Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


CORREOS/217: Kolumbien - Friedensvertrag vor dem Absturz?


Correos de las Américas - Nr. 188, 16. September 2017

Friedensvertrag vor dem Absturz?
Zur staatlichen Nicht-Umsetzung der Friedensabkommen mit der Ex-Guerilla der FARC

von José Rodríguez


Den Friedensvertrag zwischen der Regierung und der FARC-EP können wir als historisches Ereignis bezeichnen. Einerseits, weil die FARC ihrer Demobilisierung und Entwaffnung zustimmten, und andererseits, weil die USA diesen Prozess akzeptierten und in einem gewissen Ausmass auch unterstützten. Es handelt sich um die älteste Guerilla der Welt, die klar kommunistisch orientiert und den Motiven für den Beginn des bewaffneten Kampfes verpflichtet ist - der Landfrage und der Gewalt der kolumbianischen Demokratie. Zwei Momente, die sich zu Beginn des Dialogs 2012 zu verschärfen schienen: die Landenteignung vertiefte sich auf institutionelle Weise[1] und die Gewalt in Form des jetzt «Bacrim» (kriminelle Banden) genannten Narcoparamilitarismus, der weiter jedes Jahr hunderttausende BäuerInnen vertrieb.

Gleichzeitig hielt die Militarisierung des Staates an. Die gegen die Guerilla gerichteten Ausgaben für Rüstungstechnologie nahmen in der ersten Dekade des neuen 21. Jahrhunderts masslos zu; 2011 wurde der Chef der FARC, Alonso Cano, auf ausdrücklichen Befehl von Präsident Juan Manuel Santos ermordet[2]. Als Verteidigungsminister der vorherigen Regierung von Álvaro Uribe leitete Santos auch die Streitkräfte, die entsetzliche Menschenrechtsverbrechen begingen[3]. Diese Umstände liessen keine Annäherung erkennen, doch war diese im Geheimen schon seit einiger Zeit erfolgt.

Wie kam es dazu? Am letzten 18. Juli sagte Rodrigo Granda von der FARC-Führung anlässlich des Kongresses der KP Kolumbiens: «Wir gaben alles für den bewaffneten Kampf und für einen Volksaufstand in Kolumbien, aber das gelang uns nicht. Aber auch der Staat setzte sein ganzen Machtinstrumentarium und das seiner Verbündeten ein, um die FARC auszulöschen, aber es gelang ihm nicht. Was also drängte sich angesichts dieses Patts auf? Das, was wir gemacht und in der Leitung und Basis der FARC diskutiert haben. Der strategische Plan der FARC beinhaltete sowohl den bewaffneten Kampf wie auch die politische Dialoglösung. Der Feind hatte uns einige Schläge versetzt und uns international isolieren können, und auch in Kolumbien erlebten wir solche Situationen. Als Juan Manuel Santos Präsident wurde, sagte er, es gebe die Möglichkeit eines Dialogbeginns (...). Nun, das in Havanna erzielte Abkommen drückt ein Kräfteverhältnis aus. Präsident Santos sagte, im Abkommen stünden Dinge, die ihm nicht gefielen; auch uns gefällt einiges nicht. Wir hätten eine Revolution am Verhandlungstisch vorgezogen. Aber unter den heutigen Bedingungen ist dies unmöglich, wir schlossen einen Vertrag ab, von dem wir denken, dass er gut ist.»

Aus einer europäischen rechtsstaatlichen Sicht entspräche der Vertrag von Havanna einer liberalen Demokratie aus nicht vor langem vergangenen Zeiten. In der anormalen und unterentwickelten Realität eines Kapitalismus und eines politischen Systems wie in Kolumbien ist der Vertrag äusserst fortschrittlich. Seine sechs Punkte zielen darauf, die Ursachen zu beseitigen, die den Gebrauch von Gewalt als Mittel, um im Entwicklungsprojekt zu überleben, und als Form der politischen Opposition alimentieren. Es ist unmöglich, das 600-seitige Vertragswerk (ohne Anhänge) in wenigen Sätzen zu behandeln. Deshalb sollen hier ganz rudimentäre Stichworte genügen:

1. Eine integrale Landreform, um 7 Millionen ha an arme BäuerInnen und weitere 3 Millionen ha an Landlose überzuführen. Wie generell in den Abkommen legt auch dieser Punkt Gewicht auf weibliche Familienvorstände, Umwelt, Geschlechterfragen und ethnische Minderheiten.

2. Eine demokratische Öffnung, um über institutionelle Veränderungen die politische Beteiligung von Minderheiten zu ermöglichen.

