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EXPRESS/768: Mehr von uns ist besser für alle - Streik für mehr Personal an der Charité


express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit
Nr. 6-7/2015

Mehr von uns ist besser für alle

Jan Latza & Nadja Rakowitz zum Streik für mehr Personal an der Charité


Gute Arbeit kann man - egal in welchem Bereich - nur leisten, wenn es genügend gut ausgebildete KollegInnen für die zu bewältigenden Aufgaben gibt. Das gilt nicht nur im Krankenhaus, sondern überall. Die Auseinandersetzung um Personalbemessung wurde im express auch anlässlich von Kämpfen im Einzelhandel oder der IG BAU-Tarifrunde für Hotel-Putz-Kolonnen geschildert. Im Gesundheitswesen kommt allerdings noch ein spezifisches Problem hinzu: Wenn nicht gut gearbeitet werden kann und wenn es an genügend KollegInnen fehlt, dann ist das schlecht für Dritte, nämlich die PatientInnen. Die Unmenschlichkeit kapitalistischer Rationierungslogik wird hier unmittelbar deutlich. Am 22. Juni hat an der größten Universitätsklinik Europas, an der Charité in Berlin, ein unbefristeter Streik begonnen. Die Beschäftigten wollen in dieser Auseinandersetzung nicht - obwohl auch das dringend nötig wäre - mehr Geld, sondern mehr Personal bzw. einen verbindlichen Personalschlüssel. Jan Latza und Nadja Rakowitz erläutern die Hintergründe und beschreiben die Stimmung während des Streiks vor Ort.


»Noch zwei Frühchen und wir sind in den schwarzen Zahlen.« Diese Ansage der kaufmännischen Direktorin eines - nicht-privaten - Krankenhauses im Saarland spricht Bände über den Zustand deutscher Krankenhäuser. Es geht, wie in allen Fabriken, um Stückzahlsteigerung, und das am besten im lukrativen Segment des Portfolios, in Krankenhäusern also z.B. bei den Frühgeburten, am besten bei denen unter 2.500 Gramm. Die bringen richtig Kohle... Und wenn man dann noch versucht, die Arbeit weitestmöglich zu verdichten und Personal zu sparen, dann steht man am Markt gut da. So wird inzwischen in Krankenhäusern - und zwar unabhängig von ihrer Trägerschaft - gedacht. Das Ergebnis dieser Entwicklung: Laut Statistischem Bundesamt ist die Zahl der Behandlungsfälle in deutschen Krankenhäusern seit Mitte der 90er Jahre von 16,8 Millionen auf 18,8 Millionen im Jahr 2013 gestiegen.(1) Gleichzeitig sank die Zahl der Beschäftigten in der Pflege um ca. 40.000 Vollzeitstellen.(2) Gemäß einer ver.di-Umfrage fehlen in deutschen Krankenhäusern inzwischen 162.000 Stellen, davon alleine 70.000 in der Pflege. Letztere Zahl wird auch in (seriösen) pflegewissenschaftliche Studien genannt.

Was dies konkret heißt, erzählen die KollegInnen der Charité: Nachts ist eine Pflegekraft alleine mit 25 frisch operierten PatientInnen. Im Jahr 2015 gab es bis Streikbeginn allein in der Charité 800 Gefährdungsanzeigen, also Anzeigen von Beschäftigten, dass die Bedingungen, die sie zur Arbeit vorfinden, eine Gefährdung für sie und/oder die PatientInnen darstellen. Die Charité ist hier sicher keine Ausnahme, sondern dies sind inzwischen die »normalen« Bedingungen von medizinischer Versorgung und Arbeit in einem deutschen Krankenhaus.

Der katastrophale Personalmangel in Krankenhäusern betrifft über kurz oder lang alle - entweder als Patientin oder als Angehörige. Die Beschäftigten an der Charité fordern deshalb schon seit Jahren einen Tarifvertrag für mehr Personal. Es geht darum, den Dauerstress auf Station zu verringern, um die Patientinnen und Patienten besser versorgen zu können. Weil sich der Charité-Vorstand und der Berliner Senat bislang weigern, diesen Forderungen nachzukommen, sind die Beschäftigten der Charité seit dem 22. Juni im unbefristeten Streik. Dieser hat - eine Vorgeschichte.


