Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

AUFBAU/306: Griechenland - Die Leute sagen "Da machen wir nicht mit!"


aufbau Nr. Nr. 67, Dezember 2011/Januar 2012
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

"Die Leute sagen: Da machen wir nicht mit!"


GRIECHENLAND - Wohl nirgendwo in Europa sind die Krise und der Widerstand dagegen so zugespitzt wie in Griechenland. Aber auch in Italien, Irland, Portugal und Spanien kippt die Lage. Aus der Situation in Griechenland können wir vieles für die aktuellen und kommenden Kämpfe in Europa lernen. Ein Interview mit Achim Rollhäuser, einem Genossen, der in Griechenland lebt und die Situation gut kennt.


FRAGE: Wie sehen in Griechenland die Auswirkungen der Krisenangriffe im Alltag aus?

ACHIM ROLLHÄUSER: In erster Linie wird im Sozialbereich und den Löhnen im öffentlichen Dienst gekürzt. Ein funktionierendes Gesundheitswesen gibt es heute nicht mehr. Im Bildungswesen werden unheimliche Einsparungen vorgenommen. Und die Gehälter im öffentlichen Dienst sind per 1. November 2011 um rund einen Drittel gekürzt worden. Eine Lehrerin, die 20 Jahre gearbeitet hat und 1500 Euro verdiente, kriegt jetzt noch 1000. Und ein Lehrer, der heute neu eingestellt wird, fängt mit 650 Euro im Monat an! Davon kann niemand leben. Der "Erfolg" der Sparmassnahmen bedeutet, dass heute ein Drittel der griechischen Bevölkerung an oder unter der Armutsgrenze lebt - wenn man Armutsgrenze definiert als zwei Drittel des durchschnittlichen Familieneinkommens. Ein Einzelbeispiel: Ich habe kürzlich von einer Putzfrau gehört, die 40 Stunden die Woche für 500 Euro Lohn pro Monat arbeitete. Sie wurde entlassen, weil der Patron eine andere gefunden hat, die diesen Job für 350 Euro macht.

FRAGE: Das heisst auch: Es trifft bei weitem nicht nur Staatsangestellte.

ACHIM ROLLHÄUSER: Wenn es bei den Staatsangehörigen so runter geht, schlägt es durch auf die privaten Beschäftigten. Bei denen kommt hinzu, dass es der Regierung im Sommer im Rahmen des sog. mittelfristigen Programms gelungen ist, praktisch alle Kündigungsvorschriften aufzuheben. Aber auf der anderen Seite gibt es die Rüstungsausgaben. Griechenland hat, gemessen an der Grösse, die höchsten Rüstungsausgaben der EU. Da wird kaum gekürzt. Warum nicht? Weil Deutschland und Frankreich sagen: "Wenn ihr da kürzt, dann kriegt ihr kein Geld mehr. Wir wollen unsere Rüstungsgüter weiter an euch verkaufen." Es ist diese Ungerechtigkeit, die die Leute dann auch so aufregt. Die Reste vom Sozialstaat, die noch da sind, werden auch noch abgebaut, da wo Grosskonzerne der imperialistischen Länder gut daran verdienen, da wird nichts gemacht.

FRAGE: In Deutschland oder der Schweiz hetzen die Medien dann gegen "die faulen Griechen".

ACHIM ROLLHÄUSER: Genau, in Deutschland heisst es, "wir" müssen zahlen für die Griechen. Heute müssen tatsächlich die Leute mit ihren Steuern bezahlen, aber sie bezahlen dafür, dass die deutsche Wirtschaft lange unglaublich viel Geld an Griechenland verdient hat! Jetzt zahlen nicht Siemens oder die Deutsche Bank die Zeche, sondern die Leute mit ihren Steuern. Es kommt eigentlich darauf an, dass die arbeitende Bevölkerung in Griechenland wie auch in Deutschland oder der Schweiz sehen, dass sie gemeinsame Interessen dagegen haben, was das europäische Kapital mit ihnen macht.

FRAGE: Welche Rolle spielt eigentlich die Schweiz dabei?

ACHIM ROLLHÄUSER: Momentan verhandeln Schweizer Banken und die griechische Regierung über eine teilweise Aufhebung des Bankgeheimnisses, weil so viele Reiche ihr Geld in die Schweiz transferieren. Diese Verhandlungen sind aber eher ein Feigenblatt. Schliesslich haben die griechischen Politiker auch selbst Schweizer Konten und nicht wirklich ein Interesse daran, das Schlupfloch zu stopfen. Es geht darum, gegenüber der Bevölkerung zu behaupten, hier werde etwas unternommen. Denn Widerstand, Empörung und Wut werden in der Bevölkerung immer grösser. Auf die Dauer hat die Regierung Mühe, das in den Griff zu bekommen. Der Polizeiapparat ist enorm aufgebläht, jeder Hundertste erwachsene Grieche ist Polizist, das Heer ist überproportional gross. Die Unterdrückungsapparate bestehen demnach sehr wohl. Aber das soll nicht noch mehr eingesetzt werden, als es jetzt schon geschieht. Die bürgerliche Demokratie besteht auch darin, dass die Leute mitspielen.