3. Aufgabe der Waffen, Demobilisierung der Aufständischen und sozio-ökonomische Pläne für ihre Wiedereingliederung; aber auch Verifizierung der Abkommensumsetzung mit Beteiligung der UNO und der Zivilgesellschaft. War einer der schwierigsten Verhandlungspunkte, insbesondere bzgl. der Demontierung des Paramilitarismus inkl. eines Sonderapparates für die Aufklärung und Ahndung paramilitärischer Verbrechen.

4. Den Drogenanbau als sozioökonomisches Problem angehen; integraler, mit der Agrarreform verbundener Ansatz statt Besprühung von Coca-Plantagen.

5. Das «Abkommen über die Opfer des Konflikts» war das schwierigste, zugleich am meisten von juristischen und Menschenrechtsexperten gelobte, weil es die Opfer ins Zentrum der Gesamtabkommen stellt, eine «Sonderjustiz für den Frieden» und die Respektierung der Menschenrechte verlangt. Der Punkt sieht die Einrichtung zahlreicher Sondertribunale zur Aufklärung von millionenfachen Menschenrechtsverletzungen und eine Wahrheitskommission vor. Für die reaktionärsten Kräfte kommen die Guerillas zu gut weg, sie empören sich darüber, dass auch Militärs, Paramilitärs und die Financiers und Nutzniesser des Paramilitarismus belangt werden sollen.

6. Umsetzung der Abkommen. Hier liegt möglicherweise der Wurm in einer an sich schönen Sache. Zwar gibt es eine bilaterale Überwachungskommission für die Detailumsetzung, doch müssen ihre Folgerungen einem Fasttrack-Verfahren der verschiedenen parlamentarischen und justiziellen Instanzen unterzogen werden. Sowohl das Parlament wie die Justiz als auch die Exekutive, die das Abkommen unterzeichnet hat, wollen es sabotieren und abändern.

Der Friedensprozess genoss die einhellige Unterstützung des Kontinents, Kuba stellte sein Territorium und seine guten Dienste zur Verfügung, Venezuela finanzierte den ganzen Prozess und die anderen unterstützten die Sache. Die FARC waren, wie wir gesehen haben, klar: Sie waren nicht geschlagen, aber hatten auch keine Möglichkeit, den Krieg zu gewinnen. Der Teil der Oligarchie, der regiert und das Abkommen ausgehandelt hat, kam ebenfalls zur Einsicht, dass der Krieg ohne konkrete Siegesperspektive zu teuer war. Auch für die USA war der Krieg, bei dem ihr Waffenmaterial nicht wesentlich zur Dynamisierung der Rüstungsindustrie beitrug, teuer, zumal die ungeschlagenen FARC weiter ein Hindernis für die Ausbeutung der reichlich vorhandenen traditionellen und neuen Naturressourcen darstellten. Sie setzten also auf einen neuen Businessplan.


Das Nein-Lager

Anders positioniert sind a) die Oligarchiesektoren der traditionellen und neuen Grossgrundeigentümer, also die politisch vom Uribismus repräsentierten Profiteure des paramilitärischen Landraubs und des Drogenhandels; b) einige Sektoren der Industrieoligarchie, die mit Kriegsmaterial Profit machten; und c) die Eigentümer der grossen Medien, die ebenfalls am Krieg verdienten. Letztere mobilisierten viele christliche Kirchen mit dem Argument, der Geschlechterfokus der Abkommen richte sich gegen die christliche Zivilisation.

Am 26. September 2016 wurde der Vertrag unterschrieben, den die Regierung am 2. Oktober einem Referendum unterstellte, in dem der Vertrag mit 0.46% Differenz zugunsten des Nein-Lagersabgelehnt wurde. Sofort kam es zu einer Neuverhandlung der Abkommen. Das von Álvaro Uribe angeführte Nein-Lager brachte 60 Abänderungsvorschläge ein, von denen schliesslich 57 angenommen wurden und die das Abkommen signifikant verschlechterten. Am 24. November 2016 kam es zur definitiven Vertragsunterzeichnung.


Vertragsbrüche

Bis am 31. Dezember 2016 sollten 26 im Land verteilte Auffangzonen infrastrukturell aufgerüstet sein, um dort ab dem 1. Januar die Guerillas aufnehmen zu können. Doch bis jetzt, Anfang August, stehen in einigen Zonen erst 20% der Einrichtungen. Seit dem 18. Februar befindet sich trotzdem die ganze Truppe in diesen Zonen und lebt dort unter gesundheitsschädigenden Bedingungen, ohne adäquate medizinische Versorgung; selbst die angelieferte Nahrung war in einigen Fällen nicht essbar. Ein Faktor dabei ist die im Staat herrschende Korruption.