Zunächst ein paar Fakten

Die Charité ist das größte Uniklinikum Europas (13.000 Beschäftigte, 3.000 Betten) und betreibt unzählige »Exzellenzprojekte«. Es gibt drei zentrale Standorte (Wedding, Mitte und Steglitz); sie ist außerdem eine (Wissenschafts-)Einrichtung des Landes Berlin (im Aufsichtsrat sitzen Wissenschaftssenatorin und Finanzsenator, der Gesundheitssenator nicht). Das Land betreibt Austeritätspolitik und verlangt von der Charité die »schwarze Null« im Jahreshaushalt (hier liegt ein zentraler politischer Druckpunkt in der Durchsetzung der Forderung nach mehr Personal). Gleichzeitig kommt aber das Land Berlin seinen Investitionspflichten nicht nach: Die Charité ist chronisch unterfinanziert und muss deshalb Gelder der Krankenkassen, die eigentlich für Personal- und Sachkosten gedacht sind, umwidmen, um nötige Investitionen zu tätigen. Dabei investiert das Land Berlin nicht einmal die Hälfte des Durchschnitts der Investitionsquote aller Uni-Klinika in Deutschland.

Die Charité hat aber auch ein »Exzellenzprojekt von unten«: nämlich die wohl handlungsfähigste und schlagkräftigste ver.di-Betriebsgruppe aller deutscher Krankenhäuser. Das kommt nicht von ungefähr, sondern ist Resultat langjähriger Gewerkschafts- und Mobilisierungsarbeit. Seit über drei Jahren erhebt ver.di an der Charité die Forderung nach mehr Personal. Diese hat sich aus der letzten Streikbewegung 2011 entwickelt. Damals wurde die Forderung nach höherem Lohn erfolgreich erstreikt, der abgeschlossene Tarifvertrag hat allerdings eine Laufzeit bis 2016. Dass die KollegInnen 2011 überhaupt einen erfolgreichen Arbeitskampf führen konnten, lag an dem bislang einzigartigen Konzept des Betten- und Stationsschließungsstreiks. Dieses war nach Einführung der Fallpauschalen möglich geworden, weil die Beschäftigten ihrem Krankenhaus durch traditionelle Arbeitskämpfe gar keinen ökonomischen Schaden mehr zufügen konnten: »Streik bedeutete«, so Luigi Wolf, »dass die Gewerkschaft und der Arbeitgeber sich in einer Notdienstvereinbarung einigten, die Anzahl der Pflegekräfte auf Sonn- und Feiertagsniveau zu reduzieren. Ökonomischer Schaden entstand dem Krankenhaus kaum und die Pflegekräfte konnten kaum aktive Streiksubjekte werden.«(3)

Die Charité-AktivistInnen, so Wolf weiter, wussten diese Veränderungen zu nutzen und organisierten ihren Streik so, dass keine neuen PatientInnen aufgenommen und frei werdende Betten nicht mehr belegt werden konnten. Nach fünf Tagen Vollstreik waren 1 500 von 3 300 Betten der Charité »gesperrt«. 90 Prozent der Operationen fielen aus und die Charité erlitt empfindliche finanzielle Verluste. Im Ergebnis musste die Charité-Leitung - wenige Jahre nach ihrem Austritt aus dem Arbeitgeberverband, um eine Absenkung der Löhne durchzusetzen - wesentlichen Forderungen der Pflegekräfte u.a. nach einer kompletten, wenn auch gestuften Angleichung an das Niveau des Flächentarifvertrags zustimmen; der Vertrag hat eine Laufzeit von fünf Jahren.

Aber das war nicht der einzige Erfolg, denn längerfristig war es gelungen, das Berufs- und Pflegeethos der Beschäftigten von einer Hürde für gewerkschaftliche Mobilisierung zu einer Ressource zu machen, die erstmalig der Pflege im Krankenhaus ökonomisches Druckpotenzial gibt. Das sieht man im aktuellen Streik. Zwischenzeitlich - in den fünf Jahren Friedenspflicht - haben die Gewerkschaftsaktiven die Beschäftigten befragt, was sie wollen und was sie brauchen. Die Antwort fiel eindeutig aus: mehr Personal!

