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CORREOS/056: Guerrero/Mexiko - Sozialer Krieg und die Praxis des Verschwindenlassens


Correos des las Américas - Nr. 156, 22. Dezember 2008

MEXIKO
Guerrero: Sozialer Krieg und die Praxis des Verschwindenlassens

Von Philipp Gerber


Guerrero, der Nachbarstaat Oaxacas in Südmexiko, hat eine Geschichte harter Auseinandersetzungen und Kriminalisierung des sozialen Protests. Und die aktuellen Entführungen von AktivistInnen deuten auf eine Verschärfung des Klimas hin.


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10.12.2008. Seit einer Woche ist ein wichtiger Zeuge im Mordfall Digna Ochoa spurlos verschwunden. Alles deutet darauf hin, dass der unbequeme Öko-Aktivist von Armee und/oder Drogenhändlern aus dem Weg geschafft wurde. Denn der junge Indigena Javier Torres hat geschafft, was niemand mehr für möglich hielt: Seine mutige Aussage führte im September 2007 zur Wiedereröffnung der Untersuchung über die Ermordung der Menschenrechtlerin Digna im Jahre 2001. Die Behörden von Mexiko Stadt schlossen vor Jahren die Untersuchungen mit dem Fazit ab, dass sich Digna selbst umgebracht habe - mit zwei Schüssen und Kampfspuren im Büro. Und kurz nach einer Reise nach Guerrero, wo sie AktivistInnen verteidigte, die sich gegen die illegale Abholzung in der Sierra Petatlán zur Wehr gesetzt hatten und darauf im Gefängnis landeten.


"Guerrero bronco"

Dass der Bundesstaat Guerrero mit seiner heruntergewirtschafteten Touristenstadt Acapulco ein äusserst gefährlicher Ort ist für soziale Aktivisten, das ist selten Thema. Warum eigentlich? Zu unbequem die sozialen Realitäten, zu gefährlich für Recherchen vor Ort, zu wenige koloniale Ruheoasen zur Erholung der NGO-MitarbeiterInnen? Im staubtrockenen "Guerrero bronco" feiert das ruchlose Kazikentum Urständ. Seit dem 19. Jahrhundert sind "sozialer Krieg und militärische Okkupation die Lebensbedingungen, zumindest in den Regionen der Sierra", so der Soziologe Armando Bartra, engagierter Kenner der Region.

In den 1970er-Jahren war in der weitläufigen Sierra (Bergkette) von Guerrero die Guerillas von Lucio Cabañas und Genaro Vázquez aktiv und zählten auf die Unterstützung weiter Teile der verarmten Bevölkerung. Die Armee reagierte mit Massakern, insbesondere aber mit dem Verschwindenlassen vermeintlicher oder tatsächlicher Guerilla-UnterstützerInnen aus den sozialen Organisationen. Alleine in Guerrero sind für die 70er und 80er Jahre über 500 "Desapariciones", also Fälle gezielten Verschwindenlassens, dokumentiert. Die Militärs in Guerreo standen der Brutalität Pinochets in denselben Jahren in Chile in nichts nach. Ein erster dieser Fälle aus den siebziger Jahren wird seit Kurzem vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica verhandelt.


Entführung, Folter, Verschwindenlassen

Übel der Vergangenheit? Weit gefehlt: Während der Präsidentschaft von Vicente Fox, also von 2000 bis 2006, haben lokale Organisationen 32 Verschwundene gezählt. Alles Personen, die in sozialen Bewegungen aktiv waren. Und auch heute ist dieses hinterhältige Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine übliche Praxis im Hinterland der mexikanischen Oligarchie: So verschwanden am 27. November Máximo Mojica, seine Ehefrau María de los Angeles Hernández Flores sowie Santiago Nazario Lezma spurlos. Alle drei sind Mitglieder der Organisation "Tierra y Libertad" in der politisch unruhigen Gegend Tierra Caliente. Diese Organisation fordert städtischen Lebensraum. Máximo Mojica wurde schon einmal 2001 entführt, beinahe zu Tode geprügelt und nach 16 Tagen in einem [...] aufgefunden. Dieses Verbrechen wurde im Zusammenhang mit einer Landbesetzung für den Bau von Hütten begangen, an der Máximo teilnahm.