In ihrem Bericht (Segundo Informe «Cómo va la Paz») von Ende Juli 2017 [4] hält die Stiftung Paz y Refundación Wichtiges fest: «10% [der Abkommen] beziehen sich direkt auf die Kriegsakteure, die anderen 90% stärken die Gesellschaft allgemein. Bis jetzt hat die Agenda der ersten 10% angefangen. Bei den anderen 90% (...) bedarf es einer rigoroseren Arbeit, damit die Hoffnungen auf eine Transformation der marginalisiertesten Territorien sich in konkreten politischen Massnahmen niederschlagen können.» Schon bei der 10%-Gruppe gibt es schwere Hindernisse. Zwar ist das Amnestiegesetz für gefangene FARC-Mitglieder am 30. Dezember verabschiedet worden, doch hält Jesús Santrich von der FARC-Leitung fest: «Von den 3400 von den FARC anerkannten Gefangenen wurden nur 837 befreit, in die Sammelzonen transferiert oder bedingt entlassen.»[5] Dies obwohl die UNO am 27. Juni 2017 die Entwaffnung der FARC bestätigt hat. Santrich hatte sich damals einem später nach einem ersten Einlenken der Regierung beendeten Hungerstreik der politischen Gefangenen angeschlossen und teilte mit: «1565 sind im Hungerstreik, 45 mit zugenähtem Mund.»

Ein auch von den mit der Umsetzungsüberwachung betrauten internationalen Instanzen bestätigtes Phänomen ist, dass frühere FARC-Zonen wieder besetzt sind, nicht von der Armee, sondern von den Paramilitärs. In anderen Zonen herrscht angesichts des Fehlens der FARC-Autorität eine kriminelle Anarchie; kriminelle Strukturen füllen jetzt mit absehbaren Konsequenzen das Machtvakuum aus. Und sehr besorgniserregend ist, was die Stiftung Paz y Reconciliación in ihrem oben erwähnten Bericht beschreibt: «Zwischen dem 24. November 2016 und dem 11. Juni 2017 ist es zu 181 gewalttätigen Angriffen auf SozialaktivistInnen und Menschenrechtsverteidiger gekommen.» Acht FARC-Mitglieder sind zudem ermordet, fünf weitere trotz offiziellem Geleitbrief verhaftet worden, einer zwecks Auslieferung in die USA. Die FARC schreiben: «Die Morde an SozialaktivistInnen und Menschenrechtsverteidigern sind nicht die isolierten Vorkommnisse, als das sie dargestellt werden. [U.a. finden sie statt] in genau den Territorien, wo die Streitkräfte und die Polizei ihren 'Plan Victoria' vorantreiben.»[6]

Die Vertragsbrüche werden mit dem Hinweis auf eine angebliche Gewaltentrennung erklärt. Das ist lächerlich. Während des Kriegs funktionierte die Gleichschaltung der drei Staatsgewalten, für den Frieden funktioniert sie nicht. Alles deutet auf ein abgekartetes Spiel hin, um die FARC zu «legen». Die FARC betonen, mit der Regierung als Vertreterin des Staats verhandelt zu haben. Dennoch ist kaum verständlich, wie eine so erfahrene Guerilla in ihrem 7. Verhandlungsprozess nicht Mechanismen vorgesehen hat, um das, was sich jetzt zuträgt, zu verhindern. Jesús Santrich, von dem man sagen kann, dass er seitens der FARC der Stratege dieser Abkommen war, sagte kürzlich: «Die Guerillas, die am 26. Juni die Waffen gelassen haben, müssen sagen, dass wir in einem Prozess nicht der Umsetzung, sondern der Neuverhandlung sind. Wir mussten jedes Detail erneut diskutieren, nicht nur mit der Regierung, sondern mit jeder staatlichen Instanz.» Dabei sah das Vertragswerk vor, dass die Regierung ihre Vorschläge dem Parlament in einem Fasttrack-Verfahren vorlegt. Die Projekte konnten demnach nur en bloc und diskussionslos angenommen oder abgelehnt werden. Doch ein Urteil der Verfassungskammer sprach den Abgeordneten das Recht zu, jedes Detail zu modifizieren. Und die Regierung führt ohnehin zu jedem einzelnen Gesetzesvorschlag vorgängig eine Vernehmlassung durch, was eine Neuverhandlung der Abkommen unter den Komponenten des Machtblocks bedeutet.

Ein Beispiel dafür ist der Abkommens teil über die Landrückgabe an die Vertriebenen. Unter dem Druck des Latifundiums sah der Gesetzvorschlag 1448, der eigentlich die Abkommensinhalte in Gesetzesform giessen sollte, faktisch vor, den Raubbesitz an Land zu legalisieren. Dafür sollte mit juristischen Tricks die Bedingung «Opfer von Landraub» gestrichen werden, um die Ländereien den Minenmultis zu übergeben. Eine Mobilisierung in der Bevölkerung und der FARC konnte dies dann verhindern.

