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CORREOS/186: Venezuela - Schein und Sein in Mérida


Correos des las Américas - Nr. 177, 28. April 2014

Schein und Sein in Mérida

von Maja Hess



Die Eindrücke von Maja Hess von ihrer Reise nach Mérida machen die Problematik von Sein und Schein, von der venezolanischen Realität und ihrer Wiedergabe in den meisten Medien, sichtbar.


Es ist schon spät abends, als wir in El Vigia, südlich von Mérida, landen. Im Flug von Costa Rica nach Caracas baten uns die Flight Attendants, doch alle in den mittleren Teil der Maschine zu sitzen, da wir gerade mal 12 Personen waren, die nach Caracas fliegen wollten. Die Menschen scheinen von den in Lateinamerika, USA und Europa dauernd wiederholten Nachrichten über kriegsähnliche Zustände in Venezuela abgeschreckt zu sein und eine Reise nach Venezuela aus Angst zu vermeiden. Neuerdings sind sogar Flüge mangels Passagiere nach Venezuela gestrichen worden.

«Taxi, Taxi, Taxi...» wird uns von allen Seiten angeboten, als wir das kleine Flughafengebäude in El Vigia mit unserm Gepäck verlassen. Sobald wir jedoch unsern Zielort nennen, kommt eine Riesendiskussion auf. Einer der Taxifahrer macht die deutliche Geste des Halsabschneidens und rät uns, ein Hotelzimmer in der Nähe zu suchen. Mérida sei viel zu gefährlich, Barrikaden, brennende Autoreifen, Tote. Ausserdem sei kein Durchkommen.

Ein Privater bietet uns den Versuch einer Fahrt bis zum Eingang der Stadt an. Wir sind froh, dass wenigstens einer dieses Wagnis mit uns eingeht. Auf der Fahrt erzählt er uns, dass es in Venezuela an Allem mangle und alles ganz schrecklich sei. Als von uns ein paar Einwände kommen, wird das Thema gewechselt. Es ist einfacher, über Fussball in Venezuela zu reden als über Politik. Denn da scheint die Welt in zwei Wahrnehmungen gespalten zu sein. Die eine folgt dem Bild, welches die Medien tagtäglich in die Köpfe der Menschen schon fast rund um den Erdball brennen: eine massive Opposition gegen die unhaltbaren Zustände, Mangel an Allem, selbst Klopapier fehle. Massive Gewalt von Seiten der Ordnungskräfte, Repression und Verfolgung protestierender Studentinnen und Studenten. Auf der andern Seite steht das wirkliche Venezuela, welches sehr anders ist und komplexer zu verstehen.

So erreichen wir gegen elf Uhr nachts den Eingang der Stadt, wo der Engrosmarkt liegt, welcher die ganze Stadt mit Lebensmitteln versorgt. Dort hat die Opposition, los escuálidos (die Widerlichen) genannt, die Strassen in den vergangenen Wochen blockiert oder gar Lastwagen mit Lebensmitteltransporten angezündet, damit Schwierigkeiten bei der Versorgung mit Lebensmitteln und andern Gütern entstehen. So soll sich in den Köpfen der Menschen das Gefühl bilden, dass es an allem fehlt, obwohl das Gemüse im Engrosmarkt derweil verrottet.

Gespannt spähen wir auf die Strasse. Alles ist ruhig, kein Mensch, keine Barrikaden, keine Steine. «Die Oppostition muss auch mal schlafen gehen», meint der Companero sarkastisch, der mit uns unterwegs ist. «Die halten nicht, wie wir Linken, die ganze Nacht durch». Tatsächlich ist es ruhig, nicht nur am Eingang der Stadt, sondern die Fahrt durch Mérida gelingt diese Nacht mühelos und ohne Blockaden. Wir sind erleichtert. Wenige Tage zuvor ist nämlich eine chilenische Professorin der nationalen Uni von Mérida beim Versuch, Barrikaden abzuräumen, erschossen worden. Sie hinterlässt drei Kinder. Ihr Verbrechen war es, brennenden Abfall und Steine von der Strasse zu schaffen. Der Schütze blieb unerkannt. Bereits 28 Menschen sind in den letzten Wochen von der Opposition, welche dauernd ihre friedfertige Haltung betont, ermordet worden. Zwei davon sind junge Männer auf ihren Motorrädern, welche durch Drähte, die über die Strasse auf Höhe des Halses gespannt wurden, geköpft worden sind. Auf Facebook hat die Rechte triumphierend ihre Basis aufgefordert, überall solche Drähte über Strassen zu spannen. Opfer dieser brutalen Aktion sollten die Tupamaros sein, eine Gruppe junger, motorisierter Männer, welche in einer Blitzaktion versuchen, die Barrikaden von den Strassen zu räumen und diese für den Verkehr wieder frei zu machen.

