Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


AUFBAU/537: Moderne Produktivkräfte und ihre Auswirkungen


aufbau Nr. 93, Mai/Juni 2018
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Moderne Produktivkräfte und ihre Auswirkungen


ÖKONOMIE Viele Namen gibt es für die Zusammenschlüsse in der Wirtschaft zur Förderung moderner Produktivkräfte. Die einen kennen es unter dem Namen Industrie 4.0 andere unter dem Namen IIC aus den USA oder IVI aus Japan.


(gpw) Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Sprünge in der Entwicklung der Produktionsmittel und -methoden immer eine Umwälzung mindestens eines Teils der Gesellschaft nach sich gezogen haben. Ohne Manufakturen wäre die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise, ohne Fliessband die Massenproduktion einiger Waren, und ohne Roboter wäre heute eine rationelle Produktion nicht mehr denkbar. Wie wir noch sehen werden: Jede dieser Entwicklungen führt zur Verbilligung der betroffenen Waren. Auf der anderen Seite gehen Arbeitsplätze verloren, die durch Maschinen ersetzt werden und vom Lohn für einfache Arbeiten kann man kaum noch leben.

Voraussetzung für eine revolutionäre Politik heute ist es, diese Entwicklungen verstehen und einordnen zu können. Nur so gelangen wir zu einem Verständnis der Auswirkungen auf das Proletariat, das Kleinbürgertum und die Bourgeoisie.

Einige neuere Auswirkungen dieser Entwicklung springen ins Auge, z.B. wenn Brücken mit dem 3D-Drucker hergestellt oder ein Amazone-Laden in den USA vollkommen ohne Verkaufspersonal auskommt. Die verschiedenen Kapitalfraktionen haben solche Entwicklungen längst zum Programm erhoben. Unterschiedlich dabei ist hauptsächlich die Reichweite der Zielsetzung. Während Industrie 4.0 weit in die Zukunft gerichtet ist und hauptsächlich die Produktion betrifft, legen die Verbände IIC (Industrial Internet Consortium) und IVI (Industrial Value-Chain Initiative) das Hauptgewicht auf die schon heute umzusetzenden Möglichkeiten, sowohl in der Produktion, wie auch in der Verteilung bis hin zum Verkauf, wie beim Amazone-Laden ersichtlich ist. Gleichzeitig hat auch China eine ähnliche Initiative ergriffen.

In ihrem Wesen sind diese Programme und die sie pushenden Verbände gleich. Alle haben zum Ziel, die neuen Technologien in den verschiedenen Sektoren einzuführen und so den Konkurrenzkampf für sich zu entscheiden oder, wenn das nicht gelingt, wenigstens zu überleben. Zurückbleiben bedeutet Untergang. Diese Entwicklung verschärft einmal mehr die Konkurrenz zwischen den einzelnen Konzernen und vor allem auch zwischen den Kapitalfraktionen, was der Grund dafür ist, dass ihre Verbände und Forschungsgemeinschaften national organisiert sind.


Konzentration der Produktion

Je höher die Produktivkräfte entwickelt sind, desto grösser werden die Investitionen, die für die Besitzenden notwendig sind, um weiterhin zur Bourgeoisie bzw. zum Kleinbürgertum zu gehören. Dies hat direkte Auswirkungen auf alle Klassen. Um es gleich vorweg zu nehmen: Das Kleinbürgertum hat infolge der rasanten Entwicklung der Produktivkräfte am meisten zu verlieren. Nicht dass wir den Kleinbürgerinnen nachweinen, doch bildet das in seiner Existenz bedrohte Kleinbürgertum eine Massenbasis für die reaktionären politischen Kräfte. Deshalb sind diese Entwicklungen für unsere Politik wichtig.

Viele KleinbürgerInnen können sich nach wie vor in einer Nische verkriechen und dort ihre Existenz sichern, doch werden sie - wie auch die kleinen KapitalistInnen - immer abhängiger von den grossen Konzernen. Sie binden ihre ganze Produktion vertraglich an die Grossen, so dass sie jederzeit fallen gelassen werden können, oder ihre Produktion vollkommen den kontrollierenden Konzernen anpassen müssen. Beides unterbindet die Unabhängigkeit, auf welche die KleinbürgerInnen so stolz sind.

Die Konzentration der Produktion in immer grösser werdenden Konzernen geht damit Hand in Hand mit dem Überleben des Kleinbürgertums auf Kosten von dessen "Freiheit". Wenn wir uns z.B. den Autohersteller Audi vor Augen führen, der in sein Werk in Ungarn um die acht Milliarden Euro gepumpt hat, wird klar, dass kleine und mittlere Unternehmen nicht mithalten können.

Dies führt die viel beschworene freie Konkurrenz ad absurdum und zeigt, dass diese Konkurrenz hauptsächlich zwischen den grossen Konzernen und den verschiedenen Kapitalfraktionen ausgetragen wird. Die KleinbürgerInnen sind hier ein Anhängsel, das einmal überlebt und ein andermal untergeht, heute in der Produktion nützlich und morgen überflüssig ist.


Die Kapitalakkumulation stockt

Die ganze Entwicklung ist vor dem Hintergrund der chronischen Kapitalüberproduktionskrise zu analysieren. Diese zeigt sich darin, dass in den traditionellen Wirtschaftssektoren zu viel Kapital investiert worden ist: Zu viele Automobilfabriken, zu viele Hersteller von Waschmaschinen und Fernsehgeräten etc.

Die Durchschnittsprofitrate in diesen Sektoren ist so stark gesunken, dass eine weitere Akkumulation von Kapital keinen zusätzlichen Profit mehr abwerfen kann. Akkumulation heisst ja nichts anderes als ausgepressten Profit für die Erweiterung einer Produktion zu investieren, um noch Profit zu machen. Daher stockt die Kapitalakkumulation, welche der Selbstzweck der kapitalistischen Produktionsweise ist.

Deshalb muss das Kapital fieberhaft neue Wirtschaftssektoren finden oder die Produktionsbedingungen in den alten fundamental umwälzen. Solche Umwälzungen gab es in der Geschichte immer wieder: vom Handwebstuhl zum dampfgetriebenen Webstuhl, von der Postkutsche zum Automobil, von der Manufaktur zum Fliessband. "Industrie 4.0" deklariert die laufenden Entwicklungen in Digitalisierung und Automatisierungen zur herbeigesehnten nächsten "industriellen Revolution".

In den neuen oder modernisierten Wirtschaftszweigen entstehen zwar Extraprofite für die dort aktiven KapitalistInnen, aber das funktioniert nur für eine gewisse Zeit. Und diese Zeit wird immer kürzer. Wenn alle modernisiert haben, werden auch die neuen Produktionssektoren zu traditionellen, in denen die Profitrate gesunken ist, nicht mehr profitabel akkumuliert werden kann und zusätzlich beschäftigte Arbeitskräfte wieder wegrationalisiert worden sind. Der gegenwärtige kleine Aufschwung wird voraussichtlich durch einen umso heftigeren Kriseneinbruch abgelöst werden.

Alle "industriellen Revolutionen" führen zu einem sprunghaften Anstieg der Produktivkraft: Mit immer weniger menschlicher Arbeit können immer mehr Gebrauchswerte zu jeweils sinkenden Stückpreisen hergestellt werden. Dadurch verbilligt sich das was wir an Konsumgütern brauchen, um unsere Arbeitskraft und die unserer Nachkommen zu reproduzieren, es verbilligt den "Warenkorb". Es geht den Bourgeois also darum, den Wert des Warenkorbs niedrig zu halten, so dass möglichst viel Gratisarbeitszeit aus der Arbeitskraft herausgepresst werden kann.


Ausbeutung als wissenschaftlicher Begriff

Ein Mittel dazu ist der Kapitalexport, also die Verlagerung der Produktion ins Ausland, wo die Arbeitskräfte billiger sind. Wenn dadurch die Produktion eines Fernsehers billiger wird, fällt dementsprechend der Wert des Warenkorbs der hier ansässigen Arbeitskräfte. Den Gegenwert der Waren im Warenkorb - die wir mit unserem Lohn kaufen - produzieren wir deshalb in einem kürzer werdenden Teil unserer Arbeitszeit. Das heisst nichts anderes, als dass wir länger gratis für die KapitalistInnen arbeiten, dass wir also stärker ausgebeutet sind. Diesen Mechanismus spüren wir aber nicht direkt, sondern er findet gleichsam "hinter unserem Rücken" (Marx) statt - anders als die direkten Angriffe auf unsere Arbeits- und Lebensbedingungen infolge der neoliberalen Wirtschaftspolitik oder der Gentrifizierung.

Es ist wichtig, den Begriff Ausbeutung als das zu verstehen was er ist, nämlich als wissenschaftliche Definition der Höhe des Mehrwerts, das ein Mitglied der proletarischen Klasse für das Kapital abwirft. Zwar erscheint es uns immer so, also ob ein Mitglied des Proletariats, das untergeordnete Arbeit leistet, von einem einzigen Job nicht mehr leben kann, sondern mehrere hierzu benötigt und sich jeden Moment durchkämpfen muss, stärker ausgebeutet sei, als ein hoch qualifiziertes Mitglied mit besserer Bezahlung, das sich vielleicht nicht einmal als all zu sehr von der Ausbeutung betroffen sieht. Dies trifft aber nicht das Wesen der Ausbeutung.

Der Grad der Ausbeutung wird definiert über die geleistete Arbeitszeit, die wir gratis für den Eigentümer eines Betriebs arbeiten, im Vergleich zur Arbeitszeit, die wir für die Produktion des Gegenwertes unseres Lohnes brauchen. Diese Gratisarbeit ist beim Ingenieur bei Samsung oder Apple viel höher als bei der Köchin im Migros-Restaurant; bei einer Biologin der Roche höher als beim Kellner im Mövenpic.

Es ist also kein Zufall, dass milliardenschwere Konzerne nicht durch die Ausbeutung von Putzpersonal leben, sondern durch die Ausbeutung von ArbeiterInnen, die hochkomplexe Arbeiten durchführen. Die Entwicklung von Medikamenten, Robotern, Software oder anderen hochentwickelten Produktions- und Konsumptionsmitteln bilden die hauptsächliche Quelle der Profite dieser Konzerne.

*

Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

*

Quelle:
aufbau Nr. 93, Mai/Juni 2018, Seite 10
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang