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CORREOS/078: Guatemala - Vom Mythos des Hungers


Correos des las Américas - Nr. 159, 28. Oktober 2009

Vom Mythos des Hungers

Von Barbara Müller


"Es gibt kein Land in der Welt, in dem sich die Bevölkerung nicht von ihren eigenen Ressourcen ernähren könnte. Aber Hunger kann nur durch eine Veränderung der sozialen Verhältnisse überwunden werden. Er wird verschlimmert durch das kurzsichtige Bestehen auf technischem Input zur Steigerung der Produktion."

Anne-Marie Holenstein im Vorwort des Buches von Joseph Collins und Frances Moore Lappé "Vom Mythos des Hungers", Fischer Verlag, 1978


In Guatemala herrscht Hunger. Eine Tatsache, an der es nichts zu rütteln gibt angesichts der Tausenden von Kindern (übrigens auch Frauen und Männer aller Altersstufen), die landesweit an Unterernährung leiden. Eine Unterernährung, die zu gesundheitlichen Schäden bzw. zunehmend zum Tod führt.

In Guatemala herrscht Armut. Auch darüber muss man sich nicht streiten, wenn man die Statistiken anschaut: Rund 65% der Bevölkerung lebt in Armut, 15% davon gar in extremer Armut. Der grösste Teil dieser Menschen lebt auf dem Land und ist indigener Herkunft.

Hunger in Guatemala ist nichts Neues. Die Situation des "zuviel zum Sterben und zuwenig zum Leben" hat bereits ganze Generationen von GuatemaltekInnen dazu gezwungen, sich in Leibeigenschaft zu begeben, zu arbeiten für einen - im wahrsten Sinne des Wortes - "Hungerlohn", zu den Waffen zu greifen und sich gegen das System aufzulehnen, den Weg in die Migration als einzigen Ausweg auch der perspektivenlosen Situation zu wählen etc. Die GuatemaltekInnen sind erfindungsreich, wenn es darum geht, zu überleben.

Vielleicht hat die aktuelle Hungersnot ein Ausmass angenommen, wie es in der jüngeren Geschichte des Landes noch nie vorgekommen ist. Aber unabhängig von den sich verschlechternden Statistiken und den Superlativen, die gebraucht werden, um die Situation zu beschreiben: Jedes wegen Hunger erkrankte oder tote Kind ist ein erkranktes oder totes Kind zuviel. Die Art, wie die guatemaltekische Regierung, die Medien, die internationale Gemeinschaft reagieren, ist zynisch und zeigt, dass Hunger auch ein eminent politisches Thema ist, das gerne und je nach dem eigenen Geschmack gewürzt wird.


Politischer Hunger

Der Hunger ist nicht vom Himmel gefallen. Die Regierung von Alvaro Colom war sich der Situation sehr wohl bewusst. Erst noch im Juni dieses Jahres überprüfte das Sekretariat für Ernährungssicherheit (SESAN) die Lebensmittelsicherheit und kam zum Schluss, dass diese in keiner Weise gewährleistet sei und dass sofort gehandelt werden müsse. Der Vorsitzende Juan Aguilar, der inzwischen "aus gesundheitlichen Gründen" seinen Posten aufgegeben hat, gab zu, dass die Regierung unfähig war, diese Krise vorzubeugen. Trotz allem liess das Gesundheitsministerium den ganzen August über verlauten, dass es in Guatemala keine Hungersnot gebe und auch keine schlimme Unterernährung, da laut einer Studie an 13.000 Minderjährigen nur 0,89% unterernährt seien und nicht die 10%, die von der WHO als Kriterium für Hungersnot angegeben werden. Demnach werde auch kein Notstand ausgerufen, welchen die Kooperationsländer aber benötigt hätten, um Guatemala Hilfe zukommen lassen zu können. Nachdem über zwei Dutzend Kinder verhungert waren, blieb Präsident Alvaro Colom jedoch nichts anderes mehr übrig, als am 9. September den nationalen Notstand auszurufen. "Es gibt genügend Lebensmittel, aber die Betroffenen haben nicht das Geld, um sie zu kaufen", erklärte Colom.

Während der ersten acht Monate dieses Jahres haben die Geldsendungen von GuatemaltekInnen, die im Ausland leben, im Vergleich zum Vorjahr um rund 10% abgenommen - Auswirkung der Finanzkrise und der internationalen Migrationspolitik. Statistiken der Internationalen Organisation für Migration (IOM) belegen, dass die meisten dieser "Remesas" in die Familienökonomie (Nahrung, Bildung, Gesundheit, Wohnen) fliessen. Ein Rückgang dieser Gelder schlägt sich also in einer Prekarisierung der sozialen Sicherheit nieder.

"Die Erklärung des Notstands erlaubt es uns, internationale Hilfe in Anspruch zu nehmen und auch in unserem eigenen Haushalt schnell Mittel frei zu machen," sagte Colom in einer Radio- und Fernsehansprache. Genau das aber wollte Colom eigentlich vermeiden, weil dies die Arbeit seiner Frau Sandra Torres in Frage stellt. Diese leitet ein soziales Ministerium, deren Vorzeigeprogramm "Mi Familia progresa" zur Hunger- und Armutsbekämpfung mit grossem Werbeaufwand begleitet wird und das eines der wenigen bisher erfolgreichen Projekte der neuen Regierung ist. KritikerInnen bemängeln, das Programm diene letztlich nur dazu, die Präsidentengattin mit öffentlichkeitswirksamen Lebensmittelverteilungen als Kandidatin für die Nachfolge Coloms aufzubauen. Wenn man dieser These glaubt, versteht man auch, weshalb die GegnerInnen Coloms keinen Aufwand scheuen, das Thema des Hungers als weiteren Anlass zu nutzen, die Regierung zu diskreditieren. (Im Mai dieses Jahres war es die Ermordung des Anwalts Rosenberg, welche den Präsidentensessel ins Wanken, aber nicht zum Kippen brachte.)

Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die letzte "Hungersnot" - die unter dem Namen der Gemeinden Jocotán und Camotán in die Geschichte einging - unter der Regierung von Alfonso Portillo "stattfand", einem Haudegen, der sein Heu nicht auf der gleichen Bühne wie die Handelskammer und die Oligarchie hatte. Derweil die darauffolgende unternehmerfreundliche Regierung unter Oscar Berger keine Hungersnot "zu erleiden" hatte: es war 2005 der unvorhersehbare Hurrikan Stan gewesen, der die Unfähigkeit der Regierung, auf Katastrophen zu reagieren, blossgelegt hatte. Dies wurde jedoch durch eine Medienkampange relativ erfolgreich kaschiert, was nicht heisst, dass die Menschen von Santiago Atitlán, die unter einer Schlammlawine begraben wurden, heute aus den Plastik-Provisorien in neue Häuser hätten umziehen können.


Wirtschaftlicher Hunger

"Hungrig, aber wettbewerbsfähig!" titelte die Tageszeitung Siglo XXI am 9. September die Meldung, dass Guatemala im globalen Wettbewerbs-Ranking um vier Ränge gestiegen ist. Guatemala hat jedoch als Folge seiner marktwirtschaftlichen Wettbewerbspolitik die Ernährungssouveränität verloren. Zwischen 2007 und 2008 hat sich die Anbaufläche für Mais und Bohnen um 40% reduziert zugunsten von exportorientierter Produkte wie Zucker, Kardamom, Banane und afrikanischer Palme. Sukzessive wurde innert ein paar Jahren auch das staatliche Förderprogramm für Landwirtschaft (SPA) abgebaut, das den BäuerInnen technische Unterstützung, Kleinkredite und Vertriebsmöglichkeiten vermittelte - bis zur gänzlichen Abschaffung.

Einige Dörfer der Gemeinden Jocotán und Camotán haben gemeinsam am 5. September ein Communiqué veröffentlicht, in dem sie sich gegen den Bau eines Wasserkraftwerkes wehren, weil sie die Zerstörung bzw. Enteignung ihres Landes und die Vertreibung von ihrem Gemeinschaftsland befürchten. In diese beiden Gemeinden wurde im Namen der Bekämpfung des Hungers im Jahr 2005 Millionen von Quetzales in Projekte und Hilfsprogramme gesteckt. So viel zur Nachhaltigkeit von Notfallprogrammen. Bezeichnend zum Thema "in unserem eigenen Haushalt schnell Mittel frei machen" ist auch die Tatsache, dass das Staatsbudget für 2010, das dieser Tage vom Kongress zur Vernehmlassung vorgelegt wurde, die während der Regierung Colom vorgesehene Senkung der Ausgaben des Landwirschaftministeriums einhalten und durchziehen will.


