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CORREOS/127: El Salvador - StrassenverkäuferInnen in der Casa Presidencial


Correos des las Américas - Nr. 166, 16. Juni 2011

StrassenverkäuferInnen in der Casa Presidencial

Ein rabiater Bürgermeister will die VerkäuferInnen «wegsäubern». Der FMLN-Polizeiminister hilft ihm dabei. Dennoch fühlen sich die VerkäuferInnen wohl im Präsidentenpalais, erteilen der Handelskammer eine Abfuhr und hoffen auf den FMLN.

Von Mela Wolf


In den letzten Monaten schien der der Rechtspartei ARENA angehörende Bürgermeister von San Salvador, Norman Quijano, eine sozialpolitische Schlacht gegen die StrassenverkäuferInnen der Hauptstadt gewonnen zu haben. Begleitet von täglichem Medienjubel über seine Pläne zur sogenannten Neuordnung des Stadtzentrums konnte er die sogenannte «Säuberung» seiner Strassen von «Humanabfall» (sprich: StrassenverkäuferInnen) zum Zentrum seiner permanenten Wiederwahlkampagne hochstilisieren.

Trotz mehrfacher Interventionen der Ombudsstelle für Menschenrechte und des katholischen Erzbischofs für seriöse Verhandlungen zwischen Alcaldía (Bürgermeisteramt) und VerkäuferInnen - Ergebnis langer und aufreibender Mobilisierungen - ist die Strategie der Alcaldía klar auf eine gewaltsame Strassenräumung ausgerichtet. Die beiden letzten Gewalteinsätze, der eine am internationalen Tag gegen die Gewalt gegen Frauen (25. November) und der andere just zwei Tage vor dem Muttertag (in El Salvador am 10. Mai), schienen dann aber doch einige Gemüter zu bewegen. Zwei Tage vor der letzten Raumung marschierten an die 7000 VerkäuferInnen zum Sitz der Gemeinderegierung unter dem Motto: «Wir verteidigen nicht Strassen, sondern unsere Arbeitsplätze». In der letzten Meinungsumfrage vom Mai dieses Jahres zur Neuordung des Stadtzentrums äusserten sich über 69 Prozent der Befragten in der Hauptsatadt gegen die bislang angewandte Metohode der gewaltsamen Raumung. Noch vor wenigen Monaten wurden die Methoden von Quijano mit grosser Mehrheit befürwortet. Ein kleiner Fortschritt?


Von der Trauer zum Applaus

In der Nacht vom 8. Mai begannen an die 2000 StrassenverkäuferInnen eine permanente Mahnwache und bereiteten sich darauf vor, die Nacht in ihren Verkaufsständen zu verbringen, in Solidarität mit den 300 VerkäuferInnen, die jene Nacht gewaltsam von ihren Plätzen in der zentralen Strasse Arce vertrieben werden sollten. Aber niemand hatte vorausgesehen, dass diesmal nicht wie üblich die Gemeindpolizei (CAM) unter der Regie der Alcaldía den Einsatz leitete, sondern die Spezialeinheit UMO der Zivilen Nationalpolizei (PNC), die unter dem Kommando des FMLN-Justizministers steht. In anderen Einsätzen griff die PNC unter der neuen Regierung jeweils nicht direkt ein, sondern leistete nur periphere Sicherheit. Doch jetzt kam es anders: Ohne Vorwarnung wurde der ganze Strassenzug aus Distanz mit Tränengas total eingenebelt, was einen Widerstand mit den üblichen Steinen und Steinschleudern sofort neutralisierte. Das Gleiche geschah auf den umliegenden Strassen, alle besetzt von den Vendedores (VerkäuferInnen).

Die Konsternierung der Vendedores war unbeschreiblich. Im ersten Moment waren sie zermürbt, mehr traurig als wütend ... hatte der Einsatz doch genau jene Zone angegriffen, in der sie Mauricio Funes Tage vor seinem Wahlsieg mit Jubel empfangen hatten!

Die Gemeindeleitung des FMLN kritisierte in einem Pressekomuniqué vom folgenden Tag den überrissenen Einsatz der PNC hart, obwohl diese von einem Compa geleitet wird. Eine Protestwelle gegen die Funes-Regierung blieb interessanterweise jedoch aus. Die Vendedores erklärten sich den UMO-Einsatz als eine der Erfahrungen, wo der alte Staatsapparat, durchsetzt von Kadern der Rechtskräfte, immer noch durchschimmert und wo mittlere Kader der Regierung darauf bedacht sind, die aktuelle Regierung in schiefes Licht zu rücken.