Nach intensiver Berichterstattung in der lokalen und nationalen Presse über den "Levantón" (ein "Levantón" ist eine Entführung ohne Lösegeldforderungen) durch Vermummte in Uniformen der Sondereinheit AFI tauchten die drei zweieinhalb Tage später auf, in Polizeigewahrsam, mit Folterspuren. Die Folter der Gefangenen wurde von den sozialen Organisationen Guerreros genau dokumentiert. Grausame Ironie des Schicksals: Am 28. November begannen diese Organisationen gerade die Weiterbildung zu "Prävention und Dokumentation von Folter", welche das CCTI (Colectivo contra la Tortura y la Impunidad) an der Universität von Acapulco durchführt.

Die drei Gefangenen aus Teloloapan, der nördlichen Region Tierra Caliente, sehen sich von der Staatsanwaltschaft mit dem Vorwurf konfrontiert, sie gehörten der Guerilla ERPI an und seien für drei Entführungen (in zwei verschiedenen Regionen Guerreros) verantwortlich. Bezeichnend, dass der Haftbefehl von Mojica auf den Tag der Präsentation des Gefangenen datiert. Die Guerilla sowie die sozialen Organisationen, inklusive der PRD Guerreros, bestreiten die Vorwürfe und verlangen vom PRD-Gouverneur Zeferino Torreblanca die Freilassung der drei AktivistInnen. Máximo Mojica ist übrigens neben seiner Tätigkeit in "Tierra y Libertad" auch Mitglied der PRD und pensionierter Lehrer. Die Lehrerschaft Guerreros befindet sich seit Monaten in einer Mobilisierungsfase gegen die neoliberale Reform ACE zur sogenannten "Qualitätsverbesserung" der Bildung.

Ein sozial engagierter Mittsechziger soll zusammen mit seiner Ehefrau Entführungen für die Guerilla organisieren? Ein typisches Konstrukt im Rahmen der Kriminalisierung der sozialen Bewegungen, welche die galoppierende Legalisierung von Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des "Kampfes gegen die organisierte Verbrechen" der Regierung Calderón hervorbringt. 113 Jahre Gefängnis bekam wegen Festhaltens eines Beamten der Anführer des sozialen Protestes in Atenco, die Todesstrafe für Entführer wird ernsthaft gefordert, ja in einem Bundesstaat bereits eingeführt...

Doch weshalb wird in Guerrero auch heute noch die Guerilla ins Spiel gebracht? Bei einem kürzlichen Besuch in Guerrero wurde dem Autor klar: Es ist ein "secreto a voces", also ein offenes Geheimnis, dass die Guerrilla ERPI in weiten Teilen der ländlichen Regionen genauso präsent ist wie die Narco-Mafias meisten Städten. Das ERPI (Ejército Revolucionario del Pueblo Insurgente) spaltete sich Ende der Neunziger Jahre von der EPR ab, da es deren vertikalen Organisationsstil verurteilte. Im Gegensatz dazu verficht die bekannteste, aber wohl nicht einzige Guerillagruppe Guerreros eine basisnahe Politik im Sinne der Selbstverteidigung der Gemeinden, ähnlich derjenigen der EZLN, trat aber bisher nicht mit militärischen Aktionen an die Öffentlichkeit.


Javier Torres, seit einer Woche verschwunden

Doch momentan treibt das Schicksal des eingangs erwähnten Javier Torres die sozialen Bewegungen von Guerrero um: Er gehört der "Organización Ecologista de la Sierra de Petatlán y Coyuca de Catalán" an, die sich gegen die klandestine Abholzung wehren. Javier wird seit dem 3. Dezember vermisst. Dem voran gingen ein Mordversuch am 4. Mai in der Stadt Iguala, ein siebenstündiger Überfall von 200 Militärs auf seine Gemeinde La Morena am 13. November, wo Frauen und Kinder misshandelt und Wertsachen gestohlen wurden, und am 18. November fand ebendort eine Polizeiaktion statt.

Am 3. Dezember erhielt Javier einen Anruf, eines seiner Kinder sei in Petatlán schwer erkrankt. Sofort machte er sich auf den Weg nach Petatlán, rief unterwegs um 18:40 Uhr seine Schwester an, die in diesem Bezirkshauptort lebt, doch das Telefongespräch brach abrupt ab und es waren Geräusche zu hören, als ob das Telefon weggeworfen wurde. Keines der Kinder ist tatsächlich erkrankt und Javier kam nicht in Petatlán an, worauf die Angehörigen die 50 km lange Wegstück nach ihm und seinem Auto absuchten, vergebens. Daraufhin machten sie das Verschwinden von Javier publik.