Mit dieser Forderung hatten es die ver.di-KollegInnen allerdings lange sehr schwer: Um Tarifverhandlungen über mehr Personal zu verhindern, war das erste Manöver der Charité die Behauptung, die Forderung verstoße gegen die im Grundgesetz festgeschriebene unternehmerische Freiheit. Die Charité reklamiert also die »Freiheit«, so wenig Personal in der Gesundheitsversorgung einzusetzen, wie man will. Auch die Bundesebene von ver.di hat sich dieser Auffassung lange Zeit angeschlossen. Letztlich hat sich ver.di aber überzeugen lassen - und das zählt im Moment und in Zukunft. Seit dem 19. Juni ist diese Frage bzw. Drohung zum ersten Mal richterlich bewertet worden. Der Arbeitsrichter begründete, warum er das von der Charité beantragte vollständige (und ggf. teilweise) Verbot des Streiks in allen Punkten ablehnt, folgendermaßen: »Die unternehmerische Freiheit des Arbeitgebers endet dort, wo der Gesundheitsschutz der Mitarbeiter beginnt.« Deutlicher geht es nicht. Die Forderung nach mehr Personal ist damit zum ersten Mal von einem Arbeitsgericht für tariffähig erklärt worden. Auch die erwähnte Notdienstvereinbarung wurde von ihm als rechtsgültig und ethisch einem Streik im Krankenhaus angemessen bestätigt. Das Urteil wurde am 24. Juni auch in der nächsten Instanz so bestätigt.

Dem vorausgegangen war eine Warnstreikmobilisierung im Frühjahr 2013 nach neun Monaten ergebnisloser Verhandlungen; daraufhin flüchtete sich die Charité in eine Schlichtung mit dem Ergebnis eines Kurzzeittarifvertrags für sechs Monate: 80 Vollkräfte sollten zusätzlich eingestellt werden. Eine paritätische Gesundheitskommission sollte über die Verteilung bestimmen. Dieser Tarifvertrag lief Ende 2014 aus, das Ergebnis war schlecht - der Jahresbericht der Charité wies einen Abbau des Pflegepersonals um einige VK aus! Nachdem neue Verhandlungen wieder ohne Ergebnis blieben, kam es im Februar 2015 zu einem Warnstreik; auch danach machte der Arbeitgeber kein akzeptables Angebot. Die Beschäftigten wurden in einen unbefristeten Streik gezwungen, den sie im Juni 2015 dann begannen.


Ein Stück deutsche Krankenhaus- und Gewerkschaftsgeschichte

Die Charité-KollegInnen schreiben damit ein Stück deutsche Krankenhaus- und Gewerkschaftsgeschichte: Zum ersten Mal überhaupt wird in einem Krankenhaus für mehr Personal gestreikt. Der Streik basiert auf einer Notdienstvereinbarung zwischen ver.di und der Charité, die im Kern besagt, dass streikbedingte Bettenschließungen drei Tage und die Schließung kompletter Stationen sieben Tage vor Streikbeginn gemeldet werden müssen, damit der Arbeitgeber Zeit hat, die Betten zu räumen bzw. nicht wieder zu belegen (die durchschnittliche Verweildauer im Krankenhaus liegt bei sieben Tagen).

Dieser Streik ist inzwischen außerdem einer der größten und machtvollsten, den es in einem Krankenhaus in Deutschland jemals gegeben hat: Knapp 1000 Betten wurden gesperrt, das entspricht zwei mittelgroßen Kreiskrankenhäusern. Die Schließungsliste von ver.di ist beeindruckend. Ebenso die Resonanz insbesondere von Pflegekräften aus ganz Deutschland. Nachlesen kann man die Solidaritätsbekundungen und Kommentare auf der Facebook-Seite des Unterstützungs-Bündnisses. Am Samstag, 20. Juni war der Streik auf der Titelseite des Berliner Kuriers; das Foto davon hat über die Facebook-Seite über 750.000 Menschen erreicht. Auch ein Blick in die vielen Soli-Erklärungen, die schon für den zweitägigen Warnstreik im April eingegangen waren, vermittelt einen Eindruck, wie hoch die Identifikation von Krankenhausbeschäftigten mit diesem Kampf ist: In seiner Offensivität und seinem Kampfgeist ist er ein Spiegel für das durch den Personalmangel verursachte massive Leid und Elend - besonders der Pflegekräfte -, dass die Beschäftigten i.d.R. nur mit der Faust in der Tasche beantworten/ertragen.


