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CORREOS/166: Kuba - "Ohne Hast und ohne Pause"


Correos des las Américas - Nr. 173, 4. April 2013

«Ohne Hast und ohne Pause»

von Franco Weis



"Ohne Hast und ohne Pause" - Mit diesen Worten charakterisierte Raúl Castro den Prozess in Kuba, der neben tiefgreifenden Reformen des wirtschaftlichen Modells auch einen Generationenwechsel beinhaltet. Im Wahlprozess der vergangenen Monate sind mehrere Schritte in diese Richtung getan worden.


Wahlen in Kuba heben sich wohltuend von den karnevalesken und millionen- bis milliardenschweren Kampagnen in den meisten anderen Ländern ab. Der Eintrag ins Wahlregister erfolgt automatisch, die Wahllokale sind in unmittelbarer Umgebung des Wohnsitzes und die Urnen werden von SchülerInnen «bewacht». Die KandidatInnen stellen sich ihren StimmbürgerInnen in öffentlichen Veranstaltungen und Besuchen vor und ihre Lebensläufe werden in öffentlichen Lokalen ausgehängt, auf einem schwarz-weiss gedruckten A4 Blatt mit Portraitfoto. Für die Gemeindewahlen werden die KandidatInnen pro Bezirk in öffentlichen Versammlungen gewählt (mindestens zwei pro Sitz) und für Provinz- und Parlamentswahlen zur Hälfte in den Kommunalparlamenten und zur anderen Hälfte in einer Kommission, in der die verschiedenen Massenorganisationen vertreten sind. An diesem Mechanismus wird oft Kritik geäussert und dabei übergangen, dass Partei-, Verbands- und Interessenklüngelei in praktisch allen Ländern über Kandidaturen entscheiden. Bemerkenswert auch die Rolle der kommunistischen Partei in diesem Prozess, offiziell gar keine. Parteimitgliedschaft ist keine Bedingung für einen Kandidatur und lange nicht alle Gewählten haben ein Parteibuch. Während die Lokalregierungen für 30 Monate gewählt werden, beträgt die Amtsperiode für Provinz- und Nationalparlament fünf Jahre, kann aber laut Gesetz jederzeit enden, wenn dies mehr als die Hälfte der WählerInnen wünschen. AbgeordneteR zu sein ist vor allem eine Verpflichtung neben der «normalen» Arbeit und wird nicht bezahlt. Neben den beiden regulären Sitzungswochen pro Jahr im Juli und Dezember sind die Kommissionen und ihre Mitglieder durchs ganze Jahr aktiv und stehen im Kontakt mit ihren Wahlbezirken und Themenschwerpunkten. In den vergangenen Parlamentsessionen war vermehrt zu beobachten, wie Parlamentsabgeordnete MinisterInnen kritische Fragen stellten und die versprochenen Verbesserungen überprüfen, eine Stärkung der Rolle der gewählten VolksvertreterInnen gegenüber den ernannten FunktionärInnen.

Die 14 Provinzparlamente wählen ihre Leitung und Regierung und dasselbe tut die Nationalversammlung, der 612 Personen angehören. Diese Wahlen, vor allem für den 31-köpfigen Staatsrat, der die nicht-gesetzgeberischen Parlamentsgeschäfte zwischen den Sessionen erledigt, den Parlamentsvorsitz und den Posten des ersten Vizepräsidenten wurden ebenso mit Spannung erwartet wie die Wahlbeteiligung und das Abschneiden der verschiedenen Kandidat-Innen.


Interessante Wahlresultate

Während im November 94% der Stimmberechtigten an den Gemeindewahlen teilnahmen, gaben im Februar 90.88% ihre Stimme ab. Dazu kommen knapp 6% leere und ungültige Stimmen. Im Vergleich zu den letzten Wahlen im Jahr 2008 haben die «Nichtstimmen» um rund 50% von 9 auf 14% zugenommen. Dies nun alleine auf eine mögliche zunehmende Unzufriedenheit zurückzuführen, wie viele im Westen dies gerne tun würden, greift wohl etwas zu kurz. Nicht mehr im Land ansässige Stimmberechtigte, die nach wie vor im Register sind, das Abnehmen des sozialen Druckes zur Stimmabgabe und die stärkere demografische Präsenz der jüngeren und tendenziell wahlapatischeren Generation dürften weitere, wenn auch nicht die einzigen Ursachen sein.