FRAGE: Das ist aber immer weniger der Fall. Wer geht auf die Strasse? Wer vermag zu mobilisieren?

ACHIM ROLLHÄUSER: Bis zum Mai 2011 war es die Linke im Gesamtsinn, die den Protest auf die Strasse getragen hat: die kommunistische Partei, die beiden Linksallianzen, und ich zähle auch die AnarchistInnen dazu. In Griechenland bezeichnen sich die AnarchistInnen nicht als Linke, weil "links" hier quasi definitionsgemäss "marxistisch" bedeutet. Im Mai hat sich nach der Bewegung der Platzbesetzungen in Spanien etwas Ähnliches entwickelt. Anfang Juni waren 250.000 Personen auf dem Syntagma-Platz. Ein Teil davon waren Linke, ein grosser anderer Teil waren empörte Bürger, "Indignados". Das geht bis nach Rechtsaussen, auch die Faschisten haben sich dort getummelt. Auf dem Syntagma-Platz gab es eine klare Trennung: Oben beim Parlament waren die Bürger und auch die Faschisten, unten auf dem Platz fanden die Vollversammlungen statt. Die Trennung bedeutete auch, dass die Linken nur wenige der einfach Empörten "abholen" konnte. So, dass im Oktober wieder hauptsächlich Linke, AnarchistInnen und fortschrittliche Kräfte auf die Strasse gingen. Dann gingen schätzungsweise bis zu einer halben Million Leute auf die Strasse - bei einer Bevölkerung von 11 Millionen eine ganze Menge.

FRAGE: Heisst das, die rechten Kräfte wurden wieder schwächer?

ACHIM ROLLHÄUSER: Nein, das kann man nicht sagen. Die haben auf der Strasse weniger eine Rolle gespielt, sind aber keineswegs schwächer geworden. Die rechtspopulistische Sammelpartei Laos hat vielmehr gewonnen. Die entsprechen ungefähr dem Franzosen Le Pen, schlimmer als Haider, auch schlimmer als die schweizerische SVP. Das sind Rassisten, Antisemiten. Es ist eine ziemlich schlimme Geschichte, dass es ihnen gelungen ist, in die Regierung zu kommen.

FRAGE: Was entwickelt sich aus der Dynamik auf der Strasse?

ACHIM ROLLHÄUSER: Neuerdings beschränkt sich der Protest nicht mehr nur auf die grossen Demonstrationen im Zentrum von Athen, sondern er verlagert sich jetzt immer mehr auch in andere Stadtteile. Um dem IWF und der EU zu beweisen, dass sie an das Geld der Leute rankommt, hat die Regierung eine Sonderabgabe auf Wohneigentum festgesetzt. Und die treibt sie über die Stromrechnung ein. Wer die Abgabe - das sind, je nach dem, 400 Euro für 70 Quadratmeter - nicht bezahlt, dem wird der Strom abgestellt. Da haben viele gefunden: Nein, da machen wir nicht mit! Und jetzt gibt es überall in den Stadtteilen Versammlungen, teilweise sogar unterstützt von den örtlichen Bürgermeistern, die sagen: Hier bleibt niemand ohne Strom! Und wenn die rangehen und irgendwelche Zähler abklemmen, dann schliessen wir den Strom wieder an. Da sind Elektriker dabei, die können das. Hier sieht man, wie sich an der Basis wirklich ein relativ breiter Widerstand entwickelt. An diesen Versammlungen nehmen teilweise Hunderte von Leuten teil und die sagen sich: Gut, dann organisieren wir unsere Sachen selbst.

FRAGE: Was wird auf diesen Versammlungen sonst noch diskutiert?

ACHIM ROLLHÄUSER: Die Leute bei den Versammlungen sind sich einig in der Ablehnung dieser Massnahmen. Erfreulich ist, wie die Sachen selbst in die Hand genommen werden. Man muss aber klar sehen: Es gibt in Griechenland im Augenblick keine Tendenz dahin, dass die Leute sagen, wir machen eine Revolution und gehen dann zum Sozialismus über. Das nicht. Aber es gibt eben immer mehr Leute die finden: "Wenn die da oben plündern oder uns im Stich lassen, dann müssen wir anfangen unser Leben selbst zu organisieren". Das findet jetzt eben nicht mehr wie im Mai und Juni nur auf dem Syntagma-Platz statt, sondern wegen dieser Sonderabgabe auch verstärkt in den Stadtteilen. Das ist so was wie die Grundlage von Räten, auch wenn es jetzt keine sozialistischen Arbeiter- und Soldatenräte sind wie im Ersten Weltkrieg. Aber immerhin organisiert sich was von der Basis her und das finde ich eine gute Entwicklung.

FRAGE: Wird da auch perspektivisch diskutiert?

