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DAS BLÄTTCHEN/1057: Demokratie - Versuch einer Anamnese


Das Blättchen - Nr. 19 vom 27. September 2010
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft

Demokratie - Versuch einer Anamnese

Von Gabriele Muthesius


Nach dem Grundgesetz beansprucht die Bundesrepublik, eine deutsche demokratische Republik zu sein, und die Idee der Demokratie wiederum fußt auf der Vorstellung, daß der "Wille des Volkes" Grundlage und Maßstab für das Handeln der Politiker ist. In Artikel 20 Absatz 2 Grundgesetz heißt es daher: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus."

Es wäre sicher eine reizvolle Herausforderung, diesen Anspruch anhand der Landesgeschichte seit 1949 auf seinen Realitätsgehalt hin abzuklopfen, aber das würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen - ganz abgesehen davon, daß man sich unter Umständen der Gefahr aussetzte, in einer Ecke zu landen, in der man von Karl-Eduard von Schnitzler bereits erwartet würde. Nicht einmal die letzten 20 vereinigten demokratischen Jahre sollen hier analysiert, es soll vielmehr lediglich ein Blick auf die Gegenwart geworfen werden. Die allerdings ist ihrerseits sehr wohl Resultat der Zeit seit 1949 und, um an die jüngste gesamtgesellschaftliche Zäsur zu erinnern, der Periode seit 1990. Mindestens also ein Zwischenergebnis in einem anhaltenden Prozeß - oder, falls das Ende der Geschichte im Hinblick auf die Demokratieentwicklung westlicher Prägung bereits eingetreten sein sollte, vielleicht doch ein im Rahmen des bestehenden Systems finaler Zustand.

Experten jedenfalls sprechen mit Blick auf westliche Gesellschaften schon seit längerem von Postdemokratie, und wiewohl die nicht vom gelben Riesen ausgeliefert wird, legt doch bereits der Begriff die Befürchtung nahe, daß der Demos, also das Volk, dabei noch weniger zu sagen haben könnte als zu Zeiten der Erfindung der Demokratie im klassischen Griechenland. Dabei blendet der verklärte Blick in die Vergangenheit - "Früher war alles besser!" - allerdings häufig aus, daß der Begriff Demokratie schon von Geburt an den Tatbestand des Euphemismus erfüllte: Demokratie war auf der Agora von Athen zweifelsohne ein historischer Fortschritt zur bis dato herrschenden Tyrannis, nur - eine Herrschaft des Volkes war sie mitnichten. Zugelassen waren lediglich freie männliche Bürger, also keine Frauen, keine Metöken (Bewohner Athens auswärtiger Herkunft) und Sklaven schon gar nicht. Wäre Winston Churchill Athener gewesen, hätte er daher durchaus bereits an der Wiege der Veranstaltung und nicht erst im Unterhaus am 11. November 1947 festgestellen können: "Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen - abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind." Trotzdem war der Partizipationsgrad des Demos im alten Athen eventuell sogar höher als heute in der Bundesrepublik. Dort wurde ein erfolgreicher und jahrelang höchst beliebter Politiker und siegreicher Stratege wie Themistokles, der die Perser in der Seeschlacht von Salamis vernichtend geschlagen und Athen damit die Unabhängigkeit berwahrt hatte, per Ostrakismos - zu deutsch: Scherbengericht - in die Verbannung geschickt und überdies zum Tode verurteilt. Das geschähe im Hier und Jetzt ja nicht einmal Thilo Sarrazin, von gewissen anderen Häuptern der politischen Klasse ganz zu schweigen - selbst wenn die Mehrheit der freien Bürger dies wollte!

Postdemokratie ist dem britischen Soziologen Colin Crouch zufolge durch vier grundlegende Merkmale charakterisiert. Erstens - demokratische Rituale und Institutionen bestehen zwar auf allen gesellschaftlichen Ebenen fort und funktionieren - oberflächlich betrachtet - so, als wären sie das tragende Skelett des Staates, tatsächlich sind sie aber für die tatsächlichen politischen Entscheidungsprozesse nahezu irrelevant. Damit korrespondiert zweitens, daß Parteipolitik und Wahlkämpfe von den Inhalten der späteren Regierungspolitik weitgehend entkoppelt sind. Personalisierte Wahlkämpfe dominieren anstelle gesellschaftlicher Debatten über Alternativen der Entwicklung des Gemeinwesens. Drittens - der konkrete Inhalt der Politik wird hinter den Kulissen, im Zusammenwirken von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern, bestimmt. Und daraus folgt viertens, daß das Volk zwar nicht de jure, aber sehr wohl de facto entmachtet ist. "Alle Staatsgewalt geht ..." wird damit zur leeren, lediglich deklarativen Hülle und zur Reminiszenz an eine Zeit, die es als solche vielleicht nie gegeben hat. Claudia Ritzi und Gary S. Schaal von der Bundeswehrakademie in Hamburg resümierten in einem höchst lesenswerten Essay in der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte" der Wochenzeitung DAS PARLAMENT: "Postdemokratie ist ... eine Scheindemokratie im institutionellen Gehäuse einer vollwertigen Demokratie."