Im Gegensatz zu vergangenen Urnengängen wurde diesmal auf die Promotion der «Stimme für alle» (KandidatInnen) verzichtet, mit dem Resultat, dass «nur» noch 81% der gültigen Stimmen (gegenüber 91% vor fünf Jahren) dieser Option galten. 15 KandidatInnen erhielten weniger als 80% der abgegebenen Stimmen und eine gar weniger als 70%. Es ist nicht auszuschliessen dass irgendwann einE KandidatIn die obligaten 50% nicht erreicht. Bemerkenswert auch, dass dieser geringste Zuspruch in demselben Stimmbezirk in Camagüey zu verzeichnen war, in dem der dortige Parteisekretär rund 94% der Stimmen erhielt. Ähnliches in der Altstadt von Havanna, wo der paradigmatische Restaurator Eusebio Spengler Leal zwar 88% der Stimmen erhielt (deutlich weniger als vor fünf Jahren), seine 4 MitkandidatInnen aber nur zwischen 73 und 74% - ein klares Zeichen an die zuständigen Stellen, das im Tourismusmagnet Alt-Havanna einiges im Argen liegt.

Eine weitere Neuigkeit war, dass alle gewählten nationalen ParlamentarierInnen aufgefordert waren, ihre persönlichen Vorschläge für den Staatsrat einzureichen, wobei Frauen, Junge, Hautfarbe und Wohnort zu berücksichtigen waren. Eine Kommission erarbeitete dann aus allen Vorschlägen eine Liste zuhanden des Parlaments.

Dass gewählte Ämter und Regierungsposten die Demografie (sprich mehr Jugend), den Regenbogen (sprich mehr nicht-weisse) und die Geschlechter (sprich mehr Frauen) wiedergeben müssen, ist ein historisches Anliegen des kubanischen Prozesses, dem Raul Castro hohe Priorität einräumt. Die Daten dazu sind in der Tat eindrücklich.


Generationenwechsel und Frauenpower

Auf Provinzebene beträgt das Durchschnittsalter 47 und ein Jahr mehr im Nationalparlament. Waren vor fünf Jahren knapp zwei Drittel der Abgeordneten in der Nationalversammlung neu im Amt, sitzen diesmal gut zwei Drittel zum ersten Mal in Saal. Fast zwei Fünftel der Abgeordneten bezeichnen sich laut offiziellen Angaben als Schwarze oder MestizInnen, eine annähernd proportionelle Vertretung zur Gesamtbevölkerung.

10 der 14 Provinzen werden nun von Frauen regiert und in der Hälfte besetzen Frauen das Vizeamt. Neu sind im Nationalparlament 49% (vorher 42%) der Abgeordneten Frauen. Im Staatsrat sind neu 13 (42%) Frauen (vorher 8 - 26%) und in seiner siebenköpfigen Spitze sitzt neben der bisher einzigen Frau (der Rechnungsprüferin Glady Bejerano) neu auch die Parteisekretärin der Hauptstadt, Mercedes López.

Die Neubesetzung des Parlamentspräsidiums, nachdem Ricardo Alarcón nicht mehr im Parlament sitzt, war ein erstes Traktandum. Die Wahl von Esteban Lazo ist zwar kein Generationenwechsel, da er bereits Vizepräsident war, im Politbüro sitzt und auf eine langjährige Parteikarriere zurückblickt. Aber die Symbolik des ersten schwarzen Parteipräsidenten in der Geschichte Kubas, der in seiner Jugend als Zuckerrohrschneider arbeitete, ist bemerkenswert. Begleitet wird er in seiner Aufgabe von zwei Frauen.

Die Wahl von Raúl Castro für eine weitere Amtsperiode von fünf Jahren wurde allseits erwartet. Dafür trieb die kurze Rede des frischgewählten Abgeordneten Fidel Castro vielen die Tränen in die Augen. Wie Raúl stellte er klar, dass dies seine letzte Amtsperiode und die Zeit der Übergabe gekommen sei.

Die Wahl von Miguel Díaz Canel-Bermúdez zum ersten Vizepräsidenten kam nicht unerwartet. Díaz Canel ist bekannt als kompetent, tolerant, bescheiden und effizient. In seiner Heimatprovinz Villa Clara, wo er Parteisekretär war, ist er nach wie vor populär und erhielt in dieser Wahl knapp 94% der Stimmen (und damit rund 15% mehr als seine beiden MitkandidatInnen). Seine Versetzung nach Holguin erlaubte es ihm weitere Lokalerfahrung zu sammeln, ehe er 2009 nach Havanna gerufen wurde, wo er nach wenigen Jahren für eine tiefgreifende Reform im höheren Bildungswesen verantwortlich zeichnete. Seit über 20 Jahren gehört er dem Zentralkomitee der Partei an und sitzt seit 2003 im Politbüro. Vieles deutet darauf hin, dass er 2018 die Nachfolge von Raúl Castro antritt, der in seiner Rede festhielt, dass dies seine letzte Amtsperiode sei. Einerseits, weil der dann 86 Jahre alt sein wird, andererseits weil niemand mehr als zwei Amtszeiten denselben Posten innehalten darf.