Die Büchse der Pandora

Sollte ver.di einen guten Tarifabschluss erstreiten können, erhöht dass die Chance für einen bundesweiten tarifpolitischen Flächenbrand enorm: Es gibt andere »systemrelevante« Krankenhäuser (Maximalversorger, die nicht einfach Pleite gehen können), die gerne ähnliche Tarifforderungen erheben würden, sich aber bisher nicht in einen solchen Großkonflikt trauen, der noch nirgendwo erfolgreich durchgekämpft wurde. Aus Sicht der Arbeitgeber würde damit die »Büchse der Pandora« geöffnet. Auch die erfolgreiche ver.di-Aktion 162.000, die während des Streiks an der Charité am 24. Juni flächendeckend vor Krankenhäusern in der ganzen Republik stattgefunden hat, zeigt, dass es bei den Beschäftigten ein Bewusstsein vom Problem und die Bereitschaft zur Aktion gibt.

Wie klar die Streikaktivisten die politische Qualität ihres Kampfes sehen, wurde bei einer mit 160 Menschen gutbesuchten Solidaritätsveranstaltung am Freitag vor dem unbefristeten Streik deutlich. Allen Beteiligten ist bewusst, dass mit der Forderung nach einem adäquaten Personalschlüssel der Widerspruch zu Marktvorstellungen offen zutage liegt und deshalb ein Kampf gegen die Ökonomisierung des Gesundheitswesens aufgenommen ist. Das zeigen die vielen Solierklärungen(4), die bei der Veranstaltung aus vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen kamen, aber auch die »Gästeliste«: Es sprachen Leute von Amazon, von der Post, aus den Kitas, von der GDL, aber auch ein Gewerkschaftssekretär aus Australien, der von ähnlichen Kämpfen im australischen Gesundheitswesen berichtete. Auch die Verbindung zu den Auseinandersetzungen in Griechenland wurde gezogen. Denn dort hat die Ökonomisierung des Gesundheitswesens im Zuge der Austeritätspolitik noch ein viel brutaleres Gesicht.

Eine weitere Besonderheit, wenn auch keine Einzigartigkeit des Streiks an der Charité ist das Bündnis »Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus«, das sich im Sommer 2013 zur Unterstützung des Streiks gegründet und viel dazu beigetragen hat, dass der Streik von der Bevölkerung und den PatientInnen akzeptiert und unterstützt wird. Z.B. verteilen und kleben die Mitglieder des Bündnisses Plakate in allen Kiezen, Geschäften, anderen Krankenhäusern, in Arztpraxen usw. Außerdem unterstützen sie den Streik mit täglichen Aktionen etc.

Ebenfalls unterstützte und organisierte das Bündnis eine (kritische) »Streik-Uni«(5), in deren Rahmen mehr als 15 Workshops und Vorlesungen zu gewerkschafts- und gesundheitspolitischen Themen stattgefunden und mehr als 300 Beschäftigte teilgenommen haben. In der zweiten Streikwoche funktionierte das Konzept der Streik-Uni erfreulicherweise dann so, dass die Beschäftigten selbst Inhalte und Themen formulierten, über die sie gerne im Rahmen des Streiks Seminare oder Workshops machen wollten. Auch dies gelang mit mehreren Veranstaltungen.

Eine weitere gewerkschafts- und tarifpolitische Besonderheit haben wir mit dem dort praktizierten Konzept der so genannten Tarifberater erlebt: TarifberaterInnen aus allen Teams (Intensivstationen und Stationen mit Normalpflege) sollen an jedem entscheidenden Punkt immer gemeinsam mit der Tarifkommission diskutieren. Es soll keine Abkoppelung der Gremien von der Basis der Beschäftigten geben, sondern gemeinsame Diskussion und enge Einbeziehung (je nach Verhandlungsverlauf auch sehr kurzfristig). Die Treffen der Tarifberater waren mit mehr als 70 TeilnehmerInnen sehr gut besucht und erwartungsgemäß war die Diskussion nicht einfach. Dieses Modell trägt dazu bei, den Streik besser und weitreichender bei den Beschäftigten zu verankern als zuvor. Zum Beispiel kann bei der Festlegung des Personal-Bedarfs auf den Stationen ihr Expertenwissen einbezogen werden: Wie müssen die Schichten mindestens besetzt sein, damit tatsächlich eine Entlastung erreicht wird?


