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CORREOS/202: El Salvador - Das Oberste Gericht gegen die Demokratie


Correos de las Américas - Nr. 182, 22. September 2015

Das Oberste Gericht gegen die Demokratie
Wikileaks enthüllt, wie Washington und die Rechte El Salvador gegen "Unfug" des FMLN immunisieren wollten.

von Hilary Goodfriend


(8.8.2015) Am 20. Juli 2015 warnte die salvadorianische Regierung offiziell vor dem Unterfangen rechter Kräfte, "eine Bewegung für den Staatsstreich" zu organisieren gegen die "Regierung des Volkes, eine legale, eine legitime Regierung, die täglich für die Interessen der Bevölkerung kämpft". Anschuldigungen wegen putschistischer Umtriebe sind in der kleinen zentralamerikanischen Republik in letzter Zeit öfters erhoben worden. Zwei Monate nach den Parlamentswahlen vom letzten März hatte das Land kein Parlament. In einem beispiellosen Manöver hatte die Verfassungskammer des Obersten Gerichts bis zur Beendigung einer [von ihr angeordneten Nachzählung, s. Correos 181] die Vereidigung der frisch gewählten Abgeordneten ausgesetzt. Sie brachte damit einen Teil des Staates zum Stillstand. Die heutige Parlamentspräsidentin sprach damals von einem "technischen Coup d'État", die US-Botschaft von "Institutionalität".

In den letzten Wochen kam es zu einer Serie von Vorfällen, die von Regierungsfunktionären und AktivistInnen als Teil einer "Strategie eines sanften Putsches" gewertet werden. Seit dem Amtsantritt des linken Präsidenten Salvador Sánchez Cerén hat eine mit Banden-Kriminalität zusammenhängende Mordrate weitere knappe staatliche Ressourcen belastet. Polizeichef Mauricio Landaverde sprach von einer von Bandenchefs angeordneten Kampagne mit möglichen politischen Hintergründen. Anfang August demonstrierte eine Gruppe bewaffneter und uniformierter Soldaten für Lohnzulagen; die Militärführung eröffnete darauf gegen vierzehn Soldaten ein Verfahren wegen Aufwiegelung. Letzte Woche verursachten Bandendrohungen gegen Buschauffeure die Einstellung der Fahrten auf Dutzenden von hauptstädtischen Linien. StaatsfunktionärInnen bewerteten dies als "Sabotage". Rechtsgerichtete Gruppen verbreiten in den social media Aufrufe zum Sturz der Regierung und der Ansturm der konservativen Massenmedien trägt täglich zu einem Klima der Verunsicherung bei.

Die Pläne zur Unterminierung linker Regierungen gehen schon auf die Zeit vor der Regierung von Sánchez Cerén, dem ersten Ex-Guerillero der linken FMLN-Front, der Staatspräsident wurde, zurück. Die Speerspitze dieser Strategie ist das Oberste Gericht des Landes - und die US-Regierung war von Anfang beteiligt. Seit Obamas Vorschlag letzten Januar, den zentralamerikanischen Ländern $1 Mrd. Hilfe zu geben, angeblich um die Welle illegaler Immigration in die USA zu stoppen, dreht sich die Debatte im US-Kongress um Belange wie "Rechtsstaatlichkeit", "Institutionalität" und "gute Regierungsführung" im zentralamerikanischen Norddreieck von Guatemala, Honduras und El Salvador. Solche Begriffe haben aller Erfahrung nach für das US-State Department eine ganz spezifische Bedeutung, wie seine langjährige Politik der Unterstützung repressiver, antidemokratischer Regierungen in Honduras und Guatemala belegt. Aber in El Salvador hat die US-Befürwortung der "Institutionalität" eine wirklich Orwellsche Wendung genommen. Hier unterminieren die eskalierenden Urteile des Obersten Gerichts gegen die Exekutive und das Parlament aktiv die Regierbarkeit.