Die schnelle und deutliche Reaktion der FMLN-Leitung der Hauptstadt in Solidarität mit den Vendedores war eine wichtige Geste. Mit Erstaunen registrierten FMLN-AktivistInnen Wochen danach, bei einer Flugblattaktion (zu einem anderen Thema) in der Calle Arce, die unterdessen wieder besetzt ist von VerkäuferInnen, die ihre Waren in Karretten oder in der Hand anbieten, wie sie unter Applaus empfangen wurden.


Und wieder mal ein Anschlag

In der Räumungsnacht wurden die Gebäude des alten Nationalpalastes und des Nationaltheaters angegriffen, allerdings, wie die VerkäuferInnen versicherten, von Schlägertruppen, die darauf bedacht waren, den ohnehin schlechten Ruf der VerkäuferInnen noch mehr in den Schlamm zu ziehen.

In der Tat, beide Gebäude waren dem Bürgermeister seit Wochen ein Dorn im Auge. Denn die Regierung Funes hatte zuerst das Stadtzentrum mit einer Reorganisation der Busrouten etwas entstopft und danach in den beiden Gebäuden touristische Anlässe organisiert. Damit hatte sie faktisch demonstriert, dass das Stadtzentrum touristisch belebt werden kann, «trotz« VerkäuferInnen und entgegen aller Horrorberichte in den Kolumnen von Meinungsmachern, die seit Jahrzehnten selten bis nie einen Fuss ins Stadtzentrum gesetzt haben. Das Tourismusprogramm wurde von den VerkäuferInnen begrüsst, zumal es ihr Image etwas aufgemöbelt hat. Quijano kritisierte sowohl die Aktion des Verkehrsministeriums als auch die Tourismusprogramme als politische Aktion der Regierung, um seinem Neuordungsprogramm des Stadtzentrums Konkurrenz zu machen. Wegen der in der Nacht vom 8. Mai angerichteten Schäden müssen die Programme jetzt für mindestens 4 Monate tatsächlich eingestellt werden! Nicht wenige Journalisten wagten es denn auch, die Version von Quijano zumindest anzuzweifeln, wonach die Vendedores für diese Verwüstungen just in der Nacht der Räumung verantwortlich seien. Die VerkäuferInnen ihrerseits führten eine klare Sprache: Einzig Quijano habe ein Interesse daran, die Tourismusprogramme zu torpedieren ...

Drei Tage nach diesem Schlagabtausch explodierte eine Armeehandgranate im Parking der Alcaldía, ohne nennenswerten materiellen Schaden anzurichten. Es war der vierte Anschlag dieser Art in einem Jahr, jeweils Anlass für die Medien, quasi live Bericht über «Terror gegen die Alcaldía» zu berichten und die Organisationen der Vendedores als Verantwortliche zu bezichtigen, als regelrechte «Terroristen». Bereits zum dritten Mal marschierte Quijano im Scheinwerferlicht bei der Staatsanwaltschaft auf und erstattete Anzeige gegen führende Vendedores, immer die gleichen... und nie vernimmt man etwas von Untersuchungen oder gar Resultaten. In der Öffentlichkeit werden die sogenannten «Anschläge» immer weniger ernst genommen, zumal sie immer dann erfolgen, wenn sich Quijano in die Enge getrieben fühlt, nie spektakuläre Fotos von Zetrstörungen angeboten werden können und die Vendedores mit immer grösserer Glaubwürdigkeit die Öffentlichkeit auffordern, sich die Frage zu stellen, wem diese Aktionen nützen. Die Antwort liegt auf der Hand. Ein Journalist des meistgehörten Radios des Landes (YXKL) wagte denn auch erstmals von der Möglichkeit eines autogolpes (Selbstanschlag) von Seiten der Alcaldía zu sprechen. Drei Tage nach diesem Kommentar wurde eine fünfte Granate in die Alcaldía geworfen. Diese explodierte allerdings nicht mehr. Diesmal machte nicht einmal mehr die Rechtspresse grosses Aufsehen.


Von der Regierung ernst genommen

Dafür staunten die VerkäuferInnen, als sie wenige Tage später vom Minister für strategische Angelegenheiten, Hato Hasbún, höchstpersönlich in die Casa Presidencial geladen wurden. Thema: ein Dialog über das neue Verkehrssystem, das nächstes Jahr im Stadtzentrum eingeführt werden soll. Zum Erstaunen und zur Freude der Vendedores handelte es sich nicht um eines jener Gespräche, bei dem sie sich allein mit Funktionären befinden, die über irgendwelche Pläne orientieren und sich nach ihrer Darlegung freundlich bis auf weiteres verabschieden.

