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CORREOS/189: Venezuela - Der Krieg gegen das Soziale


Correos des las Américas - Nr. 177, 28. April 2014

Der Krieg gegen das Soziale
Zum Versuch der Paramilitarisisierung Venezuelas.

von Dario Azzellini



(31.3.14) In deutschen und internationalen Medien ist immer noch von «Protesten» in Venezuela und «Toten bei Protesten» zu lesen - doch mit dem, was gemeinhin als «Protest» verstanden wird, haben die Aktionen kleiner, bewaffneter, agiler Gruppen seit spätestens Anfang März nichts mehr gemein. Nachdem die gewalttätige Mobilisierung der Opposition, die Anfang Februar begann und von einer beispiellosen internationalen Medienkampagne begleitet wurde, ihr Ziel des Sturzes der Regierung in Venezuela nicht erreichen konnte, sind die Aktionen zunehmend in Terrorismus übergegangen. Zwar war Gewalt von Beginn an Teil der oppositionellen Mobilisierung, denn es sollte ja vom Staat oder von der chavistischen Basis eine gewalttätige Reaktion provoziert werden, die weitere Schritte - von der internationalen Isolation bis zu einer Intervention - rechtfertigen würde, doch trotz zahlreicher Morde an Sicherheitskräften, Regierungsanhängern und Unbeteiligten hielten sich sowohl die Ordnungskräfte als auch die Basis des Transformationsprozesses zurück. Die Provokation gelang nicht.

Im Laufe des Monats März sind die «Unruhen» zu Aktionen von kleinen Gruppen geschrumpft, die in etwas mehr als einem Dutzend Verwaltungsbezirken aktiv sind. Ihre Ziele und Methoden entsprechen immer deutlicher den traditionellen CIA-Vorgaben für einen Zermürbungskrieg, ähnlich dem, der auch gegen das sandinistische Nicaragua in den 1980er Jahren geführt wurde. Von den 37 Personen, die bis am 28. März in Verbindung mit den oppositionellen Aktivitäten getötet wurden, gehört nur eine Minderheit der Opposition an, davon sind wiederum die meisten von anderen Oppositionellen beziehungsweise von Unbekannten umgebracht worden oder bei Unfällen ums Leben gekommen.(1) Acht der Opfer sind Angehörige von Sicherheitskräften (Nationalgarde und Polizisten). Sie fielen häufig gezielten Schüssen (meist in den Kopf) aus großer Entfernung zum Opfer. Aber auch diverse Regierungsangestellte, Regierungsanhänger und sogar Oppositionelle und sich keinem Lager zurechnende Personen wurden beim Abräumen von Barrikaden getötet. Vor allem in der Andenstadt Mérida, an der Grenze zu Kolumbien, wird scharf geschossen. Auf Dächern postiert, nehmen Schützen mit Gewehren zentrale Kreuzungen unter Beschuss, dabei töteten sie bereits diverse Personen.

In den Bundesstaaten Táchira, Aragua, Mérida, Zulia, Bolívar, Anzoátegui, Lara, Barinas und selbst in Caracas wurden Bomben- und Brandanschläge auf Strom- und Stromumspannungswerke verübt, um die Energieversorgung zu sabotieren, ebenso wurden diverse Universitäten mit Brandbomben angegriffen, an denen vorwiegend Arme studieren. Ebenso waren Kindergärten, Lebensmittelvertriebe, die staatliche Telefongesellschaft und über ein Dutzend ihrer Fahrzeuge, Tourismusbehörden, Wahlbehörden, U-Bahnstationen, Nahverkehrsbusse, Ärztehäuser und andere Sozial- und Infrastrukturprojekte von Anschlägen betroffen. In Merida wurde das Trinkwasserreservoir absichtlich mit großen Mengen Treibstoff verunreinigt, in Caracas der Wald des Naturreservats an der Nordseite der Stadt angezündet, um die Stromtrassen, die die Stadt versorgen, zu zerstören.

Hinter den Anschlägen und Angriffen stecken drei verschiedene Organisationsmuster, die alle derselben Destabilisierungsstrategie folgen. Gruppen von meist Jugendlichen bauen Barrikaden, versetzt mit Todesfallen aus Stacheldraht, greifen in Gruppen Ordnungskräfte und Institutionen mit Molotovcocktails an und attackieren jene Anwohner und Anwohnerinnen, die sich gegen die Aktionen aussprechen oder versuchen, Barrikaden abzubauen. Diese Gruppen zählen häufig auf sowohl militärisch erfahrene Berater wie auch auf bereitgestellte Infrastruktur (von Kampfmaterial wie Stacheldraht, Molotovcocktails, Benzin usw. bis hin zu Handfeuerwaffen und Orten, um das Material in unmittelbarer Nähe der Auseinandersetzungen über Wochen zu lagern). Dabei finden diese Aktionen fast ausschließlich in oppositionell regierten Bezirken statt, denn dort ist ihnen die vielfältige Unterstützung der Bürgermeister sicher: Müll wird nicht mehr beseitigt, damit Material für den Barrikadenbau vorhanden ist, und die lokale Polizei wird nicht eingesetzt, um Barrikadenbau zu verhindern oder Barrikaden abzubauen.

