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AUFBAU/470: Rojava - Der Kampf für eine selbstbestimmte Zukunft


aufbau Nr. 86, September/Oktober 2016
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Der Kampf für eine selbstbestimmte Zukunft


ROJAVA Unter unglaublichen Anstrengungen gelang es Rojava bisher eine Vernichtung der aufgebauten Perspektive zu verhindern. Wir bekamen einen Einblick in die Selbstverwaltungsstrukturen sowohl an, als auch hinter der Front.


(gpw) Aus den Boxen des Minibusses dröhnt YPG-Pop, als wir über die Landstrasse Richtung Qamishlo brettern. Am Steuer sitzt Heval Sores, er kennt die Strasse und ihre tausend Schlaglöcher auswendig. Immer wieder wird die Fahrt von Checkpoints unterbrochen. Die Autos müssen auf Schritttempo verlangsamen und die jungen Sicherheitskräfte werfen, die Kalaschnikow um die Schulter gehängt, einen Blick auf die Reisenden, winken sie durch. Diese in einem dichten Netz über ganz Rojava verteilten Strassensperren sollen der wichtigsten Waffe des "islamischen Staats" entgegenwirken: Autobomben. Denn auch innerhalb des von den Volksverteidigungseinheiten YPG und YPJ kontrollierten Gebiets gibt es noch zahlreiche IS-Zellen. Insbesondere wenn die Kräfte der YPG/J in wichtigen Operationen gebunden sind, schlägt der IS im Hinterland zu. So detonierte jüngst in Qamishlo ein mit Sprengstoff beladener Lastwagen und riss dutzende Menschen in den Tod.


In Sichtweite von Minbic

Während unseres Besuchs in Rojava toben die Kämpfe um die Stadt Minbic, die mittlerweile vom IS befreit ist. Heval Rengin ist YPJ-Kommandantin und während dieser Operation verantwortlich für die eine Seite der Zangenbewegung, die um die Stadt gezogen wird. Ihr unterstehen neben den Frauenverbänden auch zahlreiche Männerbataillone, arabische ebenso wie kurdische. In Sichtweite der berüchtigten schwarzen Fahnen des IS und immer wieder unterbrochen von Funksprüchen, können wir uns mit ihr unterhalten.

"Die Stadt Minbic ist für den IS vermutlich sogar noch wichtiger als Raqqa" meint sie. Zwar nicht für die Propaganda, dafür aber für die Logistik. Für das Projekt Rojava geht es dabei keineswegs nur um Terraingewinn, sondern, wie Rengin beschreibt, verschränken sich bereits während der Kämpfe militärische Aspekte mit Elementen des Frauenkampfs, des sozialen Aufbaus und der Demokratisierung.

So sei die YPJ während dem langsamen Vordringen ins Stadtzentrum auch für die dabei aus IS-Sklaverei befreiten Frauen zuständig. "Wir schaffen ihnen geschützte Räume, wo wir sie betreuen und wo sie sich selbst organisieren können. Diese schwierige Aufgabe macht die YPJ in Minbic zum ersten Mal." Viele dieser Frauen beteiligen sich später, nachdem der IS aus der Stadt verjagt ist, an dem Minbic Military Council, der den Wiederaufbau und die Verteidigung der Stadt organisieren soll.


Gesellschaftliche Transformation

Neben der militärischen Verteidigung der Autonomie gegen die Barbarei des IS und gegen den Staatsterror der Türkei, versucht die kurdische Befreiungsbewegung den gesellschaftlichen Umwälzungsprozess zu vertiefen. Dieser läuft zwar wie gesagt nicht getrennt vom militärischen ab, hat aber seine eigene Logik und seine eigenen Widersprüche.

Die Gemeinden in Rojava sind geprägt von patriarchalen Clanstrukturen und dem jahrzehntelangen Wirtschaften unter Fremdbestimmung. Einer Kultur durchdrungen von Abhängigkeitsverhältnissen, setzt die revolutionäre kurdische Bewegung ihren Organisierungsprozess entgegen. Mit der Proklamierung der Autonomie Rojavas vor vier Jahren machte dieser Prozess den Sprung von einem klandestinen Geflecht zur treibenden Kraft der Gesellschaft. Als die Schwerpunkte der Transformation können wohl folgende genannt werden: Entwicklung von Rätestrukturen, der Kampf gegen die männliche Dominanz, die Überwindung von ethnischen Spaltungen und der Aufbau einer solidarischen, selbstbestimmten Ökonomie.


Mala Gel - Herzstück der Rätestruktur

In der Stadt Qamishlo hat unsere Delegation die Gelegenheit ein Mala Gel (zu Deutsch: Volkshaus) zu besuchen. Diese Häuser funktionieren als soziale und politische Zentren von Stadtteilen oder Dörfern. Heval Mazlum, der früher in den Bergen Nordkurdistans kämpfte, arbeitet seit dem Verlust seines linken Armes in der Selbstverwaltung.