Diesmal war es anders. Der Superminister hatte zum Erstaunen aller Beteiligten nicht nur die VerkäuferInnen bestellt, sondern auch den Bürgermeister, die lokale Handelkammer, das Verkehrs- und das Tourismusministerium. Alle wurden eingeladen, um gemeinsam eine Lösung für die neue Verkehrsplanung mit ihrer Durchleitung des Verkehrs durch die wichtige Strasse Rubén Darío zu suchen, ohne gleich auf eine Räumung der Vendedores zu setzten. Der Vorschlag der Regierung bestand darin, alle angesiedelten VerkäuferInnen neu zu erfassen und sie in einem definierten Strassenbereich anzusiedeln. Die Leute sollen von den Gehsteigen, die in den Kompetenzbereich der Alcaldía fallen, auf einen vom Verkehrsministerium zur Verfügung gestellten Strassenstreifen kommen. Die Regierung würde ästhetische Module zur Verfügung stellen und die ganze Operation hätte temporären Charakter, bis der installierte Runde Tisch gemeinsam akzeptable Alternativen für die betroffenen Vendedores gefunden habe. Solche Alternativen könnten auch Pilotcharakter für andere Vendedoresgruppen haben. Die Vendedores reagierten begeistert, war es jetzt doch endlich zu dem gekommen, was sie seit über einem Jahr immer in all ihren Kämpfen und Aktionen gefordert hatten: eine reale Dialogrunde, integral zusammengesetzt, nicht mehr nur mit Quijano, um gemeinsam über mögliche Alternativen zur Strasse zu diskutieren. Quijano war sprachlos und bezog unmittelbar danach eine Kampfstellung gegen die «hirnverbrannten« Vorschläge der Regierung, welche den Vendedores keine Ultimaten stelle etc. etc. etc.

Noch gibt es keine Resultate. Die Kapitalinteressen im Stadtzentrum sind gross. Die Handelskammer versuchte in der Sitzung, sich den Vendedores sozusagen als Verbündete anzubiedern und ihnen zu verkleckern, dass man die nächsten Gesprächsrunden doch besser in den Büros der Handelskammer abhalte, in neutralem und «unpolitischem» Territorium. Die VerkäuferInnen bedankten sich freundlich, versicherten aber, dass sie sich durchaus wohl fühlten in der Casa Presidencial, zumal sich noch nie zuvor in der Geschichte des Landes eine Regierung mit StrassenverkäuferInnen an einen runden Tisch gesetzt habe und dazu obendrein auch Vertreter des Grosskapitals und die Lokalregierung, alle mit gleichem Rede- und Stimmrecht ... Seitdem macht die Handelkammer gemeinsame Front mit der Alcaldía und setzt auf Medienmanipulation: jetzt nicht mehr nur gegen die Vendedores, sondern gegen die VerkäuferInnen und die Regierung. Noch ist die Runde nicht geplatzt: Regierung und Vendedores sind überzeugt, dass der Versuch in der Rubén Darío ein Signalwirkung haben werde, wie es anders gehen könnte.

Der Integrale Dialogstisch ist in greifbare Nähe gerückt, Voraussetzung dafür, mittelfristig eine Perspektive zu erlangen, eine andere, als sich von der einen zur andern Strassenecke zu verschieben, sagen die Vendedores.

Unterdessen hat Quijano gewaltsame Rämung an einer anderen Ecke der Stadt angesagt: für nächste Woche. «Das geht so weiter, bis wir ihn abgewählt haben», sagen die VerkäuferInnen. Und zwar nicht mehr nur jene, die schon früher mit dem FMLN sympathisiert haben, sondern neu auch solche, die für die Christdemokratie stimmten oder für ARENA Urnen hüteten und auswärtige WählerInnen nach San Salvador für die bezahlte Stimmabgabe fuhren. Quijano hat erreicht, den Kampf der Vendedores ums tägliche Brot in der Strasse in einen politischen Kampf umzuwandeln. Unter den Vendedores hat er ihn verloren - offen bleibt der Kampf um die Mehrheitsmeinung in der Hauptstadt, welche Quijano in den Umfragen noch immer gute Noten erteilt. Die Vendedores haben klar, dass die Resultate der nächsten Wahlen in der Hauptstadt vital für ihre Überlebenschancen sein werden.


Nachtrag: Am 12. Juni berichtete die Presse, dass die wegen eines Ehestreites gerufene Polizei im Haus des Ex-Abgeordneten von ARENA Egardo Zelaya vier Armeegranaten gefunden habe. Am 9. Juni hatte die Alcaldía aus «Angst vor weiteren Granatangriffen die Verstärkung ihrer Sicherheitsmassnahmen» bekannt gegeben. Quijano hatte, wie er in einem Communiqué nach der Verhaftung Zelayas am 11. Juni bekannt gab, diesen angeblich am 7. Juni entlassen - aus einem «Kommitee für strategische Angelegenheiten» der Alcaldía...


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 166, 16. Juni 2011, S. 14-15
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. August 2011