In einem kürzlich veröffentlichten Video(2) ist zu sehen, wie eine gut organisierte Gruppe (deren teure Autos auch eine eindeutige Klassenzugehörigkeit verraten) in Las Salías im Bundesstaat Miranda Material für eine Straßenblockade heranfährt, Kisten voller Molotovcocktails entlädt, Benzin ausschüttet und schließlich den Wald anzündet. Seit Beginn der Ausschreitungen Anfang Februar gab es in Las Salías, einem Bezirk der oberen Mittelschicht, bereits 36 absichtlich herbeigeführte Waldbrände. Der Bürgermeister gehört der Partei Primero Justicia von Henrique Capriles an und hat enge Verbindungen zur Rechtspartei Voluntad Popular (VP).Der bereits inhaftierten Oppositionsführer Leopoldo López von der rechtsextremen Voluntad Popular unterstützt die Gewalt offen und ist gut mit dem ehemaligen kolumbianischen Präsidenten Álvaro Uribe bekannt, der als wichtigster Förderer des kolumbianischen Paramilitarismus gilt, dem mindestens 250.000 Menschen zum Opfer gefallen sind.

Zum Zweiten agieren in den gewaltsamen Destabilisierungs-Aktionen auch bezahlte kriminelle Banden. Aussagen von polizeibekannten Bandenmitgliedern und veröffentlichte Telefonmitschnitte von Unterhaltungen oppositioneller Politiker bestätigen dies. Diese Banden kommen für den Straßenkampf, Plünderungen und gezielte Angriffe zum Einsatz. Rekrutiert werden sie bereits seit Jahren von paramilitärischen Sektoren, die den Drogenhandel kontrollieren und darüber kriminelle Banden in den Stadtteilen kooptieren. Diese werden auch für gezielte Morde an Aktivistinnen und Aktivisten in den Armenstadtteilen eingesetzt. Und grundsätzlich sollen sie das soziale Geflecht zersetzen, Terror und Angst sollen an die Stelle der wachsenden solidarischen Beziehungen treten.

Als dritte Variante der gewaltsamen Destabilisierung agieren paramilitärische Zellen mit gut bewaffneten und auch ausgebildeten Kämpfern aus Venezuela, Kolumbien und anderen Ländern. Diese treten bisher allerdings nicht offen als eine militärische Struktur (so wie die Contras in Nicaragua) auf, da dies in der momentanen Situation für die Opposition Spielräume in der internationalen Öffentlichkeit ebenso wie im Land selbst stark reduzieren würde.

Die Strategie der Destabilisierung versucht die Bedingungen zu schaffen, damit die linke Regierung in Venezuela fällt. Eine direkte militärische Intervention der USA ist auch mittelfristig eher unwahrscheinlich. Die politischen Verhältnisse in Lateinamerika lassen dies kaum zu. Der Schaden für die USA könnte größer sein als der Nutzen, zumal die USA nicht riskieren können, Venezuelas Erdölexporte über längere Zeit ausfallen zu lassen. Eine militärische Intervention von außen könnte die Linke in Venezuela und Lateinamerika eher stärken. Auch die massive Finanzierung und Unterstützung der Opposition zeigte nicht die erwünschten Ergebnisse. So setzen die USA, die Rechte des Nachbarlandes Kolumbien und Teile der venezolanischen Opposition auf Paramilitarismus, Anschläge und Zerstörung. Dadurch sollen die Lebensbedingungen so weit verschlechtert werden, dass bei der nächsten Wahl die Opposition gewinnt.

Die beschriebene dreigliedrige gewaltsame Strategie ist bereits seit mindestens 2007 für Kenner von US-Geheimoperationen und paramilitärischer Vorgehensweisen ersichtlich. Ihre weitere Verbreitung ist nicht unwesentlich dem Umstand zu verdanken, dass sowohl die meisten Regierungsinstitutionen als auch die meisten Basisbewegungen in Venezuela das Problem lange stark unterschätzt haben.