Als Kern der gesellschaftlichen Auseinandersetzung sieht er die Selbsterkenntnis der Gesellschaft. Es gehe nicht um die angemessene Vertretung des Volkes, sondern darum, dass sich jeder und jede als politisches und soziales Subjekt wahrnimmt und selbst eingreift. Doch weil "die Menschen so lange von oben regiert wurden, braucht eine Veränderung des Bewusstseins Zeit." Aktiv an den Räten beteiligt seien etwa zwanzig von hundert Familien. Aktivist_innen des Mala Gel gehen regelmässig zu Familien des Quartiers nach Hause, übernachten zum Teil auch bei ihnen und lassen sich deren Bedürfnisse erklären, um so auch jene miteinzubeziehen, die nicht in den Komitees vertreten sind.

Frauen, die von der Fremdbestimmung durch den Vater zu jener durch den Ehemann wechselten, erlangen in den Räten plötzlich das Selbstbewusstsein, sich an der Organisierung ihrer Kommune zu beteiligen. Parallel zum gender-gemischten Mala Gel existiert ein Mala Jinê (Frauenhaus), wo sich Frauen autonom organisieren und unter anderem häusliche Gewalt bekämpfen. Gleichzeitig aber, erklärt uns die Vorsitzende des Mala Gel, haben Frauen ausserhalb der Selbstverwaltungsstrukturen meistens immer noch einen äusserst prekären Status.


Der lange Arm der KDP

Die Beteiligung in den Kommunen basiert auf Freiwilligkeit. Wir fragen Mazlum, ob das nicht problematisch sei hinsichtlich einer ungleichen Gesellschaft, wo es auch eine Frage des Privilegs ist, ob überhaupt Zeit für politische Arbeit zur Verfügung steht. Etwas knapp antwortet er, es sei eine Frage des Willens, jede_r könne sich irgendwo etwas Zeit herausnehmen, sei es am Feierabend oder am Wochenende. Er erzählt, dass sich die besser gestellten Familien in der Regel nicht in den Mala Gels beteiligen würden. Die kleinbürgerlichen Gesellschaftsschichten (also etwa Händler oder etwas grössere Landwirte) seien politisch für die Propaganda der irakischen Kurdistan Democratic Party anfällig.

Diese macht das Selbstverwaltungsmodell für die ökonomischen Probleme verantwortlich. Unter dem Einfluss der KDP würde es internationale Investitionen geben - gleichzeitig beteiligt sich die KDP am türkischen Embargo und hält seit März dieses Jahres die Grenzen zu Rojava dicht. Um die Abhängigkeit von Importen zu reduzieren und längerfristig eine andere Produktionsweise zu etablieren, setzt Tev-Dem (Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft, die Dachstruktur der Räte Rojavas.) auf die Förderung von kommunal organisierten Kooperativen. Dafür steht der Bewegung in erster Linie das Land zur Verfügung, das sie dem syrischen Staat enteignet hatte. Die kurdischen Regionen wurden in Assads Syrien als Kornkammer genutzt. Damaskus ordnete eine rigide Getreidemonokultur an: Selbst das Anpflanzen von Obstbäumen für den Eigenbedarf war verboten. "Die Böden Rojavas zählen eigentlich zu den Besten der Welt" wird uns immer wieder gesagt. Der Optimismus ist gross, dass es hier eines Tages Überfluss für alle geben wird.


Klassenkampf auf Sparflamme

Ein wirtschaftlicher Klassenkampf wird nur auf Sparflamme betrieben. Enteignungen gegenüber grösseren LandwirtInnen und Zwangskollektivierungen würden nur die Konterrevolution befeuern, ist Mazlum überzeugt. Damit der Transformationsprozess stabil sei und Tiefe habe, sei ein Bewusstseinswandel unumgehbar. Das Embargo stellt für diesen Wandel gleichzeitig ein Hindernis und einen Schutzraum dar. Einerseits fehlt es an Material, um die Produktion weiterzuentwickeln - so stockt zum Beispiel der Bau einer Zuckerfabrik in Cizire. Andererseits gibt es bisher keine kapitalistischen Investitionen und Akkumulationen. Wichtige Bereiche der Wirtschaft, wie zum Beispiel die Rohölförderung, stehen bereits heute unter Kontrolle der Räte.

Die soziale und ökonomische Umwälzung steckt in Rojava noch in den Kinderschuhen. Da aber der syrische Staat in Rojava eine Politik der Unterentwicklung verfolgt hatte, gibt es heute kaum eine Bourgeoisie. Ausserdem geniesst die revolutionäre Bewegung durch ihre Jahrzehntelange Organisierungsarbeit und durch die Verteidigung gegen die Dschihadisten grosses Vertrauen und sehr breite Unterstützung in der Bevölkerung. Das heisst die sozialen Bedingungen scheinen bis jetzt gegeben, dass sich das System von Kooperativen und Räten weiter entfalten und vertiefen kann.

Trotz all den grossen Fragezeichen und dunklen Wolken der Zukunft: Ein ungemeiner Stolz auf das bisher Erkämpfte, die Hoffnung auf was noch alles kommen möge und der Wille diese Perspektive zu verteidigen sind in Rojava überall spürbar. Unsere Solidarität gilt diesem Kampf.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 86, September/Oktober 2016, Seite 10
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2016

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