Vor diesem Hintergrund ergibt sich gleich ein viel besseres Verständnis für Franz Münteferings weiland stoßgeseufzten Vorwurf ans Wahlvolk, es sei unfair, Politiker hinterher an ihren Wahlversprechen zu messen. Der Vorwurf war kein Symptom politischer Demenz, sondern berechtigte Klage über mangelndes Verständnis postdemokratischer Spielregeln aufseiten der Bürgerinnen und Bürger!

Daß die Bundesrepublik in ihrem gegenwärtigen Zustand im übrigen den genannten postdemokratischen Kriterien ziemlich vollständig entspricht, ist ein Eindruck, der sich mittlerweile andauernd aufdrängt. Der jüngst zwischen schwarz-gelber Koalition und den vier großen Energiekonzernen ausgekungelte sogenannte Atomkompromiß ist da nur das jüngste Beispiel in einer schier endlosen Reihe, und es paßt nahtlos ins postdemokratische Raster, daß Kanzlerin Angela Merkel vor dem Kuhhandel öffentlich erklärte, längere AKW-Laufzeiten seien nicht zuletzt wegen verbraucherfreundlicherer Strompreise sinnvoll, und daß dann Bestandteil des Deals die Vereinbarung wurde, daß, sollten die Strompreise steigen, ein paar Brosamen mehr von den Zusatzgewinnen der Fab Four im Staatssäckel landen. (Fab Four soll an dieser Stelle nicht an eine bekannte Combo aus Liverpool erinnern, sondern an Kapitel sechs in der Offenbarung des Johannes.)

Das erfolgreiche Durchsetzen von Partikularinteressen gegen Volkes Erwartungen ist dabei natürlich kein Vorrecht der Energiewirtschaft. So erinnerte Christian Bommarius in der Berliner Zeitung kürzlich daran, dass Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) in seiner Zeit als Wirtschaftsminister eine britische Großkanzlei beauftragte, einen Entwurf zum Kreditwesengesetz zu verfassen, und der gefiel dem Minister offenbar so gut, daß er den Text an andere Ministerien weiterreichen ließ, ohne auch nur die Signatur der Kanzlei tilgen zu lassen. Bommarius nannte den Vorgang einen "gravierenden Verstoß gegen die Hygienevorschriften der Gesetzes-Produktion" und bescheinigte der Bundesregierung überdies, "seitdem ein bedeutendes Stück vorangekommen" zu sein: Sie lasse sich heute den Gesetzestext von den Betroffenen gleich selbst diktieren: "So geschehen im Fall des sogenannten Sparpakets für die Pharmaindustrie, ein Gesetzesvorhaben, das zum guten Teil bis zu Punkt und Komma von rührigen Vertretern des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) formuliert worden ist."

Grund genug zu befürchten, daß der Marsch der Bundesrepublik in die Postdemokratie vielleicht bereits abgeschlossen und als solcher irreversibel sein könnte. Wer nun aber meint, dieser Situation mit der Forderung nach mehr direkter Demokratie begegnen zu können, der sollte zunächst der grundlegende Frage nachgehen, ob der Souverän, wie der Demos in der politischen Theorie auch gern genannt wird, hierzulande überhaupt noch demokratiefähig und -willig ist. Die stoische Gleichgültigkeit, mit der die überwiegende Mehrheit der Öffentlichkeit die sukzessive Demontage ihrer Freiheits- und Bürgerrechte in den vergangenen zehn Jahren hingenommen hat, spricht jedenfalls nicht für eine uneingeschränkte Bejahung dieser Frage. Ohne breite Partizipationsbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger aber wird direkte Demokratie zu einem recht wirkungsvollen Instrument für Minderheiten, der Mehrheit ihren Willen aufzudrücken. Beim bayerischen Volksentscheid über das Rauchen in Gaststätten reichten 23 Prozent der Wahlberechtigten für ein erfolgreiches Verbot für alle. So sieht kein verallgemeinerungswertes Modell zur Revitalisierung der Demokratie aus, sondern eher der Versuch, Teufel mit Beelzebub auszutreiben.

Fazit an dieser Stelle - so eindeutig wie unbefriedigend: "Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen."


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Quelle:
Das Blättchen Nr. 19 vom 27. September 2010, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 13. Jahrgang
Herausgegeben vom Freundeskreis der Weltbühne
Redaktion: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2010