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CORREOS/084: Warnung vor den Hungernden


Correos des las Américas - Nr. 160, 21. Dezember 2009

Warnung vor den Hungernden
Landnahme, "Erntesteigerung", Agrarproletarisierung - moderne Techniken des Mordes.
Die TäterInnen argwöhnen, ihre Opfer werden sich wehren.

Von Dieter Drüssel


Das "ungelöste", gar zunehmende "Hungerproblem" wird nach den Hungerrevolten 2007/2008 erneut zum Thema im Mainstream. So teilte Josette Sheeran, Leiterin des UNO-Welternährungsprogramms, kürzlich mit, dass in den letzten zwei Jahren die Zahl der täglich Hungernden auf der Welt um 200 Millionen Menschen gestiegen sei (NZZ. 27.10.09). Wie viele andere versichert auch sie, dass zwar in der letzten Zeit die Nahrungsmittelpreise in den Metropolen gesunken, in den "Schwellenländern" aber deutlich gestiegen seien. Wo bekanntlich die Armutsbevölkerung bis zu 80 Prozent ihres Einkommens für die tägliche Nahrung ausgibt.

Hinter der erneuerten Aufmerksamkeit für das Phänomen des kapitalistischen Massenmordes versteckt sich nicht Solidarität, sondern das neue Angriffskommando. Einen harmlos daherkommenden Eindruck davon vermittelt uns die NZZ in ihrem Bericht zum "Krisenmanagement des Bundes bei Entführungen im Ausland". Für den Krisenstab des EDA "haben die hohen Nahrungsmittelpreise nach wie vor ein grosses Konfliktpotenzial, das die Auslandschweizer in Gefahr bringen könnte. Seit 2008 seien nur die Weltmarktpreise gefallen, nicht aber jene auf den lokalen Märkten, besonders in Afrika. Die Zahl der Menschen, die chronisch unter Hunger litten, sei auf eine Milliarde geklettert, zitiert [EDA-Kader] Dussey die Schätzungen des Welternährungsprogramms" (NZZ, sig. 6.4.09: Chaostheorie in der Praxis).

Während also Bundesrätin Doris Leuthard, erbärmlich wie gewohnt, anlässlich der in Genf gerade gescheiterten WTO-Konferenz die Freihandelskeule gegen Schweizer BäuerInnen schwingt mit der enormen Lüge, damit ausgerechnet die "indischen Bauern" zu begünstigen, nimmt man im Amt nebenan die also Beglückten präventiv ins Visier. Der laut NZZ hohe "Bereitschaftsgrad" in Dutzenden von Schweizer Botschaften punkto - nota bene - "Konfliktpotenzial" einer Milliarde Hungernder hat wohl weniger mit der Rettung von Schweizer TouristInnen vor dem Kannibalismus Dunkelhäutiger zu tun als vielmehr mit der Vorbereitung auf wahrscheinliche Grossrevolten. Was, wenn es Hungernden einfällt, Syngenta die Saatgutmonopolrente zu verweigern? Oder den Operateur von Nestlé am weiteren sanften Morden zu hindern? Oder die von Swiss Re mitgesponserte Wasserprivatisierung zu bekämpfen? Tatsächlich: was dann? Da gibt uns ein EDA-Krisenstab oder der sehnliche Bundeswunsch nach Schweizer Beteiligung am EU-Militäraufmarsch vor afrikanischen Küsten, zusätzlich zum Freihandelskommando und der entwicklungspolitischen Sonntagspredigt, wohl einen Hinweis auf das anvisierte "Massnahmenpaket".

In ihrem 2009-Report "Food Insecurity in the World" schreibt die FAO im Juni bezüglich der gestiegenen Zahl von Hungernden: "Die Erhöhung der Ernährungsunsicherheit ist nicht das Resultat schlechter Ernten, sondern hoher einheimischer Nahrungspreise, niedrigerer Einkommen und zunehmender Arbeitslosigkeit". "Ist nicht das Resultat schlechter Ernten" ... ist es bekanntlich seit Jahren nicht ... doch die "Antwort" der "internationalen Gemeinschaft"? Sofort die Ernteerträge steigern! Mit Landnahmen durch Agromultis und Investmentfonds, mit Gentechnisierung der globalen Agrarwirtschaft, mit neuen Zwangsarbeitsverhältnissen.


