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CORREOS/159: Mexiko - Kriminalisierung im Namen des Drogenkriegs


Correos des las Américas - Nr. 171, 16. September 2012

Kriminalisierung im Namen des Drogenkriegs

Für die mexikanische Regierung besteht die Bevölkerung zunehmend aus mutmasslichen Kriminellen. Ihr Krieg «gegen» den Drogenhandel ist ein Krieg gegen soziale Netze von unten. Das Beispiel Oaxaca.

von Bruno Ladrillero



Oaxaca, Herbst 2006: Mit Barrikaden und Nachtwachen an hunderten von Strassenkreuzungen hält die aufständische Bevölkerung von Oaxaca Stadt die lokalen Repressionskräfte in Schach. Immer wieder kommt es zu einzelnen Angriffen, man spricht von «Todeskarawanen», gebildet von Polizisten und bezahlten Mördern. Zwanzig AktivistInnen kommen ums Leben, hunderte werden verletzt. Erst nach sechs Monaten kippt die Situation zuungunsten der Volksbewegung: Durch das massive und brutale Einschreiten der föderalen Aufstandsbekämpfungseinheit PFP wird der Aufstand gegen den verhassten PRI-Gouverneur Ulises Ruiz Ortiz Ende November niedergeschlagen. Nur Tage später hievt sich Calderón vom rechtsgerichteten PAN mit Hilfe von Militärs in den Präsidentensessel in Mexiko Stadt.

Oaxaca, Herbst 2012: Erstmals seit 80 Jahren stellt der PRI nicht mehr den Gouverneursposten. Unter dem linksliberalen, unternehmerfreundlichen Gabino Cué werden jedoch die Verbrechen der Vergangenheit nicht aufgeklärt. Die sozialen Bewegungen sind auf der Strasse wieder äusserst aktiv, wenn auch nicht so geeint wie 2006. Trotz des Regierungswechsels beklagen sie systematische Verleumdungen ihres Protestes in den Medien und selektive Repression bis hin zu Mord, meist ausgeführt durch lokale Polizisten oder Pistoleros im Auftrag des PRI. Besonders die ländlichen Regionen Oaxacas leiden unter einer Welle von sozialer und politischer Gewalt. Und die nun videoüberwachten Strassen von Oaxaca-Stadt sind rund um die Uhr besetzt von irrlichternden Pick-ups mit schwerbewaffneter, vermummter Polizei. Wieder haben äusserst fragwürdige Präsidentschaftswahlen stattgefunden, Calderón übergibt ein blutgetränktes, militarisiertes Mexiko an Peña Nieto von der alten Staatspartei PRI. Und in Oaxaca-Stadt werden die Proteste von Jugendlichen gegen denWahlbetrug wegen ein paar geklauten Einkaufswägelchen gewaltsam aufgelöst, die Verhafteten gefoltert.

Diese beiden Stimmungsbilder verdeutlichen die strategische Wichtigkeit des südlichen Bundesstaates für Kriminalisierungsstrategien: Das durch extreme Ungleicheit gezeichnete Oaxaca mit seiner rebellischen in kommunitären indigenen Werten verwurzelten Bevölkerung ist in den gesamtmexikanischen und globalen Herrschaftsverhältnissen ein wichtiges Experimentierfeld für die Kontrolle der sozialen Bewegungen. Einige der hier und anderswo in Mexiko praktizierten Kriminalisierungsstrategien sollen im Folgenden skizziert werden.


Kriminalisierung, juristisch und faktisch

Im engen, juristischen Sinn wird mit «Kriminalisierung» eine Gesetzesänderung bezeichnet, die zur Strafbarkeit von Handlungen führt. Auch in Mexiko wurden im Zuge einer Strafrechtsreform im Jahre 2008 zwar einerseits Teile menschenrechtskonformer gestaltet, aber im Widerspruch dazu auch neue Instrumente geschaffen, um gegen kriminelle Strukturen «die ganze Kraft des Gesetzes» einzusetzen, wie Calderón bei jeder Gelegenheit betont. Bekanntestes Beispiel dafür ist der «arraigo», eine Art verschärfte U-Haft, die auf bis zu 80 Tage verlängert werden kann. Die isolierten Untersuchungs-Häftlinge befinden sich nicht in normalen Haftanstalten, sondern in speziell dafür eingerichteten «arraigo»-Häusern, die eine Art rechtsfreien Raum darstellen. Doch auch nach überstandenem «arraigo» besitzt ein der «organisierten Kriminalität» Angeklagter kaum prozessuale Rechte. So werden belastende Aussagen, darunter auch blosse anonyme Hinweise, grundsätzlich höher gewertet als Entlastungsbeweise. Einmal mit diesem schwerwiegenden Vorwurf in die Mühlen der Justiz geraten, gilt auch die sogenannte Unschuldsvermutung nicht. Eine Sonderjustiz ganz auf Linie mit den Anti-Terrrorgesetzen im internationalen Rahmen, ein «mexikanisches Guantánamo», sagten zwei Juristen der Universität UNAM in der Zeitung «El Universal» Ende August. Nur dass in Mexiko eine ungleich höhere Anzahl Häftlinge von dieser Praxis betroffen ist: Tatsächlich in die Mafias involvierte Personen, eine gute Portion unschuldig Verdächtigte sowie auch soziale AktivistInnen, denen beispielsweise «Entführung» vorgeworfen wird, weil in einer Mobilisierung staatliche Funktionäre kurzfristig ihrer Bewegungsfreiheit beraubt wurden.