"Der Zufluss an öffentlichen Geldern mit dem Ziel der Produktionssteigerung hat die Landwirtschaft zu einem Ort der Profitmacherei degradiert. Mitprofitieren kann jedoch nur, wer über eine bestimmte Kombination von Land, Geld, Zugang zu Krediten und politischen Einfluss verfügt. Der Grossteil der Landbevölkerung bleibt, weltweit gesehen, davon ausgeschlossen."

Joseph Collins und Frances Moore Lappé "Vom Mythos des Hungers", Fischer Verlag, 1978


Reiner Wein

Vom 3. bis 5. September besuchte der UNO-Sonderbeauftragte für Nahrungssicherheit, Olivier de Schutter, Guatemala. Es handelte sich um einen Folgebesuch seines Vorgängers Jean Ziegler im Jahr 2005 und diente der Informationsbeschaffung für den Bericht, der im März 2010 dem Menschenrechtsrat vorgelegt werden soll.

De Schutter nimmt in seinem Vorbericht kein Blatt vor den Mund. Seine erste Betrachtung widmete er dem Sozialprogramm "Mi Familia progresa" der Präsidentengattin Sandra de Torres. Er fordert mehr Einbezug der Menschenrechtsprinzipien, eindeutigere Auswahlkriterien für die Begünstigten, deren Einbezug in die Ausgestaltung des Programms sowie Reklamationsmechanismen für diejenigen, die vom Programm ausgeschlossen sind. Mit anderen Worten: Transparenz und Partizipation.

Weiter bemängelt er, dass im laufenden Jahr die Staatseinnahmen durch Steuern nur 9,9% statt der in den Friedensabkommen festgelegten 12,5% des Bruttoinlandproduktes ausmachen. Der Grund, weshalb dieses und viele Abkommen nationaler oder internationaler Art sowie die nationale Gesetzgebung nicht durchgesetzt werden, sieht er in der Schwäche und im mangelnden Entscheidungs- und Durchsetzungsvermögen des Kongresses. (Tatsächlich wird die Verabschiedung der entsprechenden Gesetze von der Rechten innerhalb des Kongresses, welche den guatemaltekischen Wirtschaftssektor vertritt, systematisch blockiert.) Dem Kongress legt er denn auch die Beratung über eine neue Agrarpolitik nahe, die eine Umverteilung des Landbesitzes beinhaltet. Dafür nimmt er Begriffe in den Mund wie zum Beispiel "Enteignung brachliegender Ländereien" - ein Tabu in der guatemaltekischen Regierungspolitik seit der durch die CIA unterstützten Konterrevolution niedergeschlagenen Landreform der Präsidenten Arévalo und Arbenz (1944 - 1954).

De Schutter sieht zwei Möglichkeiten, um dieser und einer zukünftigen Lebensmittelmittelkrise in Guatemala zu begegnen: Erhöhung der Produktionskapazität und Rückstellungen für Krisenzeiten. Denn genau das Fehlen von Reserven hätten den Präsidenten gezwungen, den Notstand auszurufen. "Es ist nicht normal, dass man den Notstand ausrufen muss, um den Sozialfonds Gelder zukommen zu lassen", erklärt er und versichert weiter: "Die guatemaltekische Elite hat einen sehr kurzsichtigen Blick wenn sie glaubt, die Wirtschaft könne prosperieren, solange die Hälfte ihrer Kinder unterernährt ist".


Und die internationale Kooperation?

Die Hunderte von internationalen Nichtregierungsorganisationen in Guatemala haben seit Jahren ein Vermögen in die Bekämpfung des Hungers gesteckt. Zwischen 1996 - 2006 (quasi als Zugabe für die Unterzeichnung der Friedensabkommen) erhielt Guatemala $3.4 Milliarden an offizieller Entwicklungshilfe. $219 Millionen davon gingen in den Produktivsektor, $163.4 Millionen in die Wald- und Landwirtschaft und in die Fischerei. Die eigentliche Lebensmittelhilfe ist dabei nicht mitgezählt.

Die aktuelle Nahrungsmittelkrise ist Zeichen eines kollektiven Versagens diverser Akteure: Regierung, Zivilgesellschaft, internationale Zusammenarbeit und Nichtregierungsorganisationen. Es wäre zu einfach, die Verantwortung an nur einen Akteur zu delegieren. Es stellt sich aber die Frage, weshalb diese Unterstützung nicht erfolgreicher war.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 159, 28. Oktober 2009, S. 24-25
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. November 2009