Einigung auf ein Eckpunktepapier

Kurz vor Redaktionsschluss erreichte uns die Nachricht, dass ver.di und die Charité sich geeinigt haben auf ein Eckpunktepapier zu einem Tarifvertrag »Gesundheit und Demographie«.

Am 1. Juli wurde vereinbart, dass der Streik am 3. Juli ausgesetzt und der Betrieb wieder vollständig aufgenommen werden soll. Laut Pressemitteilung des Bündnisses vom 1. Juli haben sich ver.di und Charité darüber verständigt, »Regelungen zur Reduzierung der Arbeitsbelastung in allen Arbeitsbereichen festzulegen. Der Tarifvertrag soll einen Maßnahmenkatalog enthalten, mit dem belastende Arbeitssituationen abgestellt werden sollen. Es werden für alle Berufsgruppen Kriterien definiert, an Hand derer Belastungen identifiziert werden. Für die Intensivstationen und die Kinderklinik soll eine Quote festgelegt werden. Auch für die Normalpflege sollen Mindestbesetzungsstandards gelten. Wenn Belastungssituation durch die Beschäftigten angezeigt und die Personalmindeststandards unterschritten werden, soll die Charité tarifvertraglich verpflichtet werden, Maßnahmen zur Entlastung einzuleiten. Hierzu gehören ausdrücklich auch Einschränkungen des Arbeitsvolumens.«(6)

Carsten Becker, der Streikführer schätzt die Vereinbarung so ein: »Die hohe Arbeitsbelastung der Beschäftigten wirkt sich auch negativ auf die Versorgung der PatientInnen aus. Mit diesen Eckpunkten haben wir auch einen Grundstein für gute Pflege im Krankenhaus gelegt.«(7) Die Eckpunkte sollen nun in einen Tarifvertrag gegossen werden. ver.di wird hierfür auf einen Zeitplan orientieren, der einen zeitnahen Abschluss ermöglicht. Es wird ein Gesundheitsausschuss eingerichtet, der Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und zum alternsgerechten Arbeiten initiiert. Meike Jäger, ver.di-Landesfachbereichsleiterin Gesundheit in Berlin-Brandenburg erklärt dazu: »Die schwierigen Verhandlungen haben deutlich gemacht, dass weiterhin die Politik gefordert ist. Wir brauchen eine gesetzliche Personalbemessung und eine ausreichende Finanzierung des Personals in den Krankenhäusern.«

Wie bei dem Tarifvertrag vom Sommer 2014 bleibt die Umsetzung abzuwarten. Auf jeden Fall geht die Einigung aber über die Farce von 2014 hinaus. Die Beschäftigten werden dranbleiben müssen, damit die Richtung, die nun eingeschlagen wurde, beibehalten wird. Und jetzt hoffen wir, dass die nächsten Streikmeldungen aus anderen Krankenhäusern der Republik kommen.


KASTEN

Geisterjäger und Verhandlungsführer

Auch die Gegenseite ist sehr aktiv: Direkt nach dem Urteil am 19. Juni begann die Charité mit einer dumm-dreisten Union-Busting-Kampagne gegen den Streik (http://streik-ist-keineloesung.de/) im Stil der Deutschen Post. In einer Materialschlacht wurden Aufkleber und Plakate an allen Standorten verteilt und geklebt, bis auf Stationen und Stationszimmer. Diese Professionalität ist kein Zufall. Chefverhandler für die Charité ist Werner Bayreuther; derselbe, der für die Bahn mit der GDL verhandelt bzw. versucht hat, diese am Ring durch die öffentliche Manege zu schleifen. Bayreuther gehört zum Schweizer »Schranner AG Negotiation Institute«, dessen Spezialität es ist, Unternehmen in Tarifverhandlungen so zu unterstützen, dass Gewerkschaften in eine Sackgasse geführt werden. Das Schicksal der GDL spricht Bände. In dem sehr lesenswerten Artikel »Die Spindoktoren der Deutschen Bahn« gibt Winfried Wolf einen guten Einblick in das Agieren von Bayreuther bzw. dem Schranner Institute: »Das heißt, dass sie alles tun werden, diesen Konflikt zu steuern und ihn so zu steuern, dass die Arbeitnehmerseite unterliegt und die Kapitalseite gewinnt. Und: Dass sie dabei alle Mittel einsetzen werden, die bei dieser Art Klassenkampf von oben einsetzbar sind. In der Regel erfolgt ein solches gezieltes, kampagnenmäßiges Vorgehen verdeckt und konspirativ. Dass es 'so was' gibt, gelangt meist nicht oder erst lange Zeit nach den entscheidenden Ereignissen ans Licht der Öffentlichkeit.«(*) Was Wolf für die GDL schreibt, hat auch ver.di an der Charité in den sehr langen und zähen Tarifverhandlungen erfahren müssen. Nun wird sich die Gegenseite (an der Charité) darauf fokussieren, die Interessen von Beschäftigten und PatientInnen gegeneinander auszuspielen, wie sie es gerade (sehr plump und durchschaubar) in ihrer Kampagne versucht.