Die Kriminalisierung sozialer Bewegungen beruht jedoch nicht nur auf repressiveren Gesetzen. Was die Bewegung im Stadtteil und auf dem Land immer stärker trifft, sind zwei nur scheinbar widersprüchliche Herrschaftsstrategien: die faktische Macht und die gekünstelte Ohmacht des Staates. Also einerseits eine hochgerüstete und mit militärischen Kadern durchsetzte Polizei, sowie die mexikanische Armee, welche mit Strassensperren und anderen Operationen in der Öffentlichkeit präsent ist. Und andererseits die bewusste, systematische Absenz jeglicher Strafverfolgung, die berühmte Straflosigkeit, wenn es um die Verfolgung von Repressalien durch Staatsorgane oder andere Interessengruppen geht. Dies geht soweit, dass verschiedene schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, beispielsweise Folter oder das gewaltsame Verschwindenlassen, entweder nicht als Delikte anerkannt sind oder in einzelnen Bundesstaaten zwar im Strafgesetz verzeichnet sind, aber nicht nur entgegen internationaler Abkommen verjähren können, sondern auch von den Behörden in der Praxis völlig ignoriert werden.


Oaxaca führt die Kriminalisierungsstatistik an

Die Illegalisierung der sozialen Kämpfe via Justizapparat und die direkten Angriffe auf die AktivistInnen sind auch in Oaxaca Alltag. Ein bewährtes niederschwelliges Mittel der «Illegalisierung»: Der Staat filtriert die Nachricht, dass gegen diesen oder jenen sichtbaren Anführer einer Bewegung ein Haftbefehl wegen der Blockade einer Autobahn ausgestellt wurde. Damit muss sich der Betroffene zweimal überlegen, ob er bei der nächsten Mobilisierung offen auftreten kann. Doch oft halten sich der Staat und Mächte wie bspw. Minengesellschaften nicht mit solchen rechtlichen Mitteln auf und gehen direkt zur Repression über. In Oaxaca vergeht keine Woche, in der nicht eine soziale Organisation ein Attentat auf Mitglieder denunziert. Im Zentrum der Auseinandersetzungen stehen dabei häufig Grossprojekte wie Minen. So wurde am 15. März Bernardo Vásquez ermordet. Bernardo war der Anführer des Widerstands gegen die Silbermine in San José del Progreso, südlich von Oaxaca Stadt gelegen. Ein halbes Jahr später ist keiner der Attentäter in Haft, und die bewaffneten Angriffe auf Bernardos Organisation reissen nicht ab.

Im August 2012 veröffentlichte die Organisation «Komitee Cerezo» eine geographische Analyse der gravierendsten Menschenrechtsverletzungen in Mexiko. Die von den ehemaligen politischen Gefangenen Alejandro, Héctor und Antonio Cerezo Contreras und deren Umfeld gegründete Organisation, die übrigens im September 2012 den Aachener Friedenspreis erhielt, fokussierte ihre Analyse auf die Erfassung von willkürlichen Verhaftungen, aussergerichtlichen Hinrichtungen, gewaltsamem Verschwindenlassen von AktivistInnen und fasste in einer vierten Kategorie die Übergriffe gegen MenschenrechtlerInnen zusammen. Im Zeitraum von Januar 2011 bis Mai 2012 wurden für das ganze Land 353 Menschenrechtsverletzungen erfasst. Oaxaca bildet mit 61 der 353 Übergriffe den Spitzenreiter in dieser traurigen Statistik. In der Kategorie der Angriffe auf MenschenrechtlerInnen sind insbesondere Frauen betroffen, sei es durch Morddrohungen, Durchsuchungen von Büros von Frauenorganisationen oder ähnlichem. Gemäss den Verfassern ist zudem die Zunahme von «aussergerichtlichen Hinrichtungen» oder politischen Morden eine besorgniserregende Tendenz. So schreibt das Kolletiv Cerezo in diesem Bericht mit dem Titel «Die Opfer des Konfigurationsprozesses eines terroristischen Staates», die Repressionsstrategie habe sich seit der Machtübernahme von Felipe Calderón im Jahr 2006 verändert, hauptsächlich durch die Unterordnung unter die US-Politik des «Krieges gegen die Drogen». «Aufgrund der Dokumentation der Menschenrechtsverletzungen und des Modelles der Kriminalisierung des sozialen Protests stellen wir seit 2008 einen Wandel fest; seither ist die aussergerichtliche Hinrichtung und das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen eine fundamentale Repressionsstrategie des mexikanischen Staates».

