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CORREOS/207: Mexiko - Staatsfeind Nr. 1


Correos de las Américas - Nr. 183, 23. Dezember 2015

Staatsfeind Nr. 1

von Philipp Gerber


Die CNTE ist Zielscheibe staatlicher Diskreditierung und Repression in Mexiko. Diese oppositionelle Strömung der mexikanischen LehrerInnengewerkschaft SNTE weist zahlreiche interne Widersprüche auf. Dennoch ist sie die gesellschaftliche Speerspitze gegen neoliberale Reformen, besonders die Bundesstaat Oaxaca. Seit der Verabschiedung einer «Bildungsreform» steht sie besonders unter Druck.


«Sie haben uns behandelt wie den letzten Dreck», ruft die Sekretärin Itandehui N. empört. Sie schildert, wie sie tags zuvor, am 17. August, im Staatlichen Bildungsinstitut Oaxacas IEEPO ihren letzten Arbeitstag hatte. Vor dem Gebäude des IEEPO stehen seit einem Monat mehrere hundert PolizistInnen in Kampfmontur Wache, seit die Regierung beschloss, die Macht der unbequemen LehrerInnengewerkschaft in Oaxaca mit militärischen Mitteln zu brechen. Als «Blitzkrieg gegen die Lehrer« bezeichnete der bekannte Journalist Luis Hernández das Regierungshandeln. Bei jedem Arbeitsplatz war ein Notar, die 800 in der LehrerInnengewerkschaft organisierten MitarbeiterInnen mussten ihren Schreibtisch unter genauester Aufsicht räumen. Der Notar begutachtete jedes Blatt, jeden Kugelschreiber, und entschied, ob es ein persönlicher Gegenstand sei oder der Institution gehöre. «Mehrere Kollegen und Kolleginnen ertrugen diese despotische Behandlung nicht und erlitten Nervenzusammenbrüche», so Itandehui. Das Verwaltungspersonal wird ab Schuljahresbeginn in Schulen eingesetzt. Kein gewerkschaftlich organisiertes Personal soll mehr in der Verwaltung, keine Lehrperson hauptamtlich in der Gewerkschaft tätig sein, so das Vorhaben der Regierung. Es ist Teil der grossen Bildungsreform, die nach der dafür notwendigen Änderung der Verfassung 2014 vom mexikanischen Bundesparlament beschlossen wurde.

Seither befindet sich ein Teil der Nationalen Gewerkschaft der Erziehungsarbeiter SNTE, mit über einer Millionen Mitgliedern die grösste Gewerkschaft Lateinamerikas, in Dauermobilisierung gegen die Reformmassnahmen. Bei diesem Teil handelt es um die CNTE, die oppositionellen Strömung innerhalb der SNTE, welche rund 200.000 LehrerInnen vertritt. 1979 gegründet, repräsentiert sie den Teil des Lehrpersonals, das die korporativistische Anbindung an die Revolutionäre Institutionelle Partei (PRI) - über 70 Jahre quasi Staatspartei - und die antidemokratischen, korrupten Strukturen des SNTE nicht hinnehmen wollte. Ihre Mitglieder pflegen meist ein klassenkämpferisches Vokabular, viele der lokalen Untergruppen haben einen zapatistischen, maoistischen, sozialistischen oder sogar offen stalinistischen Hintergrund. Besonders in ländlichen Regionen mit niedrigem Bildungsgrad gelten die LehrerInnen traditionell als lokale Autoritäten, die es auch als ihre Aufgabe sehen, die Bevölkerung vor den Begehrlichkeiten des Staats und der mit ihm verbundenen wirtschaftlichen Eliten zu schützen. So ist die CNTE vor allem in den südlichen, extrem armen, indigen geprägten Bundesstaaten wie Chiapas, Guerrero oder Michoacán stark vertreten. So auch in Oaxaca, wo die lokale Sektion 22 mit einer Mitgliederzahl zwischen 75.000 und 83.000 (genaue offizielle Zahlen gibt es nicht) die grösste organisierte gesellschaftliche Gegenmacht zum Staat darstellt und ihr Mobilisierungspotenzial immer wieder beweist, nicht nur bei Bildungsthemen.