In seiner Rede unterstrich Raúl Castro ein weiteres Mal, dass er «weder gewählt wurde, um in Kuba den Kapitalismus erneut einzuführen, noch um die Revolution zu übergeben, sondern um den Sozialismus zu verteidigen, zu erhalten und zu verbessern», dass in den kommenden Jahren tiefgreifende Reformen des Modells anstehen und er anstrebe, ein Land mit einer Vision mit Horizont 2030 zu hinterlassen. Castro kündigte ebenfalls an, dass vor jedem Parteikongress eine breite Befragung der gesamten Bevölkerung durchzuführen sei. Wird der Fünfjahresrythmus der Parteikongresse eingehalten, würde der nächste 2016 stattfinden und sicher auch in diesem Bereich den Generationenwechsel vorantreiben.


Kuba nach Chávez

Wenige Tage nach den Wahlen schalteten kurz nach vier Uhr Nachmittag alle Medien das gleiche Programm und von da an beherrschte (neben dem Baseballweltcup) nur ein Thema die Gespräche - Hugo Chávez hatte den Kampf gegen den Krebs schliesslich verloren.

Die Betroffenheit der Leute geht weit über die offizielle Staatstrauer und die Reise von Raúl Castro nach Venezuela hinaus. Die Leute nahmen Chávez als einen der ihren wahr, einer, der die Dinge beim Namen nannte, der solidarisch und sensibel war. Die Leute litten mit ihren venezolanischen FreundInnen und bangten um ihre Angehörigen und Bekannten, die dort im Einsatz sind. Hunderttausende, wenn nicht Millionen (und davon gibt es in Kuba nur 11) defilierten am internationalen Frauentag in Städten an Fotos von Chávez vorbei, traurig, ernst, weinend ... an vielen Orten standen die Leute auch nach den vorgesehenen 12 Stunden noch Schlange. Am diesem für Havanna kalten Abend standen wir über eine Stunde in einer Reihe mit Leuten die aus einem Quartier kamen, aus einer Fabrik, von der Arbeit, viele Jugendliche, Eltern mit Kindern und zogen an den beleuchteten Portraits von Che und Camilo und dem Fotos von Hugo Chavez vorbei.

Venezuela ist der wichtigste Handelspartner Kubas. Diese Handelsbeziehungen gehen weit über das hinaus, was nicht nur die bürgerlichen Medien stets als «Milliardenhilfe von Venezuela für Kuba» tendenziös simplifizieren. Kuba hatte und hat etwas, was Chávez für seine Sozialprogramme dringend benötigt/e, SpezialistInnen in Gesundheit, Bildung, Landwirtschaft, Sozialarbeit, Sport, Kultur, etc., die sich - im Gegensatz zu vielen lokalen Kräften - nicht scheuten, in abgelegenen Gebieten und Slums zu arbeiten. Kubanische Arbeitskraft ist ein wesentlicher Teil der imposanten sozialen Errungenschaften Venezuelas in den letzten Jahren (einige nennen die Umverteilung von Öleinkommen «Populismus») und dies wurde mit Öl abgegolten. Eine neue Form von Süd-Süd-Kooperation, die auf den jeweiligen Stärken der beiden Länder und stabilen Preisen statt spekulativen Blasen beruht.

Venezuela ist bei Weitem nicht das einzige Land, an das Kuba Dienstleistungen verkauft (andere sind z.B. Südafrika, Angola, Algerien, aber auch Katar und Portugal), aber bei Weitem der wichtigste «Markt». In diesem Sinn ist die Stabilität in Venezuela kurz- und mittelfristig für Kuba vital. Das politische Testament von Chávez und die Kraft seines Vermächtnisses in die Hände von Nicolas Maduro und einer geeinte Partei gibt dem Land ein paar Jahre Zeit, um die seit jeher angestrebte und bereits begonnene Diversifizierung seiner Handelspartner und die internen Reformen zur Ankurbelung der Wirtschaft - ohne die sozialen Errungenschaften zu verlieren - weiter voranzutreiben.

Somit ist der Tod von Hugo Chávez für Kuba zwar ein Moment der tiefen Trauer, aber keine unmittelbare Bedrohung.

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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 173, 4. April 2013, S. 6-7
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juni 2013