ACHIM ROLLHÄUSER: Kaum, weil es eben sehr schwierig ist, über einen gewissen Punkt hinaus zu kommen. Natürlich wird politisch diskutiert und nicht nur über die konkreten praktischen Konsequenzen des Stromabstellens geredet. Beispielsweise, ob man jetzt dafür oder dagegen ist, dass Griechenland aus der Eurozone rausgeht. Das ist ja ganz schwierig, weil ein Staatsbankrott Griechenlands für viele bedeuten würde, dass sie überhaupt kein Einkommen mehr hätten, wenn die Renten dann nicht mehr gezahlt würden. Da ist die griechische Bevölkerung durchaus gespalten. Als perspektivische Lösung versucht die Linke, genau diese Frage aufzuwerfen: Wie kann ein Rätesystem von unten her in einer Form so funktionieren, dass es zu einer Art parallelem Gesellschaftssystem werden kann. Es ist natürlich noch keine Gegenmacht, aber es könnte eine Grundlage sein, dann tatsächlich das bestehende System irgendwann mal über Bord zu werfen.

FRAGE: Wie versuchen denn revolutionäre Linke in diesen Räten zu intervenieren?

ACHIM ROLLHÄUSER: Der Vorwurf der Instrumentalisierung kommt sehr schnell. Bei diesen Versammlungen spielt zum Beispiel die kommunistische Partei keine grosse Rolle, obwohl die traditionell ein Wahlpotential von 8% hat. Das ist mehr eine Linke, die auch bereit ist, zuzuhören und auch andere Modelle zu denken. Sofern sie dazu bereit sind, ist es gar nicht so, dass die sofort isoliert wären oder nichts zu sagen hätten. Wenn du dort aber als revolutionärer Linker auftrittst, passiert dir natürlich dasselbe, was in allen anderen Ländern passiert. Du wirst gefragt: Ja und was dann? Was kannst du uns anbieten danach, wie sieht dein Modell aus? Und da stehen wir dann doch etwas ratlos dar, weil das Modell, das in der Sowjetunion oder in China ausprobiert worden ist, nicht gerade zu den besten Ergebnissen geführt hat, jedenfalls nicht langfristig. Die Leute suchen ja auf der ganzen Welt nach Alternativen zum Kapitalismus, aber wegen diesen Schwierigkeiten haben sich viele der griechischen Linken momentan darauf verlegt zu schauen, was sie an der Basis an Selbstorganisation entwickeln können. Wichtig ist, dort immer wieder reinzubringen, dass, was passiert, eine notwendige und logische Folge des Kapitalismus war und deshalb der Kapitalismus weg muss.

FRAGE: Prognosen sind immer schwierig, aber ganz allgemein gefragt: Was ist zu erwarten in den nächsten Monaten?

ACHIM ROLLHÄUSER: Das ist tatsächlich schwierig. Zum Jahresende kommen, das erste Mal, diese ganz schweren letzten Kürzungen zum Tragen, die im Oktober beschlossen wurden. Das wird noch einmal, schätze ich, einen zusätzlichen Schub geben. Auf der anderen Seite, wenn die Leute ins Elend gedrückt werden und ums nackte Überleben kämpfen müssen, ist das nicht die beste Situation für einen revolutionären Kampf. Das ist ja der Grund, weswegen die Kommunisten auch immer dafür kämpfen, dass die Leute eben nicht verelenden. Weil Marx schon gesagt hat, dass niemand mehr kämpft, der kaum den nächsten Tag überlebt.

FRAGE: Rechnest du mit einem Erstarken der faschistischen Kräfte?

ACHIM ROLLHÄUSER: Ja, auf jeden Fall. Es wird in der nächsten Zeit zu einer stärkeren Polarisierung der Gesellschaft kommen. Die Frage ist, ob es der Linken noch einmal gelingt, eine Bewegung auf die Beine zu kriegen, die die Regierung zwingt, wenigstens Teile dieser Maßnahmen zurückzunehmen. Sonst wird sich nach den grossen Kämpfen eine Stimmung der Resignation breit machen. Im Sommer hatten wir wirklich gedacht, die Regierung sei kurz vor dem Zusammenbruch. Die Abgeordneten konnten sich nirgends mehr zeigen, ohne mit Joghurt und mit Eiern beworfen zu werden. Nun kann es aber dazu kommen, dass grosse Teile der Bevölkerung doch sehr ernüchtert nach Hause gehen und sagen, dass alles nichts gebracht hat. Diese Situation ist gefährlich, und ich will da keine Prognose wagen. Ich selber bin der Auffassung, dass der griechische Staat und das griechische Finanzkapital es nicht schaffen werden, ungefähr die nächsten drei Jahre so zu überleben. Sie werden wohl in irgendeiner Form Konkurs anmelden müssen. Das wird dann möglicherweise noch einschneidendere Folgen für viele haben, weil dann wirklich keine Löhne und Renten mehr gezahlt werden. Was dann in Griechenland geschieht, weiss ich auch nicht. Wir bereiten uns darauf vor und versuchen den Boden zu bereiten, um das Ganze zu kippen. Wie weit das gelingt, ist eine ganz andere Frage.


*


Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Rote Hilfe International (rhi), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)


*


Quelle:
aufbau Nr. 67, Dezember 2011/Januar 2012, Seite 1+6
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.ch
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org

aufbau erscheint fünfmal pro Jahr.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
aufbau-Jahresabo: 30 Franken, Förderabo ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Januar 2012