Anmerkung zum Kasten:
(*) Winfried Wolf: »Die Spindoktoren der Deutschen Bahn«, Kontext Wochenzeitung Nr. 218, 3. Juni 2015: in:
www.kontextwochenzeitung.de/wirtschaft/218/die-spindoktoren-derdeutschen-bahn-2923.html


Anmerkungen:

(1) http://de.statista.com/statistik/daten/studie/157058/umfrage/fallzahlen-in-deutschenkrankenhaeusern-seit-1998/

(2) Siehe die Homepage des Bündnisses Berlinerinnen und Berlin für mehr Personal im Krankenhaus:
www.mehr-krankenhauspersonal.de

(3) Luigi Wolf: »»Patienten wegstreiken« - Arbeitskämpfe an der Charité«, Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, August 2013, in:
www.zeitschriftluxemburg.de/patienten-wegstreiken-arbeitskaempfe-an-der-charit-2/

(4) www.mehr-krankenhauspersonal.de/1578

(5) www.streikuni-charite.de

(6) www.mehr-krankenhauspersonal.de/1754

(7) Ebd.

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express 3-4/2015 - Inhaltsverzeichnis der Printausgabe
Gewerkschaften Inland
  • Nadja Rakowitz: »Gegen den Trend« - ver.di schlägt solidarische Pflegeversicherung vor
  • Slave Cubela: »Eine große Tür nach draußen« - Überlegungen zum gewerkschaftlichen Organizing
  • Elmar Wigand: »Blinder Fleck Betriebsratsbashing« - über kriminelle Unternehmer und ihre Dienstleister
  • Percy MacLean: »Prost, Schutzgesetz« - über Sexarbeit unter fürsorglicher Belagerung
  • Arno Klönne 1982: »Partei oder Nicht-Partei?« - linke Organisierungsversuche in der BRD, Teil I
Betriebsspiegel
  • Jan Latza / Nadja Rakowitz: »Mehr von uns ist besser für alle« - über den Streik an der Charité
  • »Nicht nur bei Daimler« - Interview mit Gerhard Kupfer über Widerstand gegen Prekarisierung, Streikrecht und Abmahnungen beim Autobauer
  • Stefan Schoppengerd: »Verrat an der Wahlurne?« - Prozess um Betriebsratswahlen bei Mundipharma
  • Peter Nowak: »Welthandeln« - Zur länderübergreifenden Solidarität im Amazon-Streik
  • Stefan Schoppengerd: »Zeitgemäß« - Streikbruch bei der Post
Internationales
  • Stephen Lerner / Jono Shaffer: »Justice for Janitors« - ein anderer Blick auf die Anfänge des Organizings vor 25 Jahren
  • Thomas Sablowski: »Demokratie gegen Austerität« - zu den »Verhandlungen« mit Griechenland
  • Hakan Kocak: »Um sich greifender Ungehorsam« - über die Streikwelle in der Türkei
  • Hasan Arslan: Leserbrief zu Peter Haumers Bericht über Besetzung von Greif
  • Todd Cherkis: »Plötzlich im Mittelpunkt« - Gewerkschaftliche Antworten auf Armut und tödlichen Rassismus in Baltimore
Rezension
  • Erik Dickmann: »Neue Einträge ins Klassenbuch« - Literaturüberblick zu Klassentheorien *

Quelle:
express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit
Nr. 6-7/2015, 53. Jahrgang, Seite 1-4
Herausgeber: AFP e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. September 2015

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