Während Jahrhunderten herrschte im Land eine repressive militärische und oligarchische Ordnung. Die Friedensverträge von 1992 brachten 20 Jahre Regierung durch die US-gestützte ARENA-Regierung, deren Regierungen von zerstörerischer ökonomischer Liberalisierung und galoppierender Korruption geprägt waren. 2009 aber gewann der fortschrittliche Journalist Mauricio Funes in Allianz mit dem FMLN die Präsidentschaftswahlen und 2014 folgte der FMLN-Sieg mit Sánchez Cerén. Der oligarchische Machtverlust stellte einen bedeutenden Schritt in Richtung Demokratie in El Salvador dar. Nicht nur haben bahnbrechende Sozialprogramme den Zugang der armen Mehrheit zu qualifizierter Erziehung und Gesundheitsversorgung ermöglicht, sondern es kam auch zu einschneidenden institutionellen Reformen. Das Wahlsystem ist mit u. a. der Einführung des Wohnortsprinzips und dem Beginn der Wahlmöglichkeit für SalvadorianerInnen im Ausland transparenter und zugänglicher geworden. Ein neues Gesetz für Zugang zu öffentlichen Informationen brachte die Schaffung eines Instituts mit dem Auftrag, den Zugang der BürgerInnen zu öffentlichen Informationen zu garantieren. Zudem wurden millionenschwere Korruptionsfälle früherer Regierungen enthüllt, so dass gegen Dutzende von hohen FunktionärInnen, darunter ein ehemaliger Staatspräsident, Verfahren wegen Missbrauchs öffentlicher Mittel eröffnet wurden.

Wenig überraschend wird dies von der Landeselite und ihren US-Verbündeten nicht estimiert. Sie waren es gewohnt, Staatsgelder als private Sparschweinchen zu benutzen und die Landesressourcen und Arbeitskräfte straffrei für die transnationale Ausbeutung zu vernutzen. Anders als im Fall von Honduras, wo Washington offen den Militärputsch 2009 gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Manuel Zelaya unterstützte, verfolgen die USA in El Salvador eine sanftere Strategie. Während Washington freundschaftliche diplomatische Beziehungen mit den FMLN-Regierungen pflegt, arbeitet es mit seinen Verbündeten im Land daran, institutionelle und wirtschaftliche Reformen durchzusetzen, die die Möglichkeit der jetzigen und zukünftiger Regierungen einschränken würden, strukturelle Veränderungen gegen die neoliberale, Business-orientierte Agenda in Gang zu bringen. Gleichzeitig hat die US-Entwicklungsagentur USAID destabilisierende Kräfte im Land finanziert.

2008, am Vorabend der Präsidentschaftswahlen von 2009, schickte der damalige US-Botschafter Charles Glazer ein später von Wikileaks enthülltes Kabel an das State Department über Informationen, die ihm Salvador Samayoa, ein früherer FMLN-Leader und heute rechtsgerichteter Analyst, mitgeteilt hatte. Botschafter Glazer schrieb: "Samoyoa berichtete uns von einem in Ausarbeitung befindlichen 'Plan B', um El Salvador von Unfug des (linken) FMLN abzuschirmen, sollte Mauricio Funes die Wahlen von März 2009 gewinnen. Der Planentwurf soll sich darauf konzentrieren, einen katastrophalen Verlust der (konservativen, Pro-US-) ARENA im Parlament zu verhindern, auf die Schnelle Wahl von Magistraten des Obersten Gerichts noch in der laufenden Parlamentsperiode und auf die legislative Stärkung existierender salvadorianischer Institutionen vor der Wahl 2009." Das Kabel fügt weiter unten an: eine "bedeutende Komponente des Plans soll die Kontrolle von Schlüsselinstitutionen einschliesslich des Obersten Gerichts und der Streitkräfte im Fokus haben. Was das Gericht betrifft, hielt Samoyoa fest, dass 5 Mitglieder bis am 1. Juli 2009 ersetzt werden müssen, vier von ihnen in der Verfassungskammer des Gerichts .... Sie denken, die Wahl neuer Magistraten ist machbar." Der Botschafter schliesst mit dieser Bemerkung: "Die Tatsache, dass sie langfristig denken und versuchen, El Salvador vor befürchtetem FMLN-Unfug abzuschirmen, ist beruhigend".

Die schlimmsten Befürchtungen des State Departments wurden wahr: Der FMLN gewann die historischen Wahlen von 2009. Und wie in Aussicht gestellt, starte die rechte den Plan B. Wie die jüngsten Interventionen der Verfassungskammer zeigen, funktioniert die Strategie recht gut. Die 2009 von einem von ARENA dominierten Parlament stellt eine der grössten Herausforderungen für die Umsetzung der Regierungsplattform und für die zunehmende politische Macht des FMLN dar.

