst - ein elitärer Kraftakt mit deutlich staatstragenden Obertönen. Trotz der immensen Anstrengungen bei der Wiederherstellung der industriellen Produktivkraft, schien die eigentliche Arena des kapitalistischen Wiederaufbaus - die Arbeitswelt - gänzlich aus der Nachkriegsliteratur herausgefallen zu sein.

Neben wenigen Ausnahmen, so z.B. der 1953 in München-Schwabing gegründete Komma-Klub, mit seinen Kontakten zur DDR-Arbeiterliteratur, wurde die Arbeitswelt erstmals 1961 durch die Gruppe 61, einer Verbindung von ArbeiterschriftstellerInnen aus Dortmund, wieder ins literarische Zentrum gerückt. Diese vom Dortmunder Bibliothekar Fritz Hüser geförderte Gruppe verpflichtete sich zwar auf eine realistische Darstellung arbeitender Menschen in ihren kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen, doch schien sich unter den Mitgliedern zunehmend die Auffassung durchzusetzen, dass die "gesellschaftliche Wirklichkeit der BRD nur harmonisiert zu begreifen und zu gestalten" sei[2]. Zur Spaltung innerhalb der Gruppe 61 kam es 1968 auch aus praktischen Gründen, nämlich als die Mehrheit nicht bereit war, schreibende ArbeiterInnen zu schulen und zu fördern, sondern ihr Ziel vielmehr darin sahen, sich selbst als BerufsschriftstellerInnen auf dem deutschen Literaturmarkt zu etablieren.[3]


Der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt

Die internen KritikerInnen der Gruppe 61, darunter u.a. Erasmus Schöfer (über ihn werden wir in einer kommenden Nummer ausführlich berichten), Erika Runge (später bekannt durch ihre Bottroper-Protokolle) und Günter Wallraff (siehe: Industriereportagen), schlugen an der Herbsttagung 1968 die Gründung von literarischen Werkstätten nach dem Vorbild der kurz zuvor entstandenen "Hamburger Werkstatt schreibenden Arbeiter" und der "Literarischen Werkstatt Gelsenkirchen" vor. Aus der ein Jahr später proklamierten Gruppe 70 für Literatur der Arbeitswelt wurde dann 1971 der eingetragene Verein Werkkreis Literatur der Arbeitswelt. Der Werkkreis verstand sich als Bündnisorganisation für eine eingreifende, parteiliche Literatur und bestand vorwiegend aus Gewerkschafts-, DKP- und SPD-Basis und verschiedenen linken BürgerInnen-, Studierenden- und Wohninitiativen. In der sich verschärfenden Krise in den 70er Jahren (beispielhaft: die grossen Streiks bei Ford in Köln) erlebte der Werkkreis ein starkes Wachstum; es entstanden bis zu 45 Werkstätte in Deutschland (und mit Basel und Zürich auch in der Schweiz). Doch Gravitationszentrum der Literaturproduktion bleibt das Ruhrgebiet.

Die in den Werkstätten organisierten "Wortarbeiter" (Eigenbezeichnung) konzipierten ihre kollektive Literaturproduktion als politische Kampagnen (z.B. "Dieser Betrieb wird bestreikt", "Akkord ist Mord", "Schulgeschichten") und griffen dabei die frühere Tradition des "Roten-Eine-Mark-Romans" auf Zusammen mit dem Fischer-Verlag entstand so die Taschenbuchreihe "Werkkreis Literatur der Arbeitswelt". Berufsschriftsteller wie Peter Handke, Heinrich Böll und der heute rechtskonservativ gewendete Martin Walser haben den Werkkreis stets enthusiastisch unterstützt - selbst Johannes Mario Simmel liess dem Werkkreis regelmässig namhafte Geldbeträge zukommen! Trotz Anfeindungen durch die bürgerliche Literaturkritik (Marcel Reich-Ranickis legendäres Urteil: "Schund!"), wurden bis heute insgesamt 60 Bände publiziert (Gesamtauflage: eine Million Bücher) mit den Bestsellern "Der rote Grossvater erzählt", "Ich stehe meine Frau" und "Mit 15 hat man noch Träume".

Einen ersten Einbruch erlebte der Werkkreis nach der rechtskonservativen Wende in Europa anfangs der 80er Jahre. Heute tritt er politisch mit seinen 9 Werkstätten kaum noch in Erscheinung. Trotzdem: der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt gehört zu den erfolgreichsten kollektiven Anstrengungen für eine proletarische Literatur.


[1] Hans-Jürgen Schmitt (Hg.), Die Expressionismusdebatte - Materialien zu einer marxistischen Literaturkonzeption, Frankfurt a. M.: edition suhrkamp Nr. 646, 1973.
[2] Peter Fischbach, Horst Hensel, Uwe Naumann (Hsg.), Zehn Jahre Werkkreis Literatur der Arbeitswelt - Dokumente, Analysen, Hintergründe, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1979.
[3] Website des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt: www.werkkreis-literatur.de


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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Arbeitsgruppe Winterthur (agw), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Kulturredaktion (kur)


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Quelle:
aufbau Nr. 58, September/Oktober 2009, Seite 16
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Oktober 2009