In einer ersten Phase drang der kolumbianische Paramilitarismus wirtschaftlich in Venezuela ein. An ihn gebundene Personen aus Venezuela und Kolumbien haben gezielt Häuser und Grundstücke gekauft sowie massiv Kapital investiert. Sie haben diverse legale und illegale wirtschaftliche Aktivitäten unter ihre Kontrolle gebracht und konnten eine Infrastruktur und Logistik aufbauen, die es ihnen gestattet, sichere Orte zu haben, um zu agieren und sich zurückzuziehen, wenn es darauf ankommt. Der Paramilitarismus kontrolliert beispielsweise den Benzinschmuggel von Venezuela nach Kolumbien. Angesichts der venezolanischen Benzinpreise von nur einigen Cent pro Liter ist dies ein riesiges Geschäft. Der Paramilitarismus kontrolliert auch wesentlich den Kokainhandel und große Teile des Schmuggels von Lebensmitteln.

Der massive Schmuggel von Lebensmitteln nach Kolumbien ist auch zu einem beträchtlichen Teil für Versorgungsengpässe in Venezuela verantwortlich. Hinzu kommen weitere Erscheinungen des kolumbianischen Paramilitarismus auf venezolanischem Territorium wie zum Beispiel die Zusammenarbeit mit Viehzüchtern. Viele der Killer der seit Erlass der Bodenreform 2001 ermordeten 300 Landarbeiter und Landarbeiterinnen sind kolumbianische Paramilitärs. Auch zahlreiche BasisaktivistInnen, Gewerkschafts- und PSUV-Angehörige wurden in den vergangenen Jahren Opfer von Mordanschlägen.

Der Paramilitarismus begann über die Grenzregionen zu Kolumbien wie Táchira und Merida nach Venezuela einzudringen. So sind diese Regionen auch aktuell Hochburgen der «Proteste», gewaltsamer Aktionen und Sabotage. Aus militärisch-strategischer Sicht bieten San Cristóbal und die Region Táchira eine Verbindung zu Kolumbien und den Zugang zu den Anden. Diese stellen einen «Korridor» in das venezolanische Territorium bis zur Küste und in eine der wichtigsten Regionen industrieller Produktion dar. Außerdem schneiden die Anden den wichtigsten erdölproduzierenden Bundesstaat Zulia vom Rest des Landes ab.

Kriegführung mit Guerilla-Taktiken baut auf der Schaffung von strategischen «Korridoren» auf, durch die Menschen und Material möglichst gefahrlos transportiert werden können und die geographisch den Zugang zu wichtigen Angriffszielen bieten. Der zweite wichtige Korridor ist der Küstenstreifen (also vor allem Valencia, Caracas, der Bundesstaat Anzoátegui und Sucre). Und schließlich der «Südkorridor», vor allem das Gebiet der Schwerindustrie im Bundesstaat Bolívar.

Tatsächlich ereignen sich die Sabotageaktionen schwerpunktmäßig entlang strategischer Punkte dieser Korridore. Angesichts des beschriebenen Kontextes kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Anschläge und Sabotageaktionen wieder von selbst abnehmen oder aufhören. Im Gegenteil ist davon auszugehen, dass bereits eine neue Phase der konterrevolutionären Aktivitäten eingeläutet wurde und die Anschläge und Sabotageaktionen auf wesentlich höherem Niveau als vor Februar 2014 fortgesetzt werden. Sollte die Destabilisierung nicht zum gewünschten Erfolg führen - also weder zum Fall der Regierung noch zu ihrer Niederlage bei den nächsten Präsidentschaftswahlen - dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass der Paramilitarismus in Venezuela der Regierung und den Basisorganisationen offen den Krieg erklärt. Ein naheliegendes Szenario wäre, dass bei erneuter Niederlage gegen den Chavismus, die Opposition mit Unterstützung der USA einen vermeintlichen Wahlbetrug denunziert und daraufhin bewaffnete «Befreiungskräfte» ihre Gründung bekanntgeben - als einziger Weg, um gegen das «Regime» vorzugehen.

leicht gekürzt aus azzellini.net


Anmerkungen:

(1) Am 29. März kamen zwei Oppositionelle ums Leben: In Maracaibo starb ein 33-Jähriger beim Hantieren mit einem selbstgebastelten Sprengsatz und im Bundesstaat Táchira starb ein 44-Jähriger an einem Stromschlag bei der Beschaffung von Material für eine Barrikade.

(2) youtube.com/watch?v=aKHrx9d6Ocg

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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 177, 28. April 2014, S. 5-6
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juni 2014