Seit ihrer Wahl haben vier der fünf Mitglieder der Verfassungskammer - wegen ihrer beispiellosen Einmischung in die Politik als die "phantastischen Vier" bekannt - die Interessen der reichen Eliten vehement verteidigt. Im Februar 2014 beurteilten sie eine Motorfahrzeugsteuer zugunsten von Verkehrsopfern als verfassungswidrig ein. Im folgenden November suspendierten sie eine von Präsident Sánchez Cerén vorgeschlagene Initiative mit Anreizen für die Bezahlung ausstehender Steuern in der Höhe von hunderten von Millionen Dollars. Im April 2015 verwarfen sie eine vom FMLN eingebrachte Gewinnsteuer von mindestens 1 Prozent des Bruttoumsatzes eines Unternehmens, das während zweier Jahre Verluste angibt. Letzten Juni versetzten sie der Administration Sánchez Cerén einen schweren Schlag, als sie die vom Parlament verabschiedeten Bonds in der Höhe von $ 900 Mio. zur Finanzierung von Sozialprogrammen und von wichtigen Sicherheitsmassnahmen angesichts der eskalierenden Bandengewalt einfroren. "Es macht den Anschein, dass die Verfassungskammer die Regierung finanziell knebeln will", warnte danach Präsident Sánchez Cerén. "Ihre Aktionen sind mehr ideologischer Natur und sie sind den dominanten Gruppen im Land und den Interessen der ARENA-Partei verpflichtet".

Ihre politische Ausrichtung legten die Magistraten der Verfassungskammer auch im Verlauf der Wahlen 2015 dar, als sie ihre Zuständigkeit unverschämt ausweiteten. Das Oberste Wahlgericht ist laut Verfassung die in Wahlbelangen höchste Autorität. Dessen ungeachtet verordnete die Kammer in den letzten Monaten, sogar Tagen, vor der Wahl eine Reihe von drastischen Veränderungen am Wahlsystem. Das Ziel war dabei die Schwächung der Position der politischen Parteien nach wiederholten Wahlsiegen des FMLN und einer damit einhergehenden Schwächung der rechten Opposition. Das verwirrte die WählerInnen und streute Misstrauen bezüglich des Wahlgerichts, aber auch der FMLN-Regierung, die von den konservativen Medien des Landes verantwortlich für die mit den Kammer-Entscheiden unvermeidlich gewordenen Verzögerungen und anderen Problemen im Wahlprozess gemacht wurde. Die destabilisierende Strategie wurde mit dem Beschluss der Kammer, eine Neuauszählung anzuordnen und bis zu deren Beendigung den Amtsantritt des neu gewählten Parlaments zu verbieten, besonders deutlich. In diesem Zusammenhang fiel die oben zitierte Äusserung der Parlamentspräsidentin vom technischen Putsch.

Die US-Botschaft hingegen unterstützt die Verfassungskammer. Wenig überraschend angesichts der Wikileaks-Enthüllung, dass die US-Botschaft über die Pläne der Rechten Bescheid wusste. 2013 hatte die Vierermehrheit der Kammer ihren Vorsitzenden, den einsamen Progressiven im Verbund, mit einem äusserst kontroversen und unlogischen Beschluss abgesetzt, in dem sie den Magistraten eine direkte Verbindung mit politischen Parteien untersagten. Als dieses Urteil einen Aufschrei im Regierungslager auslöste, drohte US-Botschafterin Mari Carmen Aponte mit dem Stopp der [US-staatlichen] Millenium Challenge Corporation-Hilfe in Millionenhöhe und erklärte öffentlich: "Die Rechtsstaatlichkeit und die Stärke der Institutionen gehören selbstverständlich zu den Kriterien, welche die Millenium Challenge Corporation bei ihren wichtigen Entscheidungen berücksichtigt ... Wir haben klar gesagt, dass die Entscheide der Verfassungskammer um des Wohls der Institutionalität des Landes willen respektiert werden müssen."

Trotz des US-Diskurses von Institutionalität und Rechtsstaatlichkeit gefährdet die dramatische Transformation der Verfassungskammer in aktive Politikgestalter das System der checks and balances, der Gewaltenteilung des Landes. Die rücksichtslose Anmassung der "phantastischen Vier" in Bereichen der Legislative und der Exekutive bedroht die demokratischen Institutionen, für die die SalvadorianerInnen so viel geopfert haben. Die Kammer ist mit voller Kenntnis und Unterstützung der USA Teil einer Destabilisierungsstrategie, um Ungleichheit, politische Repression und Straflosigkeit in El Salvador wieder voll durchzusetzen.


Hilary Goodfriend lebt in El Salvador, wo sie ihren Master an der Jesuitenuni UCA macht.

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Quelle:
Correos de las Américas, Nr. 182, 22. September 2015, S. 12-13
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
Tel.: 0041-(0)44/271 57 30
E-Mail: zas11@sunrise.ch
 
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Abonnement: 45,-- CHF


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. November 2015

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