Hetzen gegen BäuerInnen

In Ergänzung zu dem in diesem Heft abgedruckten Grainbericht mögen folgende Zahlen interessant sein. "Weltweit", so gibt die NZZ eine Schätzung des International Food Policy Research Institute (IFPRI) wieder, "dürften ausländische Investoren in den letzten drei Jahren 15 Mio. bis 20 Mio. ha Ackerland in Entwicklungs- und Schwellenländern unter ihre Kontrolle gebracht haben, eine Fläche, die etwa der gesamten Produktionsfläche Frankreichs entspricht" (NZZ, 13.6.09, bau.: Weltweiter Wettlauf um Agrarland in Drittweltländern). Erst der Anfang, frohlocken FAO und OECD in ihrem Agricultural Outlook 2009-2018. Die NZZ schreibt dazu: "Das bestehende Ackerland [weltweit] von 1,4 Mrd. ha könnte um 1,6 Mrd. ha erweitert werden, betonen die Organisationen. Eher die Hälfte des zusätzlichen Landes sei in Afrika und Lateinamerika zu finden" (NZZ, 17.6.09, Ug.: Massvolle Entwicklung der Agrarpreise).

Es ist der alte Kriegsmarsch vom jungfräulichen Boden, der seiner zivilisatorisch-technologischen Erweckung harrt. "Schon kursiert die Vision des dunklen Kontinents als 'Brotkorb der Welt'. ... Der neueste Bericht der UNO-Wirtschaftskommission für Afrika liest sich wie ein grosses Lamento über die Rückständigkeit der Landwirtschaft auf dem Schwarzen Kontinent... Lange nicht alles Farmland wird auch tatsächlich bebaut" (s. NZZ 13.6.09). Am 25. September 2009 blies Hillary Clinton ins gleiche Horn. Die Grüne Revolution, natürlich auch von ihr von Zerstörung in Wohltat umgelogen. "wurde nie vollständig gewonnen". "Es gibt viele Plätze, an denen sie vorbeizog, vor allem Afrika" (State Department, 25.9.09: Remarks at the Clinton Global Initiative Closing Plenary).

"Lamento" gegen BäuerInnenwissen. Die New York Times schreibt in einem lesenswerten Artikel: "'Etwas ist sehr klar, das der Aufmerksamkeit der meisten InvestorInnen entgangen zu sein scheint', sagt Michael Taylor, ein Spezialist der International Land Coalition. Wenn Land in Afrika nicht bebaut wird, hat dies wahrscheinlich seinen Grund. Vielleicht wird es als Weideland benutzt oder es wird absichtlich brach gelassen, um Raubbau an Nährstoffen und Bodenerosion zu verhindern" (NYT.22.11.09. Andrew Rice: Is There Such a Thing as Agro-Imperialism?).

Aber bitte, was soll angesichts gigantischer Profitmargen diese romantische "Mittel- und Upperclass-Verliebtheit in die bäuerliche Landwirtschaft", wie der Weltbankkriminelle Paul Collier im gleichen Artikel hetzt? Nichts, weiss er, denn "die kommerzielle Landwirtschaft als eine Kraft für ländliche Entwicklung und verstärkte Nahrungssicherheit zu ignorieren, ist bestimmt ideologisch". "Kraftvoll" hingegen eine Information der Weltbank: in den letzten drei Jahren ist der Preis für Mais um 50% und der für Reis um 115% gestiegen - dank Nahrungsverwertung für Agrosprit (La Jornada. 21.6.09). Anmachend vital auch dies: "So heisst es im Jahresbericht der Unctad, dass sich zwischen 2002 und 2009 der Börsenhandel mit Terminkontrakten auf Rohwaren - also etwa Erdöl und Gold, aber auch Nahrungsmittel wie Weizen, Mais und Sojabohnen - verdreifacht", jener ausserhalb der Börse gar vervierzehnfacht habe (WoZ, 10.9.09, Daniel Stern: Das Popcorn der Pensionskassen). Tolle Sache, wie sich am Steigen der Rohstoffindices zeigt. Da nimmt man gern in Kauf, dass das UNO-Welternährungsprogramm nunmehr seine Rationen von 2100 auf 1800 Kalorien reduziert, wie die WoZ anmerkt. Ihre Feigenblattorganisation ist den Mächtigen heuer nur noch $3.7 Mrd. und nicht, wie geplant, $6.7 Mrd. wert. Schliesslich gingen Billionen in die Stärkung der KapitalistInnen, die erheischen Solidarität.