In den durch Gittertore geschützten Vierteln der Mittelschicht türmt sich der Abfall. Nicht etwa, weil die Müllabfuhr versagt, sondern weil Haushaltsabfall das Material ist, aus dem die Barrikaden gebaut werden. Deshalb stinkt es ganz schön in diesen Vierteln. Auch zum Abfallsammeln wird in Facebook aufgerufen. Wer nicht mitmacht, wird bedroht. Andrea, eine junge Frau und Mutter einer kleinen Tochter, wohnt mit ihren Eltern in einem dieser Einfamilienhäusern im Mittelschichtsghetto von Mérida. Da ihre Familie klar chavistisch ist und bei den Aktionen gegen die Bevölkerung nicht teilnimmt, werden sie via Facebook bedroht und dort wird offen, von Unbekannt natürlich, dazu aufgerufen, diese Familie anzugreifen. Das ist im Venezuela von heute ganz schön ungemütlich. «Wir haben Angst», meint Andrea, «aber wir wollen uns nicht einschüchtern lassen». Am 24. März haben Unbekannte Öl in den Tank der Trinkwasserversorgung geschüttet. Ein Tag lang kein Trinkwasser. So friedfertig, harmlos und verfolgt ist die Rechte also....

In San Cristóbal, Grenzstadt zu Kolumbien, ist die Situation besonders kritisch. Dort, aber nicht nur dort, ist die oppositionelle Rechte durchsetzt von kolumbianischen Paramilitärs. Diese haben gelernt zu töten und scheuen sich nicht davor, höchst gewalttätig aufzutreten und Chavisten oder AktivistInnen rücksichtslos umzubringen. Allerorten hören wir, dass gezielt Kriminelle oder eben Paramilitärs für ihre Aktionen gegen die chavistische Bevölkerung bezahlt werden. Und dabei anscheinend nicht schlecht. In wenigen Tagen verdienen sie dabei soviel wie der Mindestlohn in Venezuela, nämlich 300 US$. Nicht nur so kann die schwierige Situation ausgenutzt werden. Ein ungebremster Schmuggel von Lebensmitteln, und zwar Lastwagen-weise, und Benzin über die (grüne) Grenze nach Kolumbien, wo Lebensmittel und Benzin ungleich viel teurer sind, garantiert saftige Gewinne. Gleichzeitig haben die grossen Lebensmittelproduzenten die Produktion von 5 wichtigen Nahrungsmitteln (Milchpulver, Öl, Mais- und Weizenmehl, Klopapier) drastisch gesenkt. So eskaliert der ökonomische Krieg gegen die Bevölkerung.

Aber es gibt auch Gegenbewegungen und kreativer und mutiger Widerstand. Barrikaden zu entsorgen kann tödlich sein. So führen die Tupamaros und die Piedritas, zwei verschiedene Gruppen junger Linker, gezielte, schnelle und fantasievolle Aktionen gegen die oppositionelle Rechte durch. Nebst dem blitzartigen Abräumen von Blockaden haben sie auch schon in einer Nacht- und Nebelaktion die Gittertore vor den Mittelschichtsstrassenzügen zugeschweisst. So soll die oppositionelle Mittelschicht dort bleiben, wo sie ist: in ihren Einfamilienhausghettos. Vielleicht realisiert sie dann, dass sie sich mit ihren Aktionen ins eigene Fleisch schneidet. Mérida zum Beispiel ist eine Stadt, die wegen ihrer wunderbaren Umgebung und Einbettung in eine imposante Bergkette vom Tourismus lebt. Dieses Jahr sind auffällig wenige TouristInnen gekommen und so bleibt für manche der Verdienst aus. Die Universitäten werden von den rechten StudentInnen zerstört, Bibliotheken vernichtet, Busse verbrannt, die Trinkwasserversorgung sabotiert etc. So gibt es doch ein paar Stimmen unter der Rechten, welche diese Eskalation von Gewalt und Zerstörung selbst nicht mehr gutheissen. Leider hat aber nicht ein oppositioneller Bürgermeister auch nur ein einziges Mal die gewalttätigen Aktionen der Rechten verurteilt. Da haben sie nobel geschwiegen.

Aber eben: Realität und die mediale Berichterstattung reflektieren zwei völlig verschieden Welten. In der realen Welt geht das Leben nämlich auch ganz einfach weiter. In den meisten Gemeinden und Städten ist es ruhig. Auch in Caracas brennt es vorwiegend in Altamira und Chacao, den Mittel- und Oberschichtsvierteln. Der Rest der Stadt ist ruhig. Und Maduro, der Präsident und Nachfolger von Chávez, hat alles daran gesetzt, diese Gewalt nicht explodieren zu lassen.



Die Autorin ist aktiv in medico international schweiz.


(zas, 18.3.14) Kurz nach der Abreise von Maja Hess tauchten ein Video und Informationen zu einem weiteren Mord der «Friedfertigen» an einer Chavista auf:

Das englisch untertiteltes Video (www. youtube.comwatch?v=eqKMLXy7g9I) zeigt den Widerstand des Armenquartiers Pie del Toro in Mérida gegen den Barrikadenterror seiner Nachbarn aus einem besseren Quartier, errichtet an seinen Zugängen. Über die sozialen Hintergründe des Widerstandes gegen den Terror von oben.

Zwei Tage nach den Videoaufnahmen wurden in Pie del Tiro zwei Mitglieder der Basisorganisationen beim Barrikadenräumen von Scharfschützen angeschossen. Griselda Figueroa erlitt einen Kopfschuss und starb einen Tag später, am 9. März 2014.

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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 177, 28. April 2014, S. 10-11
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2014