Kein Thema erhitzt die Gemüter in Oaxaca so sehr wie das der maestros. Auf allen Kanälen werden die LehrerInnen beschimpft und als «faule Dauerdemonstranten« denunziert, die das Wohl der SchülerInnen ihren Eigeninteressen unterordneten. Die Sektion 22 wird als «korrupt», «mafiös», «Organisierte Kriminalität» oder rundweg «terroristisch» bezeichnet, ihr müsse endlich der Garaus gemacht werden, predigen die Leit- und Lokalmedien seit Jahren. Die Kampagne ist orchestriert von der unternehmernahen Lobbyvereinigung Mexicanos Primero. Deren Reformvorschläge waren Blaupause für die Verfassungsreform im Bildungswesen, einige Passagen wurden gar wortwörtlich übernommen. Dagegen halten die LehrerInnen - und in sozusagen jeder grösseren Familie Oaxacas ist dieser Berufsstand vertreten - ihr aufopferndes Engagement für die zukünftigen Generationen aufrecht. Oft sind die Arbeitsbedingungen alles andere als einfach. Stundenlange Anreise für Lehrpersonal und Kinder, fehlende Lehrmittel und prekäre Einrichtungen, Unter- und Fehlernährung sind nur einige Stichworte. Die Gewerkschaft hat mit ihren regelmässigen Streiks und Blockaden eine Reihe von Verbesserungen erzwungen, auch aber nicht nur für die Lehrkräfte: Die obligatorischen Schuluniformen sind gratis, in vielen Schulen ermöglicht ein bescheidenes Frühstück erst das Lernen der Kinder, die kulturelle Vielfalt wird in den Lehrplan einbezogen.

Für ihr Engagement und ihren Aktivismus mussten und müssen die LehrerInnen oft teuer bezahlen. Polizei und regierungsnahe bewaffnete Gruppen gehen häufig mit brutaler Gewalt gegen sie vor. Verprügelte oder festgenommene LehrerInnen gibt es quasi monatlich, auch Tote gab es in den letzten Jahren immer wieder. Prominentes Beispiel dafür sind die 43 «verschwundenen« Lehramtsstudenten in Guerrero, die der CNTE nahe standen - genauso hätte dies in Oaxaca passieren können.


Wahrheit und Lüge

Wenn die Kampagne der Regierung trotzdem teilweise verfängt, dann hat das auch mit berechtigten Kritiken zu tun, auf welche die Gewerkschaft ungenügend oder gar nicht reagiert. Besonders, wenn es um den Machismo geht: Obwohl zwei Drittel der Lehrkräfte Frauen sind, ist der Generalsekretär der CNTE immer ein Mann, und nur in den mittleren Kadern ist die eine oder andere Gewerkschafterin zu finden. Auch Korruption, Vetternwirtschaft, insbesondere das Vererben von Arbeitsstellen an die eigenen Kinder, sind Kritikpunkte. Zudem ist die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft nicht freiwillig, und die Teilnahme an den Protestaktionen, welche in der Vollversammlung der Delegierten beschlossen werden, wird per Namensliste nachgeprüft. Die Gewerkschaft verfügte bis zur Bildungsreform dabei über profunde Sanktionsmittel gegenüber Unwilligen, denn die Auszahlung der Gehälter erfolgte über die Gewerkschaft, Strafversetzungen fernab der Familie waren keine Seltenheit. Bei aller berechtigten Kritik darf allerdings nicht vergessen werden,dass diese Missstände auch in regierungstreuen, nach altem korporativistischen Muster organisierten Berufsverbänden Mexikos Standard sind. Immerhin sind Spitzenämter zeitlich begrenzt, das Führungspersonal kann per Versammlung abgewählt werden, wovon die Basis zuletzt Anfang September Gebrauch machte.

Was die Bevölkerung in Oaxaca angeblich am meisten gegen die LehrerInnen aufbringt, sind die vielen Schultage, welche durch die Streiks und Protestaktionen verloren gehen. Nicht zuletzt sind die oft kurzfristig einberufenen schulfreien Tage für arbeitende Eltern eine logistische Herausforderung. Mexicanos Primero hat vorgerechnet, dass in den letzten 21 Jahren drei komplette Schuljahre in Oaxaca verloren gegangen seien. Das Recht der Kinder auf Ausbildung sei prioritär, aber der LehrerInnengewerkschaft gehe es in keiner Weise um Pädagogik, sondern nur um ihre Privilegien, so der Tenor. Die Lehrerin Vicky N., tätig in einer verarmten Vorortsgemeinde von Oaxaca-Stadt, schildert die Beziehungen zu den Eltern dagegen ganz anders: «Wir informieren in Elternversammlungen über die anstehenden Mobilisierungen, erklären ihnen die legitimen Forderungen der Gewerkschaft und verhandeln anschliessend mit ihnen, wann wir alle Schulstunden nachholen, sei dies nachmittags, an Samstagen oder an Ferientagen. Es kommt auch vor, dass wir Lehrkräfte uns zwischen Mobilisierung und Unterricht abwechseln, einander aushelfen. So haben wir bisher immer ein gutes Einvernehmen mit den Eltern erzielt».

Bei allen Gesprächen mit Eltern oder mit LehrerInnen ist unbestritten, dass der Staat seiner Verantwortung nicht nachkommt und die Schulen über ungenügende Mittel verfügen, um den Kindern eine vernünftige Bildung zu ermöglichen. Andererseits meint der Grossteil aber auch, dass die vorherrschenden pädagogischen Konzepte der LehrerInnen veraltet und sich viele Kampfformen der Gewerkschaft überlebt haben. Die gewaltsame Entkoppelung von Bildungsinstitut und Sektion 22, so sehr auch die Kritik an der Methode berechtigt ist, wird zeigen, wie viele der LehrerInnen tatsächlich aktiv ihre Gewerkschaft unterstützen. Der bürokratische Gewerkschaftsapparat wird durchgeschüttelt, was hoffentlich zu neuen, kreativeren Aktionen beiträgt. Die Gefahr ist jedoch gross, dass die momentane Lähmung der Gewerkschaft Stück für Stück ausgenutzt wird, um die LehrerInnen immer weiter in das neoliberale Leistungsmodell zu zwängen. Dazu gehören repressive Evaluationen (bei schlechtem Abschneiden droht Stellenverlust), Lohnabzug bei Streiktagen und drohende Kündigung nach dreitägigem Fehlen. Ob diese Zwangsformen zu einer besseren Qualität der Schulbildung beitragen, ist zweifelhaft. Anlässlich der Einweihungszeremonie des neuen Schuljahrs Ende August 2015 unterbrach die Lehrerin und «stolze Gewerkschafterin» Anabel Aguilar Ibáñez Oaxacas Gouverneur Gabino Cué mit den Worten: «Was wir brauchen, ist eine wirkliche Bildungsreform, nicht eine Arbeitsreform!»


Eine reale Bildungsreform

Anders als vom Staat und staatsnahen Medien behauptet, setzt die CNTE nicht nur auf Abwehrmassnahmen, sondern beteiligt sich durchaus konstruktiv. Zum Kern des Problems, der Bildung, hat die Gewerkschaft in 37 partizipativen Regionalforen eine Reihe von Vorschlägen ausgearbeitet und diese im Plan zur Transformation der Bildung Oaxacas (PTEO) zusammengefasst. Dabei geht es kurz gesagt darum, in der Schule der kulturellen Vielfalt und den sozioökonomischen Herausforderungen in dem bäuerlich und indigen geprägten Bundesstaat gerecht zu werden. Denn Verkehrsampel-Aufgaben in mexikoweit standardisierten Evaluationen machen in Gemeinden ohne Strassen für die SchülerInnen nun mal keinen Sinn, ebenso wenig wie höhere Algebra bei knurrendem Magen.

Dass es auch anders geht, zeigt die Umsetzung des PTEO in der ländlichen Gemeinde San Pedro Amuzgos. Elena Tapia Vásquez, lokale Vertreterin der Menschenrechtsorganisation CODIGO DH, schildert die Präsentation der Arbeiten in der Sekundarschule am Ende des Schuljahrs 2014/15: «Die Jugendlichen arbeiteten in Projektgruppen zum Thema Wertschätzung der Sprache und Kultur der Amuzgo-Indigenen. Dazu studierten sie drei Monaten lang unter anderem die Themen traditionelle Architektur, Kaffee-Anbau, Baumwolle und deren Verarbeitung an den Webstühlen. Das Weberei-Projekt wurde vom Mathematiklehrer angeleitet, denn Webtechnik ist pure Mathematik. Die Ergebnisse wurden vor der versammelten Gemeinde vorgetragen. Auch kombinieren heute konsequenterweise die Schülerinnen die Schuluniform mit dem huipil, der traditionellen Tracht.» Diese alternativen Unterrichtsformen seien nicht konfliktfrei eingeführt worden, meint Elena Tapia. Viele Eltern sähen darin einen puren Zeitverlust, das klassische Lesen, Rechnen und Auswendiglernen von Geschichtsdaten sei ihnen wichtiger. Deshalb müsste im Dialog mit den Eltern ein Gleichgewicht zwischen dem offiziellen Lehrplan und der alternativen Projektarbeit gefunden werden, meint die junge Anwältin.


Über den militärischen Einheitskamm

Ganz im Gegensatz zur Umsetzung von neuen pädagogischen Methoden im indigenen Hinterland hat die militärische Besetzung des IEEPO und dessen Gleichschaltung mit der Bildungsreform dazu geführt, dass lokale Errungenschaften aus dem Organigramm fielen. Was nicht Teil der Struktur der zentralen Bildungsministeriums ist, wurde über die Sommerferien schlicht abgeschafft. So löste die Regierung beispielsweise das Zentrum für das Studium und die Entwicklung der indigenen Sprachen Oaxacas (CEDELIO) auf. Laut indigenen Lehrkräften und VertreterInnen des lokalen Sekretariats für Indigene Angelegenheiten (SAI) war das CEDELIO während 17 Jahren ein wichtiger pädagogischer Pfeiler für die bilingualen Schulen im Bundesstaat.

Gegen diese kulturelle Autonomie, gegen diesen politischen Widerstand setzt die Regierung seit drei Monaten massiv Militär und Polizei ein. Dass es dabei um das Wohl der Jugend geht, muss bezweifelt werden. Vielmehr ist die Neutralisierung der Gewerkschaftsopposition CNTE ein wichtiger Etappensieg für Präsident Enrique Peña Nieto zur Kontrolle des Bundesstaats. Und da in Oaxaca 2016 Gouverneurswahlen stattfinden, hilft die Präsenz von über 10.000 BundespolizistInnen ganz zufällig auch der Repositionierung seiner Partei PRI, welche unbedingt den Bundesstaat zurückgewinnen will. 2010 verlor der PRI erstmals den Gouverneursposten, er unterlag einer Allparteien-Allianz unter Führung von Gabino Cué. Vorausgegangen war dieser historischen Niederlage der Volksaufstand von 2006. Nach brutaler Repression gegen streikende CNTE-LehrerInnen solidarisierten sich grosse Teile der Bevölkerung; es entwickelte sich eine Dynamik, die in der mehrmonatigen Vertreibung der Regierung aus der Hauptstadt des Bundesstaats gipfelte. Unter dem Namen Volksversammlung der Völker Oaxacas (APPO) - mit der Sektion 22 als massgeblicher Stütze - übte sich die Bevölkerung in Selbstorganisation, bis die Bundesregierung mit der Entsendung von Bundespolizei und Militär dem urdemokratischen Experiment ein blutiges Ende setzte. Mindestens 25 AktivistInnen wurden ermordet.

Doch die mit viel Hoffnung begleitete politische Transition unter Cué ist kläglich gescheitert, der PRI bereitet sich auf ihre Rückkehr vor, wie immer mit einer Mischung aus Almosen und Repression, die die Bevölkerung spalten soll. Andererseits zeigt die Geschichte Oaxacas, dass die gut organisierten LehrerInnen niemals unterschätzt werden sollten. «Die LehrerInnen sind ein Faktor zugunsten der Regierbarkeit im Bundesstaat. Wenn sie gedemütigt werden, könnte sich dies ins Gegenteil wandeln«, kommentierte Luis Hernández in der Tageszeitung La Jornada.


Evaluierung auf Teufel komm raus

Die Auseinandersetzung zwischen der mexikanischen Regierung und der oppositionellen LehrerInnengewerkschaft, die sich an der Bildungsreform von 2013 entzündete (siehe Artikel «Staatsfeind Nr.1» In Dossier Gewerkschaften im Sept/Okt), geht seit November in eine neue Runde. Die Evaluierung der LehrerInnen, welche etappenweise alle Lehrkräfte durchlaufen müssen, wird nun landesweit mit massivem Polizeiaufgebot durchgesetzt. In deren Vorfeld wurden im Oktober vier gewerkschaftlich aktive Lehrer Oaxaxas wegen Sachbeschädigung und Blockaden verhaftet und im Hochsicherheitsgefängnis von Altiplano untergebracht (aus dem im Juli der berühmte Drogenboss «El Chapo» ausgebrochen war).

Die oppositionelle Strömung CNTE innerhalb der LehrerInnengewerkschaft SNTE stellt sich nicht grundsätzlich gegen eine Evaluierung, lehnt aber die in der Reform vorgesehene Form ab, da diese erstens die Resultate bei gutem Abschneiden mit Lohnverbesserungen und Aufstiegsschancen verbindet, bei wiederholtem schlechtem Abschneiden jedoch mit der Entlassung droht. Diese «straforientierte» Art der LehrerInnenüberprüfung ist der momentan umstrittenste Abschnitt einer weitreichenden Bildungsreform, die Teil der Strukturanpassungsmassnahmen sind, welche die Parteien PRI, PAN und PRD im Parlament im 2013 zugestimmt haben.

Abgesehen von der arbeitsrechtlichen Schlechterstellung der Lehrpersonals und der angedrohten Kündigung, sollten sich die LehrerInnen wiederholt der Evaluierung verweigern, wird auch das Verfahren an sich scharf kritisiert: So ist der Fragenkatalog nicht auf die lokalen Begebenheiten zugeschnitten, und berücksichtigt schon zuwenig kulturelle Umstände und sprachliche Vielfalt. So beschwerten sich Lehrer in Mexiko Stadt über Fragen wie beispielsweise «Was würden Sie tun, wenn ein Staudamm bricht?» Zudem kritisierten Geprüfte die zahlreichen Grammatik- und Syntax-Fehler im Fragebogen des Tests.

Auch der Mexikanische Rat der Bildungsforschung, in welchem gut eintausend PädagogikspezialistInnen vertreten sind, kritisiert die Evaluierung als «improvisiert» und fordert in einer Petition an die nationale Bildungsbehörde SEP eine echte Bildungsreform «in respektvoller Zusammenarbeit mit den LehrerInnen», um die massiven Bildungsdefizite im Lande anzugehen. Dass diese vorhanden sind, bezweifelt niemand. Auch materiell ist das Bildungswesen Mexikos in einem deplorablen Zustand: Im Schnitt verfügt eine von neun Schulen im Land nicht mal über ein Klo, viele haben kein Wasser. In ländlichen Gebieten, insbesondere im Süden, sind diese Misstände die Norm.

Zwischen Mitte November und Mitte Dezember 2015 waren 10% der über 1 Million LehrerInnen Mexikos aufgerufen, in einem vierstündigen Test mit 154 Fragen über ihre pädagogischen Kenntnisse Rechenschaft abzulegen. In Oaxaca-Stadt protestierten am 28.November die LehrerInnen der gewerkschaftlichen Sektion 22 mit einer Grossdemonstration gegen diese Evaluation, deren Austragungsort von 10.000 Bundespolizisten abgeschirmt wurde. Es kam zu Scharmützeln, mehrmals setzte die Polizei Tränengas ein, drei Polizisten wurden leicht verletzt, doch insgesamt verlief der Protest der rund 10.000 Lehrkräfte friedlich.

Insgesamt 6.000 LehrerInnen und BerufseinsteigerInnen, welche die pädagogische Hochschule absolviert hatten, waren in Oaxaca zum Test aufgerufen, doch nur knapp die Hälfte absolvierte die Prüfung. Darunter waren 97% der BerufseinsteigerInnen sowie einige hundert Mitglieder der staatstreuen Gewerkschaftssektion 59, welche als Streikbrecherfraktion im Aufstand von 2006 gegründet wurde. Im «Krieg der Zahlen» wurde letztlich nicht klar, wieviele Lehrer der Sektion 22 sich dem Evaluations-Boykott ihrer Gewerkschaft anschlossen: Das Staatliche Bildungsinstitut Oaxacas IEEPO, die Regierung Oaxacas und die nationale Bildungsbehörde SEP machten unterschiedliche Angaben über die Zahl der evaluierten LehrerInnen. Die Gewerkschafterin Clara García Velásquez machte in einer Beschwerde der evaluierten Lehrkräfte der politechnischen Mittelstufe (Cecyte, mit eigener Gewerkschaft) die «antipädagogischen» Bedingungen des Tests bekannt. So arbeiteten sie an improvisierten Computerarbeitsplätzen ausserhalb der Regierungsgebäude, «nur mit einer Plastikplane über dem Kopf, was zu einem exzessiven Hitze führte.» Die 229 Mittelstufen-LehrerInnen wurden zur selben Prüfung wie die Grundstufenpädagogen gedrängt, damit diese von den Behörden als «gut besucht» gelten kann. Die Umstände des Tests, so die Gewerkschafterin García Velásquez, beweisen, «dass die Behörden nur das Evaluierungsprozedere auf Teufel komm raus durchführen wollten, aber nicht eine Evaluation mit dem Ziel der Qualitätsverbesserung anstrebten».

Wichtiger scheint der Zentralregierung, den Widerstand der Opposition zu brechen: Für den Bildungminister Aurelio Nuño Mayer war die Beteiligung in Oaxaca ein Erfolg: «Die Lehrer beginnen sich vom Joch der Gewerkschaftssektion 22 zu befreien», meinte Nuño, dem Aspirationen auf das mexikanische Präsidentschaftsamt nachgesagt werden. In Oaxaca ist die Wahrnehmung eine andere. Trotz Verhaftungen, trotz drohender Haftbefehle und Entlassungen, trotz riesigem Aufgebot der Sicherheitskräfte ist der Widerstand der Gewerschaft ungebrochen. Und in verschiedenen Medien, die bisher gegen die Lehrergewerkschaft argumentierten, werden kritische Stimmen laut, welche nach den tatsächlichen Absichten hinter der Bildungsreform fragen. Dass Unternehmerverbände wie «Mexicanos Primero», welche die Reform massgeblich prägten, nicht uneigennützig am Recht auf Bildung interessiert sind, liegt auf der Hand.

Anfang Dezember wurden die ebenfalls oppositionellen Lehrerschaften in den Bundesstaaten Guerrero und Chiapas evaluiert. In Acapulco kam es dabei am Ort der Evaluation zu einer tumultartigen Protestaktion: Mehrere Dutzend LehrerInnen, die sich für den Test eingeschrieben hatten, empörten sich über die schlechte Organisation, begannen Protestparolen zu skandieren und nahmen schliesslich die Computer vom Strom. Das Examen wurde Stunden später mit weniger Prüflingen weiterführt, das Bildungsministerium droht den «eindeutig identifizierten» Störenfrieden mit Entlassung. In der aktuellen Evaluierungsfase kam es zu Protesten und oft handgreiflichen Auseinandersetzungen in einem Dutzend Bundesstaaten, darunter in Veracruz, wo bis zu 50 Lehrerinnen verletzt wurden. Und im Februar 2016 kommt bereits die nächste Etappe der Evaluation. Die epische Auseinandersetzung um Arbeitsrechte, Privatisierungsansätze und neoliberale Reformen in Mexiko verzeichnet noch keine Sieger.


Chiapas: Lehrer getötet

Bei Protesten gegen neoliberale Reformen im Bildungsbereich wurde ein Lehrer am 8.12. im südmexikanischen Chiapas getötet. Unter welchen Umständen der Grundschullehrer David Gemayel Ruiz Estudillo ums Leben kam, ist umstritten: Während die oppositionelle Lehrergewerkschaft CNTE die Polizei dafür verantwortlich macht, behaupten die Behörden, der junge Lehrer sei beim Versuch der Protestierenden, einen Bus gegen eine Polizeireihe zu steuern, überrollt worden. Mehrere Personen wurden bei den Auseinandersetzungen nahe der Hauptstadt Tuxtla Gutiérrez verletzt, sechs Lehrkräfte verhaftet. Der Tod von Gemayel Ruiz führt zu neuen massiven Protesten in Tuxtla Gutiérrez, an denen bis zu 50.000 Lehrkräfte teilnehmen.

Trotz der eingesetzten Repressionsarmada hat die Regierung bei den Zwangsevaluierungen nur mässigen Erfolg, da sich in mehreren Bundesstaaten weniger als die Hälfte der aufgerufenen Lehrer sich evaluieren lassen. Erst am Montag kam es auch in der indigenen Region Meseta Purépecha im Bundesstaat Michoacán zu Protesten gegen die Bildungsreform, dabei wurden zahlreiche Personen verletzt und verhaftet, 52 Pädagogikstudierende wurden dem Haftrichter vorgeführt und in Gefängnisse in andere Bundesstaaten verlegt. In Oaxaca wurden 30 Aktivisten im Zusammenhang mit Lehrerprotesten inhaftiert, 8 von ihnen sitzen einem halben Jahr in Hochsicherheitsgefängnissen ein. In Guerrero wurden dieses Jahr bei Protesten ein pensionierter Lehrer und ein junger Aktivist ermordet. Die oppositionelle Lehrergewerkschaft CNTE ruft das Bildungsministerium auf, sich einem öffentlichen Dialog über die Reform zu stellen. Doch der Bildungsminister Aurelio Nuño Mayer denkt nicht daran und sieht die von Unternehmerkreisen mitgestaltete Reform auf gutem Wege.

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Quelle:
Correos de las Américas, Nr. 183, 23. Dezember 2015, S. 20-23
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
Tel.: 0041-(0)44/271 57 30
E-Mail: zas11@sunrise.ch
 
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Abonnement: 45,-- CHF


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2016

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