Das "Versagen" - gemeint die offiziell über eine Milliarde Hungernden - "kann bald schlimmer werden ... Es kann zu spät sein, eine neue Preisanstiegsrunde zu verhindern" (The Economist, 19.11.09: Business as usual will not do). Konsens in der Runde: "Auch Goldman Sachs (GS) hat sich dieser Tage zum Thema [Hunger] geäussert. Die Rohstoffspezialisten der Firma vertraten am Montag die Meinung, die jüngste Verteuerung der Lebensmittelpreise habe nicht die Aufmerksamkeit erregt, die sie verdiente. Seit Anfang Oktober habe nämlich der GS-Index für Preise offiziell gehandelter Agrarrohwaren um rund 15 % zugelegt, und der Aufwärtstrend sei unverändert stark" (NZZ, 27.10.09, Fdr.: Höhere Lebensmittelpreise als Teuerungsmotor). Das ist keine trübe Warnung, sondern eine erregende Perspektive. "Die Nahrungskrise hat als Katalysator für den schläfrigen Agrarsektor gedient und Finanzfirmen wie Goldman Sachs und Black-Rock dazu angespornt, hunderte Millionen in Agroprojekte in Übersee zu investieren, so dass die Stimmung fürs Business berauschend, für die Menschheit aber bedrückend ist. Es wird viel von Thomas Malthus gesprochen, dem Propheten des 19. Jahrhunderts punkto Überbevölkerung und Hungersnot" (NYT, id).


"Virtueller" Grossgrundbesitz, reale Subjekte

Wo sie nicht vertrieben oder per Armut umgelegt werden, sollen BäuerInnen in neue Knechtschaft getrieben werden. In Correos 154 beschrieben wir die international betriebene neue Modalität der (Zwangs-) Verpachtung "unproduktiver" Kleinparzellen an KapitaleignerInnen, die während ein paar Jahre den Boden meist zwecks Exportbewirtschaftung auspressen und ihn dann, auf lange Zeit zerstört, den um so ausgepowerteren BäuerInnen zurücklassen. Das verschärft sich laufend. Die G-8 plagierte letzten Juli in L'Aquila (Italien), dass sie in den nächsten drei Jahren $20 Mrd. aufzutreiben gedenke für den "Kampf gegen den Hunger". Die Gross-NGO Oxfam bekam dabei den seligen Blick und "anerkannte", dass die von den G-8-Regierungen genannte Summe ... auch den kleinen Landwirten in der Dritten Welt zugute kommen solle" (NZZ, 11.7.09, tz.: Milliardensumme der G-8 gegen Hunger).

Ach ja? Im schon erwähnten NZZ-Artikel vom 13. Juni 09 promovieren "Experten des Washingtoner Think Tank IFPRI" (Agrarkapitalisierungslobby), wie "kleine Landwirte" von der globalen Agrokapitalisierung "profitieren" können: "Das Verpachten von Land ist dem Verkauf mit einer einmaligen Abgeltung vorzuziehen, da Pachtzinsen ein regelmässiges Einkommen garantieren". (Bitter wenig während weniger Jahre und danach ein dank Raubbau zerstörtes Land.) Aber "besser noch sind Verträge, bei denen Kleinbauern im Auftragsverhältnis auf ihren eigenen Feldern produzieren". Klar doch, Campesinas und Campesinos sind fast überall dank Liberalisierung völlig entwaffnet gegen eine mit Supersubventionen angetriebene Importoffensive, die mit Dumping operiert (in dieser Phase oft Importmarktpreise unter den lokalen Produktionskosten). Ihnen droht infolgedessen etwa, ihr Land wegen Verschuldung zu verlieren, und obendrein haben sie kein Geld für "nichtagrarische Bedürfnisse" wie Medikamente oder Kleider. Der nette Investor lässt ein paar Kröten springen, vielleicht genug, um morgen weiter zu sehen. Dafür, dass du ihm sein Land zeitwillig überlässt oder für ihn etwas anpflanzst. Die Schönheit der zweiten gegenüber der ersten Variante: Du trägst das ganze Risiko allein. Dürre, Krankheit, Klimaschock? Pech gehabt, Vertrag nicht erfüllt, du haftest. Und Vertrag erfüllt heisst: Du betreibst selber Raubbau an "deinem" Land. Irre cool, sagt die Unctad in ihrem letzten Jahresbericht. "Das sogenannte 'contractfarming', also die Produktion in besonders fruchtbaren Gebieten im Auftrag und nach den Normen fremder Investoren, gilt als eines der zukunftsträchtigen Geschäftsmodelle" (NZZ, 19.9.09, vk.: Direktinvestitionen weltweit im Sturzflug).

Diese Komponente der kapitalistischen permanenten Agrarkonterrevolution wird oft unterschätzt. Es handelt sich dabei um eine Landnahme "auf Zeit" oder gleich um das Kommando über BäuerInnen, die zu Peones eines finanzkapitalistisch angetriebenen "virtuellen" Grossgrundbesitzes werden. Wer das unterschätzt, übersieht gerne. auf wem und auf was die Hoffnung ruht: auf den Angegriffenen und ihrem Widerstand. Denn revolution will not be televised (Gil Scott Heron), die Hungeroffensive wird nicht am Konferenztisch gestoppt.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 160, 21. Dezember 2009, S. 30-31
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
Tel.: 0041-(0)44/271 57 30
E-Mail: zas11@sunrise.ch

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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Februar 2010