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CORREOS/216: Venezuela - Zum Wirtschaftskrieg


Correos de las Américas - Nr. 188, 16. September 2017

Zum Wirtschaftskrieg

von Dieter Drüssel


Sie toben in Politik und Mainstream, angeblich, weil der Chavismus so vielen Menschen Leid zufüge. In Wirklichkeit, weil sie Widerstand gegen ihre Welt des Profits und der Schinderei nicht ertragen. Eine Klärung verlogener Behauptungen.


Nur wer vorgewarnt war, konnte die Aussage der Journalistin in SRF richtig einordnen. Merklich geknickt, musste sie unmittelbar nach der Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung am 30. Juli berichten, dass wohl doch viele Menschen daran teilgenommen haben. Denn Präsident Nicolás Maduro habe die Leute mit Essensbons gekauft.

Bisher das einzige Mal in meinem nicht geringen Konsum von Mainstreammedien, dass ich eine Andeutung dafür fand, dass die Sache mit dem Hungern in Venezuela nicht nach Plan läuft. Was die rechte Parteigängerin meinte, sind die CLAP, die Lokalen Komitees für Versorgung und Produktion. Das Ministerium für Kommunen (das sind Zusammenschlüsse mehrerer Nachbarschaftsräte, Consejos Comunales) organisiert die CLAP in enger Vernetzung mit lokalen Basisstrukturen. Der Nachbarschaftsrat stellt aufgrund von Einkommenskriterien die Liste derer auf, die einmal pro Woche ein Paket von Nahrungsmitteln zu erschwinglichem Preis kaufen können. Davon profitieren 6 Millionen Haushalte, auch mittelständische, also ein relevanter Teil der rund 31 Millionen Leute im Land. Die CLAP funktionieren immer noch mit Mängeln, aber wesentlich besser und breiter als letztes Jahr. Und dies, obwohl es mehrmals zu «Hungerrevolten» gekommen ist, wie das in den Imperiumsmedien heisst, also zu gewalttätigen Sabotageaktionen am Verteilungsprozess. Gewährsleute in Venezuela bestätigen uns, dass die Warteschlangen für Esswaren klar zurückgegangen sind. Und weiteres «Unheil» droht: Die Anbaufläche für Getreide wird im neuen Aussaatzyklus auf 2.9 Mio. Ha. verdoppelt.

Während Jahren verfielen sie in gequälte Lachkrämpfe, die «ExpertInnen» in Medien und Thinktanks, wenn das Wort Wirtschaftskrieg fiel. Vertuschung von Regimeverbrechen! «Seht doch nur die Hungernden, die Geschundenen, die Kranken!» Jetzt, wo die Sanktionen und Kriegsvorbereitungen der USA offiziell die Pfeiler der venezolanischen Wirtschaft - und damit die Versorgung der Bevölkerung - angreifen, herrscht freudige Erregung. So frohlockte einer, die rechten lateinamerikanischen Regierungen würden die Konstituante nicht anerkennen. Dies «könnte für Venezuela gravierende wirtschaftliche Folgen haben, da alle Finanz- und Wirtschaftstransaktionen, welche die Zustimmung des Parlaments erfordern, jetzt als illegal gelten (...) Das Budget, die Neuverschuldung und viele Verträge müssen gemäss Verfassung vom Parlament gutgeheissen werden. Das bedeutet, dass nicht nur [diese rechts regierten] Länder, sondern auch die dort domizilierten Unternehmen keine Verträge ohne Mitwirkung der Nationalversammlung abschliessen können.»[1] Ein copy paste der US-Sanktionen. Es wohlt ihnen ums Herz.

Das wird sie nicht hindern, in geübter Wahrnehmungsdissoziation weiter das Klagelied von den von Maduro geschundenen Armen zu krächzen. Der «humanitäre Notstand» und die «Diktatur» sind schliesslich die beiden Hauptagenzien für die Propagierung der Intervention. Deshalb ein Blick auf einige Aspekte des bisherigen Wirtschaftskriegs.


Inflationsmaschine Dólar Today

800%. So hoch wird die Teuerung für dieses Jahr prognostiziert. Quatsch. Selbst dem Ökonomen Steve Hanke (Cato Institute, John Hopkins University) mit seiner langen Verbrecherlaufbahn nicht nur in Lateinamerika wird solches Gerede zu blöd. Auf eine «Prognose», wonach das Land an der Schwelle zur Hyperinflation stehe, antwortete er: «Dead wrong». Das stütze sich auf Angaben des IWF, wo sie «die Finger-im-Wind-Methode benutzen, um die aktuelle Inflation zu messen und die künftige vorauszusagen». [2] Nun, der Wind kommt aus einer Homepage in Delaware (USA), Dólar Today. Täglich veröffentlicht sie Angaben zum meist nach oben jagenden Schwarzmarktkurs des Dollars. Besagter Markt passt seine Preise subito an die sich so selbst erfüllenden Prophezeiungen dieses Orakels von Delphi an. Ein Artikel des venezolanischen Soziologen Franco Vielma «Wirtschaftskrieg gegen die kollektive Psyche» (Correos 183) machte klar: Bei Dólar Today handelt es sich um eine black box. Ihre Angaben sind absolut unüberprüfbar. Sie habe sie von den vielen Wechselstuben in der kolumbianischen Grenzstadt Cúcuta, dem Zentrum des Schmuggels von Devisen und Waren aus Venezuela, bezogen. Allein, niemand sonst hatte diese Angaben. Seit Sommer letzten Jahres, als der Schmuggel subventionierter Waren nach Cúcuta effektiv bekämpft wurde, basiert sie ihre Angaben auf Mitteilungen im Social Media Instagram, die etwa von KäuferInnen von kleineren Mengen unspezifizierter Waren stammen! Selbst rechte ÖkonomInnen winken ab diesem Exzess von Seriösität ab.


Theorie mit Pasqualina Curcio

Neben anderen hat auch die chavistische Ökonomiedozentin Pasqualina Curcio den Zusammenhang zwischen manipuliertem Wechselkurs im Schwarzmarkt und Teuerung untersucht.[3] Sie bediente sich dabei ökonometrischer Methoden, da diese von den rechten «ExpertInnen» für ihre Katastrophenprognosen benutzt werden, und ging explizit auf deren monetaristischen Thesen, ad nauseam wiederholt in den Imperiumsmedien, ein.

Manipulierter Wechselkurs: Der Parallelmarkt-Wechselkurs Dollar/Bolívar (Bs.) lag in der Zeit von 1999 (Regierungsantritt von Hugo Chávez) bis August 2012 leicht höher als der offizielle Kurs. Seine Variationen waren ziemlich linear (1999-2011: 26% Steigerung). Ab 2012 stieg er jedoch steil an (2015 um 475%, im Vergleich zum Vorjahr). Für ein derartiges Phänomen macht die monetaristische Orthodoxie (samt Mediengros) zwei Variablen verantwortlich, eine Abnahme der Devisenreserven und/oder eine Zunahme der Menge an flüssigem Geld (Umlaufgeld plus Sicht- und Spareinlagen, im Jargon die Geldmenge M2 genannt). Curcio kommt aber, gestützt auf die Statistiken der Zentralbank BCV, zum Ergebnis: Im erwähnten Zeitraum «finden die Variationen des Wechselkurses keine [ausreichende] Entsprechung in den Veränderungen der Devisenreserven und der Geldmenge M2». Wären es aber Devisenreserven und Geldmenge, die den Wechselkurs bestimmten, wäre dieser im März 2016 bei 84 Bs. gelegen, nicht bei den 1200 Bs. von Dólar Today.

Auf den Schwarzmarkt getriebene Unternehmen: Die gängige These behauptet, die Unternehmen erhielten vom Staat zu wenig Devisen für ihre Importgeschäfte. 90% der Deviseneinnahmen des Landes kommen von der staatlichen Ölgesellschaft PDVSA, weitere 8% von anderen staatlichen Unternehmen, und der Privatsektor trägt mit seinen Exporten ganze 2% bei. Die Regierung gibt den Unternehmen für sozial und wirtschaftlich wichtige Aktivitäten, die den grössten Teil der Importe ausmachen, extrem günstige Dollars - 1 Dollar für 10 Bs. seit 1016, vorher für 6.5 Bs. Tatsache ist: 1999 erhielt der Privatsektor $10 Mrd. für Importe, 2007 und 2008 zusammen $90 Mrd., 2014 - der Ölpreiszerfall hatte begonnen - immer noch stolze $25 Mrd. Von 1999 - 2014 erhielt der Privatsektor 94% der Importdevisen. Von den gesamten Deviseneinnahmen des Landes gingen im Jahresschnitt 65% in den Import. Kurz: Kein Unternehmen (ausser vielleicht ein paar kleinen) musste auf dem Schwarzmarkt dólares kaufen.

Induzierte Teuerung: Ab 2012 stieg die zuvor linear verlaufene Teuerungskurve exponentiell an. Nun muss man wissen: Die Importe machten von 1999 - 2013 im Schnitt 35% der Jahreswirtschaftsleistung aus. 2008 (seither liegen keine detaillierten Angaben mehr vor) waren ganze 3% der insgesamt 322.845 Unternehmen im Importgeschäft. Die Grossen im Business sind meist Multifilialen, daneben gibt es auch venezolanisches Grosskapital. 35% des BIP in den Händen von 3% der Unternehmen - das erleichtert eine monopolistische Preisbestimmung, speziell bei unerlässlichen Gütern wie Nahrungsmitteln, Medikamenten, Ersatzteilen oder Produktionsmitteln.

Die Importbranche erhält Billigstdollars, stellt aber den Schwarzmarktkurs in Rechnung. Angaben der Zentralbank zeigen, dass ihre Preise dem Schwarzmarktkurs folgen. Das wirkt sich bestimmend auch auf die sogenannt einheimische Produktion aus, da auch hier meist Importgüter verarbeitet werden (Bsp. Ersatzteile in der Autowerkstatt, Saatgut auf dem Acker etc.).

Curcios ökonometrische Berechnungen der Beziehungen zwischen Schwarzmarktkurs, Preisindex, Gesamtnachfrage und Geldmenge M2 ergeben, dass 70% der Warenpreise vom Schwarzmarktkurs abhängen. Gäbe es nicht die Manipulation des Schwarzmarktkurses seit 2012, wäre die Inflation von 2013 - 2015 bei immer noch extrem hohen 159% gelegen; so aber betrug sie allein im Jahr 2015 181%. Die über den Dólar Today-Kurs manipulierten Preise schlagen sich auch in höheren Produktionskosten nieder, mit dem Resultat von steigenden Preisen von Gütern, auf die nicht oder nur schwer zu verzichten ist, und/oder einem Produktionsrückgang dort, wo die Kosten nicht abgewälzt werden können.

2015 lag der Schwarzmarktwechselkurs im Schnitt bei 551 Bs. Wobei der «reale» Wert (abhängig von wirtschaftlichen Variablen, nicht der Manipulation) 78 Bs. gewesen wäre. Bei Verfassen des Papers im April 2016 lag dieser «reale» Kurs bei errechneten 84 Bs., der Schwarzmarktkurs aber bei 2112 Bs.

Monopolpreise: In einem weiteren Papier in der gleichen Sammlung (s. Fn. 3) geht die Ökonomin genauer auf die Frage der Monopolmacht bei der Preisbestimmung ein, zuerst am Beispiel des in Venezuela unentbehrlichen vorgekochten Maismehls. Angaben des Nationalen Ernährungsinstituts (Instituto de Nutrición Nacional) und der Zentralbank ergeben, dass in den Jahren 2012-2015, der Konsum des Maismehls relativ konstant blieb, und zwar aufgeschlüsselt auf die Ober- und die Unterklassen. Ebenso die Produktion, von der allein der landesweit grösste Nahrungsmittel- und Getränkekonzern, Polar, die Hälfte abdeckt. Nun standen aber viele Menschen extrem lange an, um an dieses Mehl zu kommen. Aber halt nicht wegen Mehrkonsum oder gedrosselter Produktion. Das gleiche Bild bei Poulet, Kaffee, Teigwaren, Reis, Milchpulver oder Rindshackfleisch. Der Kalorienkonsum pro Kopf lag 2012 - 2015 konstant bei rund 3100 Kilokalorien, klar über der FAO-Richtlinie. Wenn also Konsum und Produktion/Import gleich bleiben, weshalb die Warteschlangen für diese Produkte oder der exorbitant teure Schwarzmarkt?

Weil, tönt es monoton aus Thinktanks und Medien, der Staat die Preise reguliert. Doch warum mangelt es dann im gleichen Ausmass bei nicht-preisregulierten Nahrungsmitteln wie schwarzen Bohnen oder Margarine? Ein erstes gemeinsames Charakteristikum von regulierten und nichtregulierten «Mangelwaren» ist, dass ihre Produktion und ihr Vertrieb von wenigen Unternehmen kontrolliert werden. Dagegen werden andere der 20 Hautnahrungsmittel wie Guayaba, Kochbananen oder Orangensaft von einer Unzahl von Akteur-Innen hergestellt und vertrieben. Hier gibt es kein Mangelphänomen. Und Maismehl, Kaffee, Reis, Teigwaren, schwarze Bohnen, Margarine und Öle haben ausser ihrer «Mangeleigenschaft» auch gemeinsam, dass sie nicht verderblich oder leicht konservierbar sind. Hackfleisch, weisser Hartkäse und Eier sind zwar konservierbar, aber nur für teures Geld. Sie «mangeln» nicht.

Praktische Beispiele

Die Pharmaindustrie und ihr «humanitärer Notstand»: Im Oktober 2015 erklärte der heutige Stabschef im Weissen Haus und damalige Chef des Südkommandos der US-Streitkräfte, General John Kelly: Im Falle einer wegen eines Wirtschaftskollaps verursachten «humanitären Krise [...] könnten wir reagieren und täten dies via Organisationen wie die UNO, die OAS oder die FAO.»[4] Sechs Wochen später meinte Freddy Ceballos, Präsident des Pharma-Dachverbands Fefarven: «Die nationale Regierung muss akzeptieren, dass wir eine humanitären Krise im Gesundheitsbereich haben; im ganzen Land sterben Patienten wegen Medikamentenmangel».[5] Der Grund, so Ceballos, sei, dass die Regierung 2014 bloss ein Viertel, 2015 nicht einmal mehr ein Fünftel der benötigten Importdevisen zur Verfügung gestellt habe. Die Pressionen des Pharmaverbands haben laut Medienberichten die rechte Parlamentsmehrheit dazu veranlasst, das Gesetz über den «Gesundheitsnotstand» zu verabschieden, das ausländischen Organisationen die Vollmacht geben sollte, im Land ohne «Einmischung» der Regierung «humanitäre Operationen» durchzuziehen. Das Gesetz sollte auch, ganz im Sinn von Fefarven, den Import von Generika aus Indien und Kuba verunmöglichen. Fefarven ist die Dachorganisation von Pharmamultis (inklusive Novartis und Roche), die nationale Branche mixt entweder importierte Substanzen zu Pastillen oder verpackt Importe.

Der Pharma-Konzern Pfizer gab im Juli 2015 bekannt, wegen fehlender Importdollars seine Produktion auf 7 Medikamente einzuschränken. Medikamente für Krebs, Infektionen, Fieber etc. fielen nun weg. Der US-Multi hatte allein in den ersten neun Monaten von 2014 105.9 Mio. Billigstdollars erworben. Im gleichen Zeitraum hatte Merck, die ebenfalls ihre Produktion wegen «mangelnder Devisen» drosselte, praktisch die gleiche Summe eingestrichen; Bayer $126 Mio., Abbott $136.4 Mio. und Novartis $78 Mio. (alle Zahlen von der Devisenbehörde Cencoex). Der ehemalige Gesundheitsminister Henry Ventura erklärte Anfang März 2016: «Im Jahr 2012 erhielt die Pharmabranche $3.41 Mrd., und sie importierte bloss 55.7 Mio. kg. 2003 gaben wir ihr $434 Mio. und sie importierte fast 221 Mio. kg.»[6] Mitten in einer gigantischen Stagnation der transnationalen Wirtschaft erhielten die Pharmabuden 2012 also fast 8-mal mehr Geld als neun Jahre zuvor und konnten damit gerade noch ein Viertel der Menge von 2003 einkaufen! (Ex-Minister Ventura hatte übrigens die Generalstaatsanwaltschaft aufgefordert, diesen Sachverhalt zu untersuchen. Heute wissen wir, warum auch in diesem Bereich nichts gelaufen ist.)

Im Oktober 2014 beschlagnahmte die Regierung in zwei Lagerhallen des Unternehmens Hospimedic im Staat Aragua gehortetes pharmazeutisches und chirurgisches Material (5000 Rollstühle, 12 Millionen Spritzen, Millionen sterile Handschuhe etc.), das laut Regierungsangaben dem Land für ein ganzes Jahr gereicht hätte. Die Besitzer waren in der US-Handelskammer Venamcham organisiert und hatten mit Billigdollars operiert[7]. Im Gliedstaat Zulia fanden die Behörden im Mai 2015 fast 15 Mio. verfallene Medikamente. Darunter 3 Tonnen Antibiotika, 1 Million Vitamin B12-Präparate, 2.5 Millionen Rheuma- und Schmerzmittel u.v.m. Preisüberwacher Andrés Eloy Méndez sagte: «Es macht traurig zu wissen, dass dieses Unternehmen die Medikamente hortete, als letztes Jahr beim Ausbruch des Chikungunya-Fiebers viele VenezolanerInnen wegen des Mangels an Vitamin B12, einem wichtigen Medikament zur Bekämpfung des Virus, starben.»[8] Der involvierte Importeur SM Pharma bezog seine Waren hauptsächlich von Pfizer und Merck. Anfang Februar 2016 entdeckten die Sicherheitskräfte in Maracaibo 6 Tonnen an gehorteten Medizinalgütern im Wert von $100 Mio., die vermutlich nach Kolumbien hätten geschmuggelt werden sollen.[9]

Der Sekretär der Gewerkschaft bei Pfizer, Alí Mora, kritisierte im April 2016, dass Pfizer nur noch 2 Produkte herstelle, beide auf der Basis von Acetaminophen (wie Panadol): «Die helfen nicht gegen chronische Erkrankungen, die Priorität haben sollten».[10] Der Gewerkschafter betonte weiter, dass Pfizer die Produktion im Land zugunsten der Einführung von in ihrer Mehrheit nichtprioritären Medikamente herunterschraube. Dies täten laut Ex-Gesundheitsminister Ventura auch Merck und Bayer, weil sie damit mehr Kasse machen könnten.

Hygieneartikel: Am 22. März 2016 gab die KonsumentInnenschutzbehörde Sundee Durchsuchungen bei Colgate-Palmolive bekannt. Auslöser war ein Bericht der Gewerkschaft über einen Trick zur Mangelverursachung. Mit 50 Tonnen Basissubstanzen für den begehrten Weichspüler Sofián stellte das Unternehmen früher 140.000 verschieden grosse Einheiten her, jetzt noch 18.000 teure Grosspackungen, die sich viele Haushalte nicht aufs Mal leisten können. Dito bei der Zahnpasta Colgate, beim Geschirrwaschmittel Axión und bei den Putzmittel Ajax und ABC. Gewerkschafter Félix Bello kommentierte: «Die grossen Unternehmen haben nie Verluste eingefahren. Die getroffenen Managemententscheide sind weder administrativ noch mit Kostenfaktoren begründet. Es gibt ein Interesse, die Regierung Maduro über eine geplante Unterversorgung und das dadurch hervorgerufene Malaise der Konsumenten anzugreifen.»

Pech! Kimberley Clark hatte im Juli 2016 angekündigt, die Produktion von WC-Papier und Windeln einzustellen, die Fabrik zu schliessen und die 1000 Angestellten zu entlassen. Weil die Rohstoffe nicht mehr geliefert würden. Kurz zuvor hatte die Regierung eine geforderte Preiserhöhung für WC-Papier und Binden um das 5-fache und für Windeln um das 17-fache abgelehnt. Die Belegschaft übernahm die Fabrik und produzierte fortan - die Rohstoffe waren da - für die CLAP[11].


«Make the economy scream»

Seit 2014 warnen internationale Banken wie JP Morgen oder Barclay sowie die drei famosen rating agencies Standard & Poor's (S&P), Moody's und Fitch vor einer bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit der Ölgesellschaft PDVSA. Insbesondere nach jeder pünktlichen Schuldenzahlung des Konzerns. Was sonst das Rating verbessert, bedeutetet hier: «Aber jetzt sind die Kassen bestimmt ganz leer!» Venezuela hat die grössten Ölvorkommen der Welt sowie gigantische Bodenschätze etwa an dem für die Mobiltelefonie unentbehrlichen Koltan. Eine Spitzenbonität im Hintergrund, trotz aktueller Liquiditätsproblemen. Es geht um anderes, wenn etwa im Juli 2016 die Citibank ihre Rolle als Korrespondenzbank für internationale Handelszahlungen der venezolanischen Zentralbank und des Banco de Venezuela aufkündet, just zum Zeitpunkt, als Grossimporte für die Nahrungsmittelversorgung im Land anstanden. Einen Monat später kündete die Citi auch ihre Funktion als Kanal für die Schuldenzahlungen der PDVSA, die korrigierte, dass die Bank ihre Funktion vertragsgemäss bis Ende 2017 weiter ausübe (wenn das Washingtoner Sanktionsregime dies jetzt noch zulässt). Mehrere internationale Banken wie die Commerzbank reduzierten noch vor den aktuellen Sanktionskommandos aus Washington ihre Geschäftsbeziehungen mit Venezuela ganz oder teilweise. Letztes Jahr organisierte JP Morgan einen Schuldenswap für PDVSA von fast $3 Mrd.; dessen Ankündigung hatte S&P zum Anlass genommen, einen «selektiven Default»[12] zu konstatieren, da BondhalterInnen sich zur Restrukturierung «genötigt» sähen. All das u .v. m. hatte nicht nur den Effekt, mit gestiegenem «Länderrisiko» die Schuldenaufnahme für das Land massiv zu verteuern. Es bereitete den jetzt offiziellen Versuch der USA und ihrer Verbündeten vor, mit der venezolanischen Wirtschaft das zu machen, was Nixon wörtlich als Ziel für die chilenische unter Salvador Allende vorgab: «make the economy scream».

Die USA etc. haben aber ein Problem: Venezuela hatte Zeit, nicht nur seine Flugabwehr dank russischer Hilfe zu modernisieren, sondern auch, sich vorzubereiten und insbesondere mit China und Russland wichtige Finanz-, Handels- und andere Kooperationsabkommen abzuschliessen. Heute führen nicht mehr alle Wege zwangsläufig nach Washington. Am 2. September 2017 ist beispielsweise ein russisches Schiff mit der ersten Lieferung von monatlich 60.000 Tonnen Getreidemehl, das in Venezuela nicht produziert wird, an der venezolanischen Küste vor Anker gegangen. Werden die USA, wie der venezolanische Aussenminister Elías Jaúa vor wenigen Tagen nicht ausschloss, dagegen eine Seeblockade des karibischen Landes riskieren?


Nicht Alleinursache, aber entscheidend: der Krieg

Dieses Jahr ist der Wirtschaftskrieg sichtbar (aber natürlich vom Mainstream unbemerkt) auch auf der Strasse ausgetragen worden. Über Monate hatte die harte Rechte mit «Demonstrationen gegen die Diktatur» auch gezielt staatliche Lager und andere Infrastruktur für die Nahrungsmittelverteilung angegriffen. Ende Juni gelang es ihr etwa, im Gliedstaat Anzoátegui 40 von 100 Tonnen Esswaren in Brand zu setzen.[13] Eine gelungene Einführung in die «Sanktionen der internationalen Gemeinschaft».

Aber natürlich ist nicht alles Wirtschaftskrieg. Oder wenn, dann ein erweiterter. Wenn Curcio etwa auch unter Abzug der induzierten immer noch eine beträchtliche Inflation feststellt, drängt sich die Frage nach weiteren Gründen auf. Warum erhielten Unternehmen jahrelang Billigdollars, wenn sie eindeutig Dutzende Milliarden davon in Steuerparadiesen parkierten? Korruption, Klassenkollaboration? Warum wollte oder konnte die chavistische Leitung dies nicht unterbinden? Welche internen Kräfteverhältnisse gibt es da? Oder: Warum gelang es nicht, von der 70-jährigen Abhängigkeit von der Ölrente wegzukommen und eigene industrielle Strukturen aufzubauen? Fragen heisst nicht antworten. Hugo Chávez hatte oft im Zusammenhang mit dem Ölreichtum von einer «historischen Schuld» gesprochen. Nach fast einem Jahrhundert des Abflusses des Ölreichtums an die internationalen Börsen und auf die Konten der Grossbourgeoisie müsse dieser jetzt direkt den Unterklassen zugutekommen. Das geschah auch. Wer hätte wann wo wieviel von den Leuten weg in den Aufbau eines in der Zukunft funktionierenden Wirtschaftsapparates umleiten sollen?

Einige fordern erregt eine internationale «humanitäre» Intervention. Wenn sie Warteschlangen und Leiden plötzlich so berühren, müssten sie, falls ein wenig ehrlich, ihre Wut gegen die AkteurInnen des Wirtschaftskriegs von oben richten. Und sonst muss ihr perverser Zynismus bekämpft werden.


Anmerkungen:

[1] Werner Marti, 14.8.17: Lateinamerikanische Front gegen Maduro.

[2] zerohedge.com, 31.10.16. Steve H. Hanke: Venezuela's Inflation - Zero Hedge Repeats the Errors Printed Ad Nauseam in the Financial Press.

[3] http://lalenguatv.com.ve: La mano visible del mercado - guerra económica en Venezuela (2012 - 2016).

[4] http://edition.cnn.com/videos/spanish/2015/10/22/exp-cnne-general-kelly-part-two.cnn.

[5] El Universal, 26.1.16: Advierten que el país está en «crisis humanitaria» por fallas de medicinas.

[6] Panorama, 5.3.15: Diputado Ventura: «Venden dólares de las medicinas en el paralelo».

[7] Correo del Orinoco, 23.10.14: «Gobierno decomisa dos galpones...»

[8] AVN, 13.5.15: Hallan más de 14 millones de medi camentos vencidos en Zulia.

[9] Correo del Orinoco, 11.2.16: Incautan más de seis toneladas de insumops médicos acaparados en Maracaibo.

[10] Radio Mundial, 2.4.16: Pfizer sabotea producción de medicamentos generando desabastecimiento.

[11] amerika21.de, 16.7.16: Arbeiter übernehmen Niederlassung von Kimberleya Clark in Venezuela.

[12] Telesur, 18.10.16: Despite Profit Motive, US Banks and Markets Squeezing Venezuela's Economy.

[13] Alba Ciudad, 30.6.17: Grupos violentos incendiaron 40 toneladas de alimentos en Anzoátegui.

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Quelle:
Correos de las Américas, Nr. 188, 16. September 2017, S. 12-15
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
E-Mail: zas11@sunrise.ch
 
Correos erscheint viermal jährlich.
Abonnement: 45,-- CHF


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Oktober 2017

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