Die Studie des Komitee Cerezo macht nur die Spitze des Eisbergs sichtbar. Andere Organisationen haben sich in Koordination mit ACAT Frankreich dem Thema Folter gewidmet. In deren Pressekonferenz Anfang September erklärte Javier Sam vom Anti-Folter-Komitee (CCTI) der ungläubigen Presse, wie es möglich ist, dass in Mexiko, wo sogar der staatliche Ombudsmann für Menschenrechte die systematische Folter auf den Polizeiwachen anklagt, dennoch kaum ein Fall der Folter vor Gericht kommt, geschweige denn ein Polizist oder Soldat verurteilt wird. Dies, weil die medizinische und psychologische Beweisführung des Deliktes, angeblich streng nach den Richtlinien des Istambuler Protokolls der UNO, in der Praxis so ausgelegt wird, dass es für den Richter ein Leichtes ist, den Deliktbestand zu negieren. Diese zynische Situation und das allgemein grosse Misstrauen in die Behörden ist mit ein Grund, warum gemäss dem CCTI bloss 10% der Folteropfer überhaupt eine Anklage gegen ihre Peiniger erheben. Eine Ausnahme stellt ein Kern von politischen Gefangenen aus dem Aufstand in Oaxaca von 2006 dar: Von den insgesamt 240 während und nach dem Aufstand von Folter betroffenen Personen reichten 30 Folterüberlebende zwei Jahre später kollektiv eine Klage ein. Seither sind weitere vier Jahre vergangen, aber noch nicht mal die Beweisaufnahme ist abgeschlossen, Gerechtigkeit ist keine in Sicht.

Inmitten dieser Gewaltspirale, welche Mexiko durchlebt, machte sich ein anderer bekannter ehemaliger politischer Gefangener, Jacobo Silva (ehemals Kommandant der Guerilla Ejército Revolucionario del Pueblo Insurgente - ERPI), in einem Essay 2011 die Mühe, über die Kriminalisierung der sozialen Bewegungen als Teil der Aufstandbekämpfung nachzudenken. Wobei er übereinstimmend mit anderen Stimmen zum Schluss kommt, dass die Kriminalisierung nicht mehr nur präventiv und abschreckend gewisse ausgewählte Bewegungen trifft, also entmobilisiernd wirken soll, sondern die ganze Bevölkerung, jede/r Einzelne, betroffen ist oder Opfer des Staatsterrors werden kann. Dies, so Silva, weil die Regierungen die Bevölkerung nicht mehr repräsentieren, was nicht neu sei. Doch in der aktuellen Situation «schätzt die Regierung die Bevölkerung als von Kriminellen gebildet ein und behandelt sie dementsprechend, so dass es scheint, dass dies eine Besatzungsregierung ist». Diese Kriminalisierung der Bevölkerung zielt gemäss Jacobo Silva «auf das Zerstörten der kommunitären sozialen Netzwerke, welche die Widerstandskämpfe des Volkes stützen, und so soll die Entwicklung einer sozialen Bewegung verhindert werden, welche Möglichkeiten besitzen würde, gangbare Alternativen aufzuzeigen». Jacobo Silva, der nach tagelangen Folterungen zehn Jahre im Hochsicherheitsgefängniss sass, wird jedoch nicht müde, die Bewegungen Mexikos auzufordern, immer neue Mittel und Wege zu suchen, um den Kampf fortzusetzen. Es wurde noch keine Waffe erfunden, gegen die es nicht ein Schild gäbe, meint Silva und fordert dazu auf, neue Wege des Widerstands zu suchen. Das wird unter dem neuen Präsidenten Enrique Peña Nieto der alten repressiven Partei PRI auch dringend notwendig sein.

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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 171, 16. September 2012, S. 16-17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Oktober 2012