Javier und seine beiden Brüder haben es gewagt, den einflussreichsten Kaziken der Region anzuklagen: Rogaciano Alba Alvarez, ehemaliger Bürgermeister von Petatlán, ehemaliger Präsident der Viehzüchtervereinigung Guerreros, im illegalen Holzdeal ebenso drin wie im Drogenhandel. Ein erster Indigener, der die Machenschaften des Alba Alvarez denunzierte, wurde 1999 ermordet. 2001 verteidigte dann die mutige und bekannte Menschenrechtsanwältin Digna Ochoa aus Mexiko-Stadt die Gefangenen der Ökoaktivistenorganisation von Petatlán. Was ihr wohl zum Verhängnis wurde.

Wer steckt hinter der Entführung von Javier? Gemäss einem Comuniqué des ERPI vom 9.12. wurde Javier "durch Militäreinheiten der Kaserne von Petatlán zum Verschwinden gebracht, die im Dienste von Roganciano Alba stehen, bekannter Drogenhändler und Protegé des Katziken Rubén Figueroa sowie des Herrn Gouverneur [Zeferino Torreblanca, PRD]". Ähnlich sehen das die AktivitstInnen des CCTI: Bertoldo Martínez Cruz, lokaler Koordinator des CCTI, betont, dass Javier die "obskuren Beziehungen" zwischen Alba und dem Militär öffentlich denunzierte. "Wir machen für sein Verschwinden die bundesstaatliche und die föderale Regierung verantwortlich". Mit diesem Verbrechen werde "die Kriminalisierung des sozialen Kampfes bestätigt".


Narcopolitiker kämpfen um Geschäftsanteile

Roganciano Alba, dieser mächtige Lokalfürst der Costa Grande, war letztmals im Sommer 2008 in den Schlagzeilen: In zwei konzertierten Angriffen auf sein Leben - bei einer Versammlung der Viehzüchtervereinigung und in seinem Haus - starben innerhalb von wenigen Stunden 17 Personen. Er selber entkam den blutigen Anschlägen konkurrenzierender Mafias unverletzt und ist seither in die Klandestinität abgetaucht.

Albas Konkurrenten im selben Geschäftsfeld treten in den letzten Tagen massiert an die Öffentlichkeit: Landesweit, aber insbesondere in Guerrero tauchen Dutzende von sogenannten "Narcomantas" an Strassen und Brücken auf, Transparente voll gekritzelt mit Hinweisen und Anklagen. Ihr gemeinsamer Tenor ist, dass Politik, Polizeihierarchie und Teile der Militärs einen Teil der Narcomafia (das Kartell von Sinaloa mit El Chapo Guzman sowie Ismael El Mayo Zambada) schütze - und unfairerweise nur die anderen attackiere. Die sich dann mit ihrem Insiderwissen so an die Öffentlichkeit wenden. Eine vielleicht zweifelhafte Quelle, aber auf jeden Fall eine sehr erfolgreiche Kommunikationsstrategie des mafiösen Untergrunds. In Guerrero denunzieren die sich benachteiligt fühlenden Mafiagruppierungen in ihrer Bettlakenpost konkret die Zusammenarbeit des Militärs mit Roganciano Alba.

Es ist zu hoffen, dass Javier Torres wieder lebendig auftaucht, denn "mit dem Verstreichen der Stunden reduziert sich die Möglichkeit, dass das Militär den Jungen lebendig präsentiert", so der CCTI-Aktivist Bertoldo. Denn es ist lebensgefährlich, sich mit den Kaziken anzulegen, egal, in welcher sozialen Schicht man sich bewegt. Das hat die Ermordung der international bekannen Menschenrechtlerin Digna Ochoa ebenso gezeigt wie der "Raubmord" am Anthropologen Miguel Ángel Gutiérrez Ávila. Dieser untersuchte nicht nur die pittoresken Tänze der Amuzgos an der Costa Chica (in der Grenzregion zu Oaxaca), sondern schrieb auch ein Buch über die "Despoten und Katziken" der Region. Und er unterstützte auch das autonome indigene Lokalradio Nomndaa. Als die Beschlagnahmung des bewilligungsfreien Radios durch die Polizei im Juli 2008 am entschiedenen Widerstand der Dorfbevölkerung scheiterte, dokumentierte Miguel Ángel wenige Tage darauf diesen Überfall mit seiner Videokamera. Auf der Heimreise wurde er gemäss den Behörden bei einem normalen Raubüberfall ermordet. Einziger entwendeter Gegenstand: die Videokamera mit den Zeugenaussagen.


Philipp Gerber ist Mitarbeiter bei medico international schweiz, welche die Arbeit des CCTI zur Prävention und Dokumentation von Folter in Guerrero unterstützt .


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 156, 22. Dezember 2008, S. 19-20
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Februar 2009