Jetzt, wo das angestrebte Ziel der Entwaffnung der FARC erreicht ist, wollen ökonomische Mächte auf die weiteren Vertragsteile «verzichten». Im Klima allgemeiner Verunsicherung wächst auch die Kritik einiger eher FARC-naher Sektoren, die zwar den eingeschlagenen Weg für richtig, aber auch stringentere Umsetzungsmassnahmen für unabdingbar erachten. So sei die Waffenabgabe zu früh, vor der Vertragsumsetzung, erfolgt. Vergessen wir nicht: Eine FARC-Front und Teile anderer Fronten haben sich zu Dissidenten erklärt und stossen damit auf wachsende Sympathien.

Zu ihrem Gründungskongress als legale Formation vom 26. August 2017 schreiben die FARC: «Der Kongress wird den Charakter der neuen, breit angelegten Partei definieren, die in ihrem internen Aufbau der Erfahrung des jahrzehntelangen revolutionären Kampfes verpflichtet ist. Er wird die für die politische Konjunktur und für die Befolgung unserer strategischen Vision der strukturellen Transformation der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung nötigen Entscheidungen treffen. Er hat die Aufgabe, der kolumbianischen Gesellschaft im Allgemeinen und besonders der arbeitenden Klasse, den Ausgeschlossenen, den einfachen Männern und Frauen eine politische Alternative für die Verbesserung ihres jetzigen Alltagslebens zu bieten.[7]»

«Für die bald kommenden Wahlen orientieren sich die FARC an der dringenden Notwendigkeit einer 'Übergangsregierung einer grossen demokratischen Koalition'» (id.).

Tausende meist junger Guerillas, die das Massaker an der Unión Patriótica, entstanden im Rahmen eines ähnlichen Vertrags von 1985 zwischen den FARC und der Regierung, nicht erlebt haben, sind voller Optimismus, jetzt das Ziel eines Friedens mit sozialer Gerechtigkeit und Demokratie, für das sie bewaffnet gekämpft haben, friedlich und an der Urne erreichen zu können. Während der wichtigste Kopf der FARC für die Vertragsdynamik, Jesús Santrich, trotz allem auch er voller Enthusiasmus und Kampfentschlossenheit, betont: «Ich glaube, wir werden das in den Abkommen Festgehal tene nie und nimmer erreichen. Wir berufen uns auf eine politisch widersprüchliche Situation, denn wir haben die Waffen schon niedergelegt. (Die Regierung) nimmt zu den zentralen Abkommensinhalten eine infame Haltung der Ablenkung und des Vertragsbruchs ein. Ich bin optimistisch, was die Friedensliebe des Volks betrifft, die Möglichkeit, dass eine andere Welt siegen wird. Die Leute werden ihre Stimme erheben, um andere Realitäten zu suchen; aber die Regierung wird den Vertrag nicht erfüllen» (s. Fn. 5)


Anmerkungen:

[1] 2015 schlug die Regierung Agrarische Sonderentwicklungszonen (Zidres) vor. Oxfam schrieb dazu: «Es handelt sich um ein Gesetz, das die irreguläre Akkumulation von Land - das als brachliegend galt - durch nationale und ausländische Unternehmen erleichtern soll.»

[2] Alfonso Cano starb am 4. November 2011 im Rahmen einer riesigen Militäroperation. Einige Zeit danach gestand Santos einem Bruder des Ermordeten, dass er den Befehl zur Erschiessung des gefangenen Cano gegeben hatte.

[3] Santos muss z. B. die Ermunterung der Armeepraxis der «falsos positivos» verantworten: Tausende von jungen Männern aus Armutsquartieren verschiedener Städte wurden mit Jobversprechen u. ä. in Konfliktzonen gelockt, wo sie ermordet und als gefallene Guerilleros präsentiert wurden.

[4] Juli 2017, Segundo Informe «Cómo va la Paz».

[5] 29. 7. 2017, Interview in El Espectador

[6] Juni 2017, Revista Resistencia online, Bloque Caribe FARC-EP.

[7] Declaración Política, Estado Mayor Central, Bogotá, 23. - 26. Juli 2017.

*

Quelle:
Correos de las Américas, Nr. 188, 16. September 2017, S. 19 - 21
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
E-Mail: zas11@sunrise.ch
 
Correos erscheint viermal jährlich.
Abonnement: 45,